Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Verfasst von:
Thomas Penzel
Publiziert am: 30.01.2020

Algorithmus Nicht erholsamer Schlaf

Das diagnostische Vorgehen in der Schlafmedizin erfolgt evidenzbasiert. Für die Diagnostik vieler Schlafstörungen steht ausreichend Literatur zur Verfügung, um Metaanalysen durchzuführen. Für etliche Diagnosen ist dies jedoch noch nicht der Fall. Auf der Basis der vorhandenen Evidenz und unter Hinzuziehung eines formalen Konsensusprozesses für die Fragen, für die keine ausreichende Evidenz vorlag, haben die beteiligten Fachgesellschaften und Vertreter von Patientengruppierungen unter Leitung eines Leitlinienmoderators eine Leitlinie der Evidenzstufe S3 zum diagnostischen Vorgehen beim nicht erholsamen Schlaf/Schlafstörungen sowie eine Kurzfassung erarbeitet. Im Zentrum der Leitlinie steht der klinische Algorithmus Nicht erholsamer Schlaf, der therapiezielorientiert die notwendigen diagnostischen und therapeutischen Schritte festlegt

Englischer Begriff

clinical pathway non restorative sleep

Definition

Das diagnostische Vorgehen in der Schlafmedizin erfolgt evidenzbasiert. Für die Diagnostik vieler Schlafstörungen steht ausreichend Literatur zur Verfügung, um Metaanalysen durchzuführen. Für etliche Diagnosen ist dies jedoch noch nicht der Fall. Auf der Basis der vorhandenen Evidenz und unter Hinzuziehung eines formalen Konsensusprozesses für die Fragen, für die keine ausreichende Evidenz vorlag, haben die beteiligten Fachgesellschaften und Vertreter von Patientengruppierungen unter Leitung eines Leitlinienmoderators eine Leitlinie der Evidenzstufe S3 zum diagnostischen Vorgehen beim nicht erholsamen Schlaf/Schlafstörungen (Mayer et al. 2009) sowie eine Kurzfassung (Mayer et al. 2010) erarbeitet. Im Zentrum der Leitlinie steht der klinische Algorithmus Nicht erholsamer Schlaf, der therapiezielorientiert die notwendigen diagnostischen und therapeutischen Schritte festlegt (Abb. 1). Siehe auch „Evidenzbasierung und Leitliniengestaltung“. Formale Leitlinien bedürfen der regelmäßigen Überprüfung und Überarbeitung. Die umfangreiche Literatur und die zahlreichen neuen Metaanalysen der letzten Jahre haben es ermöglicht, dass für jede einzelne der Diagnosegruppen der Leitlinie von 2009 differenzierte Algorithmen entwickelt werden können, das heißt für „Schlafbezogene Atmungsstörungen“, „Insomnien“, „Zentrale Störungen mit exzessiver Tagesschläfrigkeit“, „Zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen“, „Schlafbezogene Bewegungsstörungen“ und „Parasomnien“. Dabei bleibt der ursprüngliche Algorithmus Nicht erholsamer Schlaf in einigen Fällen Ausgangspunkt der zusätzlichen differenzierten Algorithmen. Für die schlafbezogenen Atmungsstörungen gibt es seit 2017 4 Algorithmen für verschiedene Ausgangspunkte, jeweils basierend auf Verdachtsdiagnosen oder komorbiden Erkrankungen (Mayer et al. 2017). Für das diagnostische Vorgehen bei Insomnie wurde der Algorithmus Nicht erholsamer Schlaf mit minimalen Änderungen innerhalb der Module praktisch übernommen (Riemann et al. 2017).

Grundlagen

In Deutschland gibt es etwa 8 Millionen Betroffene mit dem Beschwerdebild des nicht erholsamen Schlafs. Die S3-Leitlinien „Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen“ (2009/2017/und folgende) behandeln die vielschichtige Problematik der systematischen schlafmedizinischen Diagnostik und Therapie, ausgehend von subjektiven Beschwerden und Symptomen. Die umfassen den nicht erholsamen Schlaf, Einschränkungen der Gesundheit, der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit, der Teilhabe am beruflichen und sozialen Leben und daraus resultierende Einschränkungen der Lebensqualität. Ziel ist, mithilfe des Algorithmus die Ursachen der Beschwerde des nicht erholsamen Schlafs aufzudecken und ausreichend zu behandeln. Aus medizinischen und gesundheitsökonomischen Gründen ist eine ursachengerichtete Diagnostik und Therapie durchzuführen, was durch den klinischen Algorithmus unter Berücksichtigung der primärärztlichen, fachärztlichen und Expertenversorgungsebene strukturiert ermöglicht wird. Hier wird im Folgenden auf den ursprünglichen und grundsätzlich immer noch aktuellen Algorithmus Nicht erholsamer Schlaf aus der Leitlinie von 2009 eingegangen. Die diagnosengruppenbasierten neuen Algorithmen werden unter den jeweiligen Diagnosegruppestichworten erläutert („Schlafbezogene Atmungsstörungen“, „Insomnien“, „Zentrale Störungen mit exzessiver Tagesschläfrigkeit“, „Zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen“, „Schlafbezogene Bewegungsstörungen“, „Parasomnien“) beziehungsweise werden auf der Homepage der Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) veröffentlicht. Die aktuellen Definitionen der Diagnosen finden sich auch in der Internationalen Klassifikation der Schlafstörungen „ICSD-3“ (American Academy of Sleep Medicine 2014).
Modul 0: Eingangsbeschwerde
Der Begriff „nicht erholsamer Schlaf“ umschreibt die Eingangsbeschwerde, die den Patienten zum Arzt führt, weil er nicht ein- oder durchschlafen kann oder weil er sich trotz objektiv ausreichender Schlafmenge tagsüber nicht ausgeruht und leistungsfähig fühlt.
Modul 1: Art und Ausmaß der Beschwerden
Im Zentrum stehen die Leitsymptome Insomnie (siehe „Insomnien“) und „Tagesschläfrigkeit“ als Ausdruck einer gestörten Erholungsfunktion des Schlafs. Die Symptomatik ist im Alltag relevant, wenn sie mit erheblichen Einschränkungen der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit einhergeht, soziale und berufliche Beeinträchtigungen nach sich zieht und auf Dauer die Lebensqualität beeinträchtigt. Die Erstdiagnostik erfolgt anhand der „Anamnese“ („Beschwerden und Symptome“). Unterstützend können dabei „Fragebögen“ zum Einsatz kommen. Sind die Beschwerden erheblich und lassen sich nicht mittels Information und Verhaltensberatung beseitigen, wird im Algorithmus fortgefahren.
Modul 2: Adäquater Umgang mit dem Schlaf
Bei diesem Entscheidungsmodul gilt es abzuklären, inwieweit Umgebung und Lebensgewohnheiten des Betroffenen der Erholsamkeit seines Schlafs zuwiderlaufen.
Siehe dazu „Schlafhygiene“; „Schlafmangelsyndrom“; „Extrinsische Insomnien“; „Umgebungsbedingte Schlafstörung“; „Kurzzeit-Insomnie“; „Lärmbedingte Schlafstörungen“.
Modul 3: Angepasst an den zirkadianen Rhythmus?
„Zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen“ entstehen, wenn es nicht möglich ist, zur gewünschten Zeit zu schlafen oder entsprechend dem geophysikalisch vorgegebenen Tag-Nacht-Rhythmus zu schlafen. Ursächlich für die Störung können „Nachtarbeit und Schichtarbeit“, „Jetlag“, „Blindheit“ oder genetische Faktoren sein. Siehe dazu auch „Chronobiologie“.
Modul 11: Information, Prävention und Verhaltensberatung
Die bei der Analyse gemäß den Modulen 2 oder 3 gefundenen Störungen werden durch Maßnahmen der Information, Prävention und Verhaltensberatung bearbeitet.
Modul 4: Einnahme von schlafstörenden Substanzen?
Die Frage schließt sich an, wenn Ursachen für nicht erholsamen Schlaf gemäß den Modulen 2 und 3 ausgeschlossen werden konnten. Der Gebrauch und der Missbrauch von Genussmitteln können Ein- und Durchschlafstörungen verursachen mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Tagesform. Auch die Einnahme von Medikamenten ist mit zum Teil erheblichen schlafstörenden oder schläfrigmachenden Nebenwirkungen verbunden („Medikamentennebenwirkungen“).
Siehe auch „Substanzen, die mit der Schlaf-Wach-Regulation interferieren“; „Kokain“; „Koffein“; „LSD“; „Nikotin“; „Insomnie bei Hypnotikaabhängigkeit“; „Stimulanzienabhängigkeit“; „Alkohol-induzierte Schlafstörung“; „Toxin-induzierte Schlafstörung“.
Modul 5: Konsequenzen aus Modul 4
Dies beinhaltet entsprechende Konsequenzen wie Reduktion, Entzug oder Entwöhnung von Substanzen beziehungsweise Umsetzung von Medikamenten auf andere Substanzklassen mit weniger Nebenwirkungen oder ohne Nebenwirkungen auf den Schlaf.
Modul 6: Symptom einer psychiatrischen und/oder organischen Erkrankung?
Über unterschiedliche Mechanismen können psychiatrische und organische Erkrankungen Tagesschläfrigkeit und/oder Insomnie verursachen. Die Betroffenen werden dadurch zusätzlich zur Grunderkrankung oft erheblich beeinträchtigt. Gelegentlich kann die Beschwerde des nicht erholsamen Schlafs auch hinweisend sein auf eine undiagnostizierte Grunderkrankung. Zu den diesbezüglichen Erkrankungen aus Psychiatrie, Neurologie und Innerer Medizin, die in Einzelessays der Enzyklopädie behandelt werden, wird in Übersicht auf den Beitrag „Symptomatische Schlafstörungen“ verwiesen.
Modul 7: Konsequenzen aus Modul 6
Die Behandlung einer bestehenden neurologischen, psychiatrischen oder internistischen Grunderkrankung richtet sich nach der Erkrankung. Bei fortbestehender Schlafstörung kann deren Behandlung zur Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen beitragen.
Modul 8: Klinisch diagnostizierte primäre schlafmedizinische Erkrankung?
Über unterschiedliche Mechanismen können Schlafstörungen als primäre Erkrankung auftreten. Sie können Tagesschläfrigkeit und/oder Insomnie verursachen. Diese Erkrankungen können klinisch diagnostiziert werden. Das klinisch diagnostizierbare „Restless-Legs-Syndrom“ (RLS) ist ein Beispiel hierfür. Viele Parasomnien sind klinisch diagnostizierbar. Trotzdem kann im Einzelfall eine Polysomnographie indiziert sein.
Modul 9: Konsequenzen aus Modul 8
Die Behandlung einer klinisch diagnostizierten primären Schlafstörung erfordert eine spezifische Beratung und/oder Behandlung.
Modul K10: Kardiorespiratorische Polysomnographie im Schlafmedizinischen Zentrum
Sind nach Durchlaufen des Algorithmus alle nichtapparativ fassbaren Ursachen für die Symptomatik ausgeschlossen, muss die Untersuchung mittels Kardiorespiratorischer Polysomnographie (KRPSG; siehe „Kardiorespiratorische Polysomnographie“) erfolgen. Hiermit können fast alle schlafmedizinischen Erkrankungen, die in der Regel mit schwerer Tagesschläfrigkeit einhergehen, diagnostiziert beziehungsweise ausgeschlossen werden.
Siehe dazu „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ (SBAS); „Zentrale Störungen mit exzessiver Tagesschläfrigkeit“: beispielsweise „Narkolepsie“; Schlafbezogene Bewegungsstörungen: beispielsweise „Periodic Limb Movement Disorder“ (PLMD). Seltener kann sich eine Indikation für die Untersuchung auch bei Primären Insomnien ergeben. Bei Parasomnien kann die Indikation für eine Polysomnographie im Falle von Eigen- oder Fremdgefährdung oder zur differentialdiagnostischen Abgrenzung gegenüber schlafbezogener „Epilepsie“ gegeben sein.
Siehe auch „ICSD-3“ American Academy of Sleep Medicine (2014). Zur „Messung im Schlaflabor“, siehe auch „Evidenzbasierte apparative Diagnostik“; „Computer und Computernetzwerke in der Schlafmedizin“; „Qualitätsmanagement in der Diagnostik“; „Qualitätsmanagement in der Schlafmedizin“.
Exkurs: Ambulantes Monitoring in der Schlafmedizin
Manche Patienten können durch nächtliche Atmungs- und Kreislaufregulationsstörungen erheblich gefährdet sein, ohne dass sie subjektiv unter Tagesschläfrigkeit oder Insomnie leiden. Dies ist vor allem der Fall bei Patienten mit Zentralen Schlafapnoesyndromen (siehe „Zentrale Schlafapnoesyndrome“) und mit Schlafbezogenen Hypoventilationssyndromen (siehe „Schlafbezogene Hypoventilationssyndrome“). Gemäß dem Algorithmus müssten sie nicht in erster Linie ins Schlaflabor, denn sie erfüllen das Eingangskriterium gemäß Modul 0 nicht. Trotz fehlender spezifischer schlafmedizinischer Beschwerden geben bei diesen Patienten aber in der Regel die klinische Untersuchung und andere Befunde indirekten Anhalt für das Vorliegen von Schlafbezogenen Atmungsstörungen. Insbesondere handelt es sich dabei um eine fehlende physiologische nächtliche Blutdruckabsenkung (Nondipping), überwiegend nächtliche „Herzrhythmusstörungen“, Rechtsherzinsuffizienz und Cor pulmonale, globale Herzinsuffizienz, Hyperkapnie, Polyglobulie, Metabolisches Syndrom und Erkrankungen endokriner Systeme, wie Akromegalie („Wachstumshormon“) oder „Hypothyreose“. In diesen Verdachtsfällen soll bei niedriger Vortestwahrscheinlichkeit der Einsatz vereinfachter ambulanter Recorder mit 1–3 Kanälen im Sinne eines Screenings durchgeführt werden (siehe Abb. 2 in Mayer et al. 2017). Bei hoher Vortestwahrscheinlichkeit mit Schnarchen, Atemaussetzern im Schlaf und Tagesschläfrigkeit in der Anamnese ist eine Polygraphie mit 6 Kanälen für Sauerstoffsättigung, Herzfrequenz, Atemfluss, Atmungsanstrengung thorakal und abdominal und Körperlage indiziert, um die Diagnose primär zu bestätigen. Sollte bei niedriger Vortestwahrscheinlichkeit die 1–3-Kanal-Screeningdiagnostik einen Anhaltspunkt für eine SBAS aufzeigen, so ist im Anschluss eine KRPSG im Schlaflabor zur Differentialdiagnositk und Diagnosebestätigung indiziert.
Siehe dazu auch „Ambulantes Monitoring“; „Differentialdiagnostischer Leitfaden“; „Herz-Kreislauf-System“; „Atmung“; „Herzinsuffizienz und Schlafbezogene Atmungsstörungen (SBAS)“; „Diabetes mellitus“; „Endokrinium“; „Hypophyse und Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse“.
Literatur
American Academy of Sleep Medicine (2014) International classification of sleep disorders, 3. Aufl. American Academy of Sleep Medicine, Darien
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