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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Publiziert am: 20.01.2022

Gastrointestinale Motilität

Verfasst von: Gunther H. Wiest
Die Bewegungsvorgänge im Gastrointestinaltrakt sind komplex. Zyklische Verhaltensmuster wie beispielsweise die Nahrungsaufnahme haben Einfluss auf die gastrointestinale Motilität. Die Nahrungsaufnahme findet in der Regel periodisch am Tag statt, demgegenüber findet im Schlaf keinerlei Nahrungsaufnahme statt. Schon diese zyklischen Verhaltensmuster allein führen zu einer zirkadianen Variabilität der gastrointestinalen Motilität. Die neuronale Steuerung der gastrointestinalen Motilität erfolgt durch ein komplexes Zusammenspiel von Zentralnervensystem, autonomem Nervensystem und dem subserösen, autonomen Nervensystem im Gastrointestinaltrakt, dem enterischen Nervensystem selbst. Insbesondere das Zusammenspiel von autonomem Nervensystem und enterischem Nervensystem steuert den Transport des Speisebreis vom Mund bis zum Anus.

Englischer Begriff

gastrointestinal motility

Definition

Die Bewegungsvorgänge im Gastrointestinaltrakt sind komplex. Im Wesentlichen können sie aber in allen Abschnitten auf folgende Grundmuster reduziert werden:
  • Propulsive, peristaltische Kontraktionen befördern die Nahrung in aboraler Richtung.
  • Segmentale und retropulsive Kontraktionen zerkleinern und durchmischen die Nahrung.
  • Der Wandtonus sorgt für die Anpassung der Wand an den Inhalt.
  • Digestive Sphinkter bilden durch tonische Kontraktionen Hochdruckzonen und grenzen die verschiedenen Kompartimente des Verdauungstraktes ab.
Offensichtlich ist, dass zyklische Verhaltensmuster wie beispielsweise die Nahrungsaufnahme Einfluss auf die gastrointestinale Motilität haben. Die Nahrungsaufnahme findet in der Regel periodisch am Tag statt, demgegenüber findet im Schlaf keinerlei Nahrungsaufnahme statt. Schon diese zyklischen Verhaltensmuster allein führen zu einer zirkadianen Variabilität der gastrointestinalen Motilität. Die neuronale Steuerung der gastrointestinalen Motilität erfolgt durch ein komplexes Zusammenspiel von Zentralnervensystem (ZNS), „Autonomes Nervensystem“ (ANS) und dem subserösen, autonomen Nervensystem im Gastrointestinaltrakt, dem enterischen Nervensystem selbst. Insbesondere das Zusammenspiel von autonomem Nervensystem und enterischem Nervensystem steuert den Transport des Speisebreis vom Mund bis zum Anus. Siehe auch „Gastrointestinalsystem“.

Grundlagen

Veränderungen der gastrointestinalen Motilität verschiedener Abschnitte des Gastrointestinaltrakts im Schlaf scheinen stark von der Funktion des jeweiligen Abschnitts abzuhängen. So wäre es keine Überraschung, wenn beispielsweise die Ösophagusfunktion im Schlaf reduziert wäre. Im Schlaf muss keine Nahrung transportiert werden, und somit besteht keine offensichtliche Notwendigkeit für die Organfunktion. In der Tat ist die Schluckfrequenz im Schlaf deutlich vermindert (Orr et al. 1984). Im Gegensatz dazu ist die Funktion des Anorektalorgans im Schlaf nicht vermindert. Dies scheint ein Mechanismus zu sein, der die Entleerung von Darminhalt im Schlaf verhindern soll (Rao und Welcher 1996).
Limitierend für Untersuchungen im Schlaf wirkt sich die Tatsache aus, dass der Gastrointestinaltrakt, insbesondere beim Menschen, im Schlaf schwer zugänglich ist. Eingeführte Messinstrumente sind in der Regel mit Unannehmlichkeiten verbunden und führen zu einer Störung des Schlafs. Zusammen mit der Komplexität der Einflussfaktoren erklärt dies die derzeitige Begrenztheit des physiologischen Wissens über die gastrointestinale Motilität im Schlaf. Siehe auch „Gastrointestinalsystem, spezielle Messverfahren im Schlaf“.
Im Folgenden wird die gastrointestinale Motilität für die Abschnitte Ösophagus, Magen, Dünndarm, Kolon und anorektales Organ unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse während der Schlafperiode dargestellt.

Ösophagus

Durch den Schluckakt und die peristaltischen Wellen erfolgt der Nahrungstransport in den Magen. Dabei wird zwischen primärer Peristaltik, die durch den Schluckakt ausgelöst wird, und sekundärer Peristaltik, die unabhängig vom Schluckakt auftritt, unterschieden. Schlucken und Peristaltik spielen aber darüber hinaus auch eine wichtige Rolle bei der Clearance von sauerem Reflux aus dem Magen. Der untere Ösophagussphinkter schützt die Speiseröhre vor Reflux aus dem Magen, der obere Ösophagussphinkter bewahrt zudem die Atemwege vor Aspiration.
Insbesondere mit Blick auf die Refluxkrankheit wurde der Einfluss des Schlafs und zirkadianer Rhythmen auf obengenannte Funktionen durch zahlreiche Studien untersucht („Salivation und Schlucken“; „Gastroösophagealer Reflux“).
Während der Druck im unteren Ösophagussphinkter und die motorische Funktion des Ösophagus durch zirkadiane Rhythmen und Schlaf nicht wesentlich beeinflusst werden, ist die Schluckfrequenz – und somit auch die Frequenz der primären peristaltischen Kontraktionen – im Schlaf deutlich reduziert. Schlucken tritt im Schlaf lediglich sporadisch, mit einer Frequenz von zirka 6/min auf, und es existieren längere Phasen bis zu 30 Minuten ohne Schluckakt im Schlaf. In diesem Zusammenhang ist zudem interessant, dass im Schlaf im Vergleich zum Wachzustand nur eine minimale Menge Speichel produziert wird, der u. a. auch zur Neutralisation von Säure in der Speiseröhre dient. So konnten Orr und Kollegen zeigen, dass die Clearance von in den Ösophagus infundierter Säure im Schlaf signifikant länger dauert als im Wachzustand (Orr et al. 1984).
Der obere Ösophagussphinkter besteht vor allem aus dem Musculus cricopharyngeus – einem quergestreiften, tonischen Muskel. Mit wenigen Ausnahmen sinkt im REM-Schlaf der Tonus von quergestreiften Muskeln ab. Somit wäre eigentlich ein Absinken des Ruhedruckes im oberen Ösophagussphinkter zu erwarten. Eine Studie zeigte überraschenderweise jedoch nur eine geringe Veränderung der Funktion des oberen Ösophagussphinkters im Schlaf. Dabei wurde im Schlaf im Vergleich zum Wachzustand nur ein minimales Absinken des Ruhedrucks im oberen Ösophagussphinkter registriert. Ob diese Beobachtung reproduziert werden kann, müssen zukünftige Studien zeigen. Dieser Mechanismus eines erhaltenen Sphinktertonus auch im REM-Schlaf wäre jedoch vorteilhaft, da er die Atemwege im Schlaf vor Aspiration schützt.

Magen

Die Motilität des Magens ist neben der Zerkleinerung für die Entleerung der festen und flüssigen Nahrungsbestandteile mit angemessenem pH-Wert und in adäquater Geschwindigkeit verantwortlich. Die Regulation der Magenmotilität ist kompliziert und sowohl intrinsischen Einflüssen als auch spezifischen Mechanismen in Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme unterworfen. Bezüglich der Magenmotilität im Schlaf existieren einige Publikationen mit widersprüchlichen Ergebnissen. So wurde in einigen Studien über eine erhöhte gastrische Motilität im Schlaf und speziell im REM-Schlaf berichtet, andere Studien kommen schlicht zu gegenteiligen Ergebnissen.
Weitere Untersuchungen zeigen eine verminderte Säuresekretion und Magenentleerung im Schlaf. Unterschiede zwischen verschiedenen Schlafstadien lassen sich dabei nicht nachweisen. Szintigraphische Magenentleerungsstudien legen jedoch nahe, dass diese Beobachtungen möglicherweise zirkadian und nicht schlafbedingt verursacht sein könnten. Inzwischen kann auch mit durch den Gastrointestinaltrakt wandernden telemetrischen Kapseln (3D-Transit-Methode) gemessen werden. Eine erste Untersuchung an neun Probanden zeigte, dass die Amplitude der Magenkontraktionen im Schlaf geringer – am niedrigsten im Tiefschlaf – als im Wachzustand war (Haase et al. 2015). Zusammengefasst gilt als gesichert, dass die Magenentleerung abends wesentlich langsamer als am Morgen abläuft. Diese Beobachtung sollte bei der Verordnung oraler Medikamente beachtet werden. Da die meisten oral verabreichten Medikamente im Magen nicht resorbiert werden, hat die Geschwindigkeit der Magenentleerung in den Dünndarm, in dem die Absorption in der Regel stattfindet, wesentlichen Einfluss auf deren Absorptionsgeschwindigkeit. Ist eine schnelle Resorption eines Medikaments gewünscht, liegt es nahe, dies zu einer Tageszeit schneller Magenentleerung (z. B. am Morgen) zu verabreichen. Ist demgegenüber eine eher langsame Resorption gewünscht, ist eine Gabe am Abend zu bevorzugen.

Dünndarm

Die primäre Funktion des Dünndarms liegt in der Digestion, Absorption und im Transport der Nahrung. Die Transitzeit bezieht sich auf die Dauer des Transports und muss dabei so reguliert werden, dass eine adäquate Digestion und Absorption möglich ist. Der Transport läuft dabei interdigestiv in einem immer wiederkehrenden Zyklus mit einer Dauer von 90–100 Minuten ab, eine Zykluslänge, die in etwa der Dauer eines „Basic Rest-Activity Cycle (BRAC)“ entspricht. Der sogenannte „interdigestive motor cycle“ oder Migrating Motor Complex (MMC) lässt sich in drei Phasen unterteilen.
  • Phase I: Ruhezustand; in dieser Phase ist die Muskelaktivität minimal, sie ist durch eine weitgehende Bewegungslosigkeit gekennzeichnet, der eine Phase mit starker Peristaltik und damit verbundener Nahrungsaufnahme folgt.
  • Phase II: Periode mit wenigen Muskelkontraktionen, die intermittierend im Dünndarm auftreten, die aber nicht zwingend koordiniert sind.
  • Phase III: Serien von koordinierten peristaltischen Wellen, die vom Magen bis ins Kolon wandern. Diese Phase geht wieder in den Ruhezustand der Phase I über, somit wiederholt sich der Zyklus.
Nach zahlreichen Untersuchungen folgt die intestinale Motilität im MMC dabei unabhängig vom cholinergen Tonus einem zirkadianem Rhythmus (Kellow et al. 1986) und nimmt in der Nacht gegenüber dem Tag deutlich ab. Die Gesamtlänge des Zyklus bleibt davon jedoch unbeeinflusst. Wie in Tab. 1 dargestellt, nimmt während der Nacht der zeitliche Anteil der Phase I am Gesamtzyklus deutlich zu, der der Phase II deutlich ab (Keller et al. 2001). Frequenz und Amplitude der Muskelkontraktionen in Phase II sind in der Nacht niedriger als am Tag, und die Geschwindigkeit der peristaltischen Wellen in Phase III ist nachts langsamer. Schlaf führt dabei sowohl nachts als auch am Tag zu einer niedrigeren intestinalen Motilität.
Tab. 1
Zirkadiane Variationen der interdigestiven, intestinalen Motilität. Bei annähernd gleichbleibender Dauer des gesamten Zyklus des Migrating Motor Complex (MMC) zeigt sich die relative Zunahme des Anteils der Phase I des Zyklus während der Nachtphase und die gleichzeitig erfolgende relative Abnahme der Phase II (Keller et al. 2001)
 
Tag
Nacht
Länge Gesamtzyklus (min)
105 + 14
107 + 12
Phase I (%)
8,1 + 2,6
22,3 + 5,3
Phase II (%)
74,1 + 3,5
55,7 + 7,6
Phase III (%)
17,2 + 2,5
16,9 + 2,1

Kolon

Die Motilität ist im Kolon der determinierende Faktor für seine zwei Hauptfunktionen: den Transit und die Absorption. Änderungen der Motilität beeinflussen direkt den Transit und damit indirekt die Absorption. Die klinische Konsequenz einer zu geringen Motilität kann Obstipation, die einer gesteigerten Motilität Diarrhö sein. Mehrere Arbeiten zeigen ein Absinken der Motilität des Kolon im Schlaf und eine Zunahme der Motilität nach dem Erwachen. Eine Studie weist daraufhin, dass dieser Effekt im Tiefschlaf im Gegensatz zum REM-Schlaf besonders ausgeprägt ist. Andere Untersuchungen konnten diese Beobachtung nicht bestätigen. Zusammengefasst sprechen die Studienergebnisse für eine Hemmung der myoelektrischen Aktivität und der Kontraktilität im Schlaf, die nach dem Erwachen wieder aufgehoben wird. Die pathophysiologischen Zusammenhänge erklären gut die lange bekannte klinische Beobachtung, dass häufig morgens nach dem Erwachen ein Drang zur Defäkation besteht.

Anorektale Funktion

Die Funktion des Anorektalorgans verhindert beim gesunden Menschen in der Regel die passive Entleerung des Darminhaltes während des Schlafs zuverlässig. Bekannt sind derzeit zwei Mechanismen, die für diese Leistung des Anorektalorgans im Schlaf als ursächlich angesehen werden. Zunächst ist die rektale, motorische Aktivität im Schlaf höher als im Wachzustand. Sie unterliegt endogenen Oszillationen mit entsprechenden rektalen Druckschwankungen. Die meisten rektalen Muskelkontraktionen laufen aber im Schlaf in retrograder Richtung und wirken daher einer Entleerung entgegen (Rao und Welcher 1996). Weiterhin weist auch der anale Muskeltonus und somit der Druck im Analkanal im Schlaf Schwankungen auf. Doch trotz der beschriebenen zyklischen Variationen der analen und rektalen Muskelfunktion übersteigt der Druck im Analkanal im Schlaf kontinuierlich den rektalen Druck und gewährleistet dadurch Kontinenz.
Literatur
Haase AM, Fallet S, Otto M et al (2015) Gastrointestinal motility during sleep assessed by tracking of telemetric capsules combined with polysomnography – a pilot study. Clin Exp Gastroenterol 8:327–332CrossRef
Keller J, Gröger G, Cherian L et al (2001) Circardian coupling between pancreatic secretion and intestinal motility in humans. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol 280:273–278CrossRef
Kellow JE, Borody TJ, Phillips FS et al (1986) Human interdigestive motility: variations in patterns from esophagus to colon. Gastroenterology 91:386–395CrossRef
Orr WC, Jonson LF, Robinson MG (1984) The effect of sleep on swallowing, esophageal peristalsis, and acid clearance. Gastroenterology 86:814–819PubMed
Rao SS, Welcher K (1996) Perodic rectal motor activity: the intrinsic colonic gatekeeper? Am J Gastroenterol 91:890–897PubMed