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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Publiziert am: 07.02.2020

Blindheit

Verfasst von: Thorsten Schäfer
Die Augen spielen eine wichtige Rolle für die Schlaf-Wach-Regulation. Die von den Augen ausgehende Hell-Dunkel-Information dient dem endogenen zirkadianen Rhythmus als Zeitgeber zur Synchronisation mit dem 24-Stunden-Tag. Sie wird nicht von den klassischen Sinneszellen in Gestalt von Zapfen oder Stäbchen, sondern von spezialisierten Ganglienzellen mittels des Sehfarbstoffs Melanopsin wahrgenommen. Fällt durch Erblindung diese Sinneswahrnehmung aus, kann es zu Störungen des zirkadianen Rhythmus und damit zu Schlafstörungen kommen.

Synonyme

Amaurose

Englischer Begriff

blindness

Definition

Die Augen spielen eine wichtige Rolle für die Schlaf-Wach-Regulation. Die von den Augen ausgehende Hell-Dunkel-Information dient dem endogenen zirkadianen Rhythmus als Zeitgeber zur Synchronisation mit dem 24-Stunden-Tag. Sie wird nicht von den klassischen Sinneszellen in Gestalt von Zapfen oder Stäbchen, sondern von spezialisierten Ganglienzellen mittels des Sehfarbstoffs Melanopsin wahrgenommen. Fällt durch Erblindung diese Sinneswahrnehmung aus, kann es zu Störungen des zirkadianen Rhythmus und damit zu Schlafstörungen kommen.

Grundlagen

Auch unter vollständiger Isolation von der Außenwelt bleibt beim Menschen ebenso wie bei Tieren ein zirkadianer Rhythmus erhalten, dessen Zyklusdauer in der Regel etwas mehr als 24 Stunden beträgt („Chronobiologie“). Dies führt auf Dauer zu einer Desynchronisation mit dem Tag-Nacht-Wechsel der Umwelt. Unter normalen Bedingungen bewirken Umweltreize als sogenannte Zeitgeber eine Synchronisation des endogenen Rhythmus mit der Außenwelt. Bei diesem als Entrainment bezeichneten Prozess hat sich der Hell-Dunkel-Wechsel als stärkster synchronisierender Faktor herausgestellt. In ersten Experimenten konnte gezeigt werden, dass ein kompletter Ausfall visueller Informationen, etwa durch Schädigung der Sehnerven, zu einer Desynchronisation führt, währenddessen Netzhautschädigungen, etwa mit Degeneration der Zapfen und Stäbchen als klassischen Sinneszellen, nicht zu einer Störung des zirkadianen Rhythmus führen. Bei der Suche nach den alternativen Sinneszellen für diese Hell-Dunkel-Wahrnehmung wurden spezialisierte Ganglienzellen identifiziert, die als Sehfarbstoff Melanopsin verwenden und zum Nucleus suprachiasmaticus, der Inneren Uhr, projizieren (Berson et al. 2002). Das Melanopsin absorbiert kurzwelliges, blaues Licht im Bereich von 420–480 nm. Auch beim Menschen bestätigte sich diese Beobachtung, indem Patienten mit Retinitis pigmentosa nicht vermehrt zirkadiane Störungen aufwiesen, solche mit Erkrankungen des Sehnerven dagegen häufig (McNab 2005). Das kann zu einer weiteren, teils erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen. Trauminhalte von Geburt an Blinder enthalten mehr akustische, taktile, gustatorische und olfaktorische Eindrücke, sind aggressionsreicher und alptraumartiger als Träume von Gesunden und später Erblindeten. Bei Letzteren geht die Dauer der Blindheit mit einem Rückgang der Dauer, Klarheit und Farbigkeit visueller Trauminhalte einher (Meaidi et al. 2014).

Häufigkeit von Schlaf-/Wachstörungen bei Blinden

Das Fehlen der Hell-Dunkel-Information zum „Entrainment“ des zirkadianen Rhythmus kann zu erheblichen Schlaf-Wach-Störungen bei Blinden führen. Umfrageergebnissen an über 1000 Blinden zufolge (Leger et al. 1999) geben 83 % der Betroffenen mit totaler Blindheit zumindest ein Schlafproblem an, in der Kontrollgruppe sind es 57 %. Einschlafstörungen werden von 35 % gegenüber 24 % angegeben, Durchschlafstörungen von 55 % im Vergleich zu 34 %, morgendliches Früherwachen von 47 % gegenüber 23 % und nicht erholsamer Schlaf von 34 % gegenüber 19 %. Abb. 1 zeigt die Anzahl beklagter Symptome gestörten Schlafs bei Blinden im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Prävalenzen von Schlafstörungen nach DSM-IV und ICSD sind in Abb. 2 dargestellt.
Blinde tendierten zu kürzeren Schlafzeiten sowohl wochentags wie auch am Wochenende, der Anteil von Kurzschläfern mit weniger als 5 Stunden Schlaf pro Nacht war mit 6,4 % signifikant höher als in der Kontrollgruppe mit 2,3 %. Der Anteil an Langschläfern mit mehr als 10 Stunden pro Nacht unterschied sich mit 4,1 % beziehungsweise 4,9 % dagegen nicht zwischen Blinden und Kontrollpersonen. Die Schlafstörungen bestanden bei den Blinden deutlich länger als in der Kontrollgruppe. 68 % der von Geburt an Blinden berichteten von Schlafstörungen bereits in der Kindheit. 65 % der Blinden und 63 % der Kontrollpersonen brachten ihre Schlafstörungen in Zusammenhang mit Depression oder Angstzuständen. Dieser Unterschied war nicht signifikant. Der Gebrauch von Schlafmitteln lag mit 26 % bei völlig Blinden deutlich höher als in der Kontrollgruppe mit 13 %. Tagsüber müde oder sehr müde fühlten sich 30 % der Blinden gegenüber 22 % der Kontrollpersonen. Ein freilaufender Tag-Nacht-Rhythmus trat bei 18 % der völlig Blinden gegenüber 8 % der Kontrollpersonen auf. Exzessive Tagesschläfrigkeit verneinten 47 % der Kontrollpersonen, aber weniger als 37 % der Blinden. Ungewolltes Einnicken am Tage wurde von 11,6 % der Blinden berichtet gegenüber 6,8 % der Kontrollpersonen (Leger et al. 1999).

Therapiemöglichkeiten

Neben einer Chronotherapie mit Verhaltensempfehlungen und stärkerer sozialer Einbindung in den Tag-Nacht-Rhythmus sprachen insbesondere Patienten mit freilaufenden zirkadianen Rhythmen auf „Melatoningabe“ an. So kam es unter Gabe von 10 mg Melatonin pro Tag zu einem Entrainment des zuvor freilaufenden Rhythmus bei 6 von 7 völlig Blinden. Bei 3 Patienten, welche die Studie fortsetzten, blieb das Entrainment auch nach dreimonatiger Dosisreduzierung auf eine Minimaldosis von 0,5 mg Melatonin pro Tag erhalten (Sack et al. 2000). Entgegen früheren Vermutungen scheint der Zeitpunkt der Melatoninmedikation im Hinblick auf die individuelle Phasenlage des Patienten selbst bei niedriger Dosierung nicht kritisch zu sein. Dies belegen Experimente an völlig Blinden mit freilaufendem Rhythmus („Chronobiologie“), bei denen ein Entrainment ihres Rhythmus auch unter Gabe von 0,5 mg Melatonin während der Delay-Phase der Melatoninphasenantwortkurve gelang (Lewy et al. 2004). Daher scheint es nicht unbedingt notwendig zu sein, die individuelle zirkadiane Phase des Patienten vor Beginn einer Melatonintherapie zu ermitteln, um einen Therapieerfolg zu erzielen. Mit 20 mg Tasimelteon, einem MT1- und MT2-Melatoninagonisten, gelang das Entrainment bei 8 von 40 Blinden mit Nicht-24-Stunden-Rhythmus (Lockley et al. 2015).
Literatur
Berson DM, Dunn FA, Takao M (2002) Phototransduction by retinal ganglionar cells that set the circadian clock. Science 295:1070–1073CrossRef
Leger D, Guilleminault C, Defrance R et al (1999) Prevalence of sleep/wake disorders in persons with blindness. Clin Sci (Lond) 97:193–199CrossRef
Lewy AJ, Emens JS, Bernert RA, Lefler BJ (2004) Eventual entrainment of the human circadian pacemaker by melatonin is independent of the circadian phase of treatment initiation: clinical implications. J Biol Rhythm 19:68–75CrossRef
Lockley SW, Dressman MA, Licamele L et al (2015) Tasimelteon for non-24-hour sleep-wake disorder in totally blind people (SET and RESET): two multicentre, randomised, double-masked, placebo-controlled phase 3 trials. Lancet 386:1754–1764CrossRef
McNab AA (2005) The eye and sleep. Clin Exp Ophthalmol 33:117–125CrossRef
Meaidi A, Jennum P, Ptito M, Kupers R (2014) The sensory construction of dreams and nightmare frequency in congenitally blind and late blind individuals. Sleep Med 15:586–595CrossRef
Sack RL, Brandes RW, Kendall AR, Lewy AJ (2000) Entrainment of free-running circadian rhythms by melatonin in blind people. N Engl J Med 343:1070–1077CrossRef