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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Publiziert am: 08.01.2020

Gesundheitspolitik

Verfasst von: Norbert Schmacke
Allgemein versteht man unter Gesundheitspolitik Entscheidungen über die Steuerung gesundheitsrelevanter Prozesse in der Gesellschaft, d. h. Priorisierung, Finanzierung und Organisation von Leistungen des Staates und der Sozialversicherungsträger, vor allem der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Englischer Begriff

health policy; health politics

Definition

Allgemein: Entscheidungen über die Steuerung gesundheitsrelevanter Prozesse in der Gesellschaft.
Konkret: Priorisierung, Finanzierung und Organisation von Leistungen des Staates und der Sozialversicherungsträger, vor allem der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Grundlagen

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Bezüglich der Finanzierung und Strukturierung der Leistungen des Gesundheitswesens im engeren Sinne lassen sich drei Grundtypen unterscheiden:
1.
Gesundheitssysteme mit überwiegend privat finanzierten Leistungen
 
2.
Staatlich gesteuerte Systeme (Beveridge-Modell)
 
3.
Beitragsfinanzierte Sozialversicherungssysteme mit systematischer Einbindung von Arbeitgebern, in Deutschland als sogenanntes Bismarck-Modell
 
De facto ist ein immer stärkerer Trend zu Mischsystemen zu verzeichnen. Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht spricht sehr viel für die These, dass es bezüglich des Setzens auf Steuerfinanzierung versus Beitragsfinanzierung kein „bestes“ System gibt und die Bewertung von Vor- und Nachteilen stark vom kulturellen Hintergrund abhängt.

Systemische Betrachtung

Gesundheitspolitik kann als „unmögliche“ Kunst des politischen Handelns gelten,
  • da es erstens keine Ordnungsmuster gibt, die verschiedenen für die Förderung und Wiederherstellung von Gesundheit wichtigen gesellschaftlichen Felder auf ein abgestimmtes und nachhaltiges Agieren festzulegen,
  • da es zweitens nicht gelingen kann, einen Rahmen für einen prioritär zu befriedigenden Bedarf an präventiven, kurativen und rehabilitativen Maßnahmen mittels transparenter Kriterien festzuschreiben,
  • da drittens eine so große Zahl von Kräften auf die Entscheidungsprozesse einwirkt, dass man systemtheoretisch bezüglich der Gesundheitspolitik am ehesten – ohne diskriminierenden Unterton – von einem Chaosmodell sprechen muss.
Einige der Gründe für die Steuerungsprobleme sollen hier genannt werden:
  • Grundlegende Reformen sind entgegen der Logik von Wahlzyklen auf längere Zeiträume angewiesen.
  • Der zu bewältigende Krankheitsdruck (burden of disease) kann im Politikfeld niemals allein auf dem Boden wissenschaftlicher Analysen aufgegriffen werden.
  • Unabhängig hiervon wird Politik häufig mit diametral unterschiedlichen Empfehlungen aus Wissenschaft und den Berufsverbänden konfrontiert.
  • Der Druck der Öffentlichkeit und der Medien ist für die Themenpriorisierung ein weiterer wichtiger Faktor; Politik reagiert naturgemäß besonders empfindlich auf den hier keineswegs immer gut begründeten Vorwurf, ein Übermaß an Mortalität und Morbidität in Kauf nehmen zu wollen.
  • Gesundheitspolitik schwankt systematisch zwischen den tendenziell unvereinbaren Anforderungen an hohe Qualität und Wirtschaftlichkeit einerseits und Wirtschaftsförderung andererseits (Gesundheitswesen als „Jobmaschine“). Diese Interessenkonflikte finden ihren Widerhall in den politischen Parteien und bei den gewählten parlamentarischen Repräsentanten.
  • Am Ende macht Politik die unabweisliche Erfahrung, dass die in den Sozialgesetzen aufgeschriebenen Regulierungsversuche im gesellschaftlichen Feld einer Vielzahl hemmender und modifizierender Faktoren ausgesetzt sind und dass sich dadurch ein Nachsteuerungsbedarf ergibt – Politik als unausweichlicher Prozess des „muddling through“.

Felder der Gesundheitspolitik

Gesundheitspolitik wird in der öffentlichen Wahrnehmung überwiegend auf Krankenversicherungspolitik reduziert. Hoch entwickelte Systeme binden dabei die größten Mittel in der Kuration. Dennoch verlangt der demographische Wandel, der vor allem durch die Zunahme des Anteils alter Menschen an der Gesamtbevölkerung gekennzeichnet ist, neue Vorgehensweisen in der Prävention, Palliation und Pflege. Soll vermieden werden, dass die Ausgabenseite eine fortwährende Ausweitung erfährt, sind die diesbezüglichen Politikfelder jedoch vergleichsweise schwer zu besetzen. Soweit Kosten über Steuern oder Pflichtbeiträge aufgebracht werden müssen, gerät die Ausweitung der Ausgabenseite seit etwa zehn Jahren weltweit in Kritik. In der Prävention besteht zudem das unvermeidbare Problem, dass Investor und Nutznießer von systematischen Präventionsaktivitäten überwiegend in verschiedenen Subsystemen verortet sind und dadurch eine ökonomisch erforderliche Win-Win-Situation oder Ausgleichsstrategie schwer zu verhandeln ist. Andererseits wird an die Gesundheitspolitik zunehmend herangetragen, im großen Stil Arbeitsplätze zu schaffen, sowohl durch technische Innovationen wie durch personalintensive Dienstleistungen. Die offenkundigen Widersprüche dieser auf Politik einwirkenden Einflüsse verstärken den häufig entstehenden Eindruck fehlender langfristiger Politikstrategien.

Das System der gemeinsamen Selbstverwaltung

Der Rahmen für die medizinische und pflegerische Betreuung der sozialversicherungspflichtigen Bevölkerungsgruppen wird in den Sozialgesetzbüchern gesetzt, das heißt qua Bundesrecht. Eine Eigenart des deutschen Sozialversicherungssystems ist die Delegation der Ausformung der Grundprinzipien der Sozialgesetzbücher auf die gemeinsame Selbstverwaltung in Bund und Ländern. So sind im Sozialgesetzbuch V zentrale Fragen des Leistungsgeschehens an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sowie das Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG) festgelegt. Der Gemeinsame Bundesausschuss ist paritätisch besetzt von Vertretern der Leistungserbringer und der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Mittels dieser untergesetzlichen Normgebung wird das Leistungsversprechen für die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung ebenso wie die Einschränkungen der Leistungsgewährung fortgeschrieben. Letzteres betrifft beispielsweise die Liste frei verkäuflicher Präparate, die sog. OTC-Präparate. Einer internationalen Entwicklung folgend durchlaufen Anträge auf Einführung neuer Leistungen nach Aufnahme des Themas in die Liste der Beratungen einen Health-Technology-Assessment- (HTA-)Zyklus; hierbei wird mittels systematischer Recherche der publizierten Evidenz eine Nutzen-Schaden-Bilanz für geltend gemachte Innovationen ermittelt. Die methodischen Anforderungen an diese Bewertungen sind nach Zustimmung durch das Bundesgesundheitsministerium in einer Verfahrensordnung festgelegt (http://www.g-ba.de/). Gleiches gilt für alle Maßnahmen der begleitenden Qualitätssicherung. Für den vertragsärztlichen ambulanten Bereich gilt das Prinzip des Erlaubnisvorbehalts (nur positiv bewertete Verfahren dürfen vertraglich geregelt werden), für den Krankenhaussektor das Prinzip des Verbotsvorbehalts (nur negativ bewertete Verfahren können – und nur jeweils indikationsbezogen – aus dem Leistungskatalog der Vertragskrankenhäuser entfernt werden). Die Einführung neuer Leistungen im Krankenhaus ist somit deutlich einfacher als im ambulanten Bereich; hiermit will der Gesetzgeber dem Vorwurf begegnen, die Regulierung neuer Leistungen führe zu einer zu starken Behinderung von Innovationen im Forschungs- und Produktionszyklus.
Die Realisierung des Leistungsgeschehens selber unterliegt regional den Prinzipien der Vertragswelt: Hier wird der überwiegende Teil der Leistungen einschließlich Vereinbarungen zur Sicherung der Qualität nach wie vor über Verträge zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und gesetzlichen Krankenkassen sowie zwischen den Krankenhäusern und den Krankenkassen gesteuert. Der in allen Parteien wahrgenommene Reformdruck im System führt aber zu einer schrittweisen Diversifizierung der Vertragsformen durch Förderung des Vertragswettbewerbs oder Budgets für „Integrierte Versorgung“ auch ohne Zustimmung der Kassenärztlichen Vereinigung. In die Versorgung sind über die Bundesgesetzgebung schließlich in den letzten Jahren verstärkt Elemente einer obligatorischen Qualitätssicherung und eines weitgehend autark gestaltbaren Qualitätsmanagements eingeführt worden. Dabei gewinnt die Debatte um die Begründung der Auswahl aussagekräftiger Qualitätsindikatoren eine wachsende Bedeutung.
Siehe dazu auch „Qualitätsmanagement in der Schlafmedizin“; „Qualitätsmanagement und Verlaufskontrolle bei der Behandlung von Patienten mit Schlafbezogenen Atmungsstörungen“; „Qualitätsmanagement in der Diagnostik“.

Das Beispiel „Diagnostik und Therapie der Schlafbezogenen Atmungsstörungen“

Die Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 15.06.2004 sowie vom 21.09.2004
Auf Antrag der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin wurde beraten, ob entgegen der bis dahin gültigen Richtlinie auch die sogenannte Stufe 4 der Diagnostik zu Schlafbezogenen Atmungsstörungen, die Polysomnographie (PSG) und die Einstellung auf eine CPAP-Therapie, in der vertragsärztlichen Versorgung erfolgen könne. Auf dem Boden der damals gültigen Richtlinie zur Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsverfahren, die sog. BUB-Richtlinie, wurden systematische Übersichtsarbeiten, HTA-Berichte (AHCPR von 1998 sowie DIMDI von 2003), Leitlinien und klinische Studien identifiziert, in denen die diagnostische Aussagekraft der „Polygraphie“ und der „Polysomnographie“ verglichen wird. Zudem wurden Expertenanhörungen und weitere Literaturrecherchen auf Empfehlung von Sachverständigen durchgeführt. Danach empfahl die Arbeitsebene des Bundesausschusses, der Unterausschuss Ärztliche Behandlung (Abschlussbericht siehe https://www.g-ba.de/informationen/beschluesse/146/), dem Entscheidergremium des Gemeinsamen Bundesausschusses, die bisherige Systematik der vierstufigen Diagnostik im Wesentlichen wie folgt zu modifizieren:
  • Stufe 1: weiterhin Anamnese und Einsatz standardisierter Fragebögen zur Tagesschläfrigkeit
  • Stufe 2: weiterhin klinische Untersuchung u. a. im Hinblick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie neurologische und psychiatrische Krankheiten
  • Stufe 3: Aufwertung der Bedeutung einer erweiterten Kardiorespiratorischen Polygraphie
  • Stufe 4: Einsatz der (auch ambulant leistbaren) Methode „Kardiorespiratorische Polysomnographie“, falls bis Stufe 3 die Indikation zur CPAP-Behandlung oder anderer therapeutischer Verfahren bei Verdacht auf eine Schlafbezogene Atmungsstörung nicht geklärt werden konnte; auch die Ersteinstellung sowie Erstüberprüfung einer CPAP-Behandlung erfolgt weiter durch Polysomnographie
Der Beschluss (http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=45888) des Gemeinsamen Bundesausschusses, der als Rechtsnachfolger die oben genannten Beratungsergebnisse zur Grundlage nahm, beinhaltet weiter Auflagen zur Dokumentation sowie Empfehlungen zur Qualitätssicherung: Qualitätssicherungsvereinbarung gemäß § 35 Abs. 2 SGB V (http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=45992). Hierdurch wird zum einen geregelt, welche Parameter über eine mindestens sechsstündige Schlafphase mittels Kardiorespiratorischer Polygraphie bzw. Polysomnographie abgeleitet werden müssen. Bezüglich der weiterführenden Anforderungen wird auf die Vereinbarung einer Qualitätssicherungsvereinbarung gemäß § 135 Abs. 2 SGB V zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Spitzenverbänden der Krankenkassen verwiesen. Diese beinhaltet mit Stand vom 01.04.2005 Detailregelungen zur fachlichen Befähigung, zu den apparativen Voraussetzungen, im Falle der Polysomnographie zusätzlich auch zu den räumlichen und organisatorischen Voraussetzungen: http://www.kbv.de/media/sp/Schlafapnoe.pdf, DARIS-Archivnummer 1003745210. Weiter werden Genehmigungsverfahren und Befähigungsnachweise geregelt. Beispiele: Für die Polygraphie gilt die fachliche Voraussetzung mit dem Nachweis der Zusatzbezeichnung Schlafmedizin als gegeben. Gleichberechtigt wird eine Reihe von Gebietsbezeichnungen anerkannt wie HNO-Heilkunde, Kinder- und Jugendmedizin, Neurologie, Psychiatrie, Innere Medizin und Allgemeinmedizin; dies wird gebunden an die erfolgreiche Absolvierung eines Kurses zu relevanten schlafmedizinischen Fragen. Die Erfüllung der technischen Voraussetzungen ist gegenüber der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung nachzuweisen. Im Falle der Polysomnographie wird die Zusatzbezeichnung Schlafmedizin als Befähigungsnachweis verlangt, konkretisiert um den Nachweis von Stationen des Erwerbs der zielführenden Kompetenzen und von Mindestmengen für die selbständige Indikationsstellung und Diagnostik von Polysomnographie. Zusätzlich wird von einem anleitenden Arzt vor allem verlangt, dass er mindestens seit drei Jahren ein Schlaflabor leitet. Weiter werden konkrete räumliche Voraussetzungen für das Polysomnographie-befugte Schlaflabor formuliert. Darüber hinaus wird die Anwesenheit einer medizinischen Fachkraft während der PSG-Ableitung gefordert, ebenso die Erreichbarkeit eines Arztes während der Einstellung auf eine Überdrucktherapie. Alle Voraussetzungen sind wiederum gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung nachzuweisen. Diese sind zudem befugt, die Angaben vor Ort zu überprüfen. Die Vereinbarung enthält weitere Sonder- und Übergangsregelungen (siehe dazu auch „Diagnostik der Schlafbezogenen Atmungsstörungen“; „Ambulantes Monitoring“; „Ausbildung, Fortbildung und Weiterbildung“).
Gesundheitspolitisch folgt dieser Beschluss der Logik „ambulant vor stationär“, getragen von der Bewertung der zielführenden Literatur. Aussagen zu den wirtschaftlichen Folgen des Beschlusses und zur Entwicklung der Qualität in der Versorgung von Patienten mit Schlafbezogenen Atmungsstörungen sind gegenwärtig nicht zu treffen. Die Regelungen der zitierten Qualitätssicherungsvereinbarung orientieren sich an den fachlich einschlägigen Elementen der Strukturqualität. Eine systematische Auswertung der Diagnose- und Behandlungsdaten ist nicht vorgesehen. Der Beschluss verdeutlicht pars pro toto aber auch die Problematik der sogenannten Sektorenabschottung in der medizinischen Versorgung im Kontext der für das deutsche GKV-System typischen Facharzt-Doppelstruktur. Der Einfluss der Kassenärztlichen Vereinigungen auf das Leistungsgeschehen im Bereich der Schlafmedizin ist gestärkt worden. Die wenigen verfügbaren Daten zur Entwicklung des Leistungsgeschehens seit Erlass der Richtlinie zeigen – wie so oft – erhebliche regionale Unterschiede in der Durchführung richtlinienkonformer Diagnostik, vor allem ein starkes Abweichen von der Vorgabe der Vorschaltung der Polygraphie (Schneider et al. 2015; von Stillfried und Czihal 2011). Belastbare Daten zur Schlüsselfrage einer erwartbaren Optimierung oder zur befürchteten Verschlechterung der Versorgungsqualität seit Beschluss der Richtlinie liegen momentan nicht vor. Denkbar wäre die Nutzung des neuen Innovationsfonds für derartige Versorgungsforschung.
Literatur
Gerhardus A, Perleth M (2001) Welchen Einfluss haben HTA-Berichte auf Entscheidungen im Gesundheitswesen? ZaeFQ 95:515–516
Riesberg A, Weinbrenner S, Busse R (2003) Gesundheitspolitik im europäischen Vergleich – Was kann Deutschland lernen? Aus Politik Zeitgesch (Supplement to: Das Parlament) B33–34:29–38.
Rosenbrock R, Gerlinger T (2004) Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung. Verlag Hans Huber, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle
Schmacke N (2005) Das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) und die Folgen für die Qualität der medizinischen Versorgung. Gesundh Sozialpolit 59(11/12):11–17
Schneider U, Linder R, Hagenmeyer EG, Storz-Pfennig P, Verheyen F (2015) Stufendiagnostik nach der Richtlinie des G-BA und Versorgungswirklichkeit bei vermuteter Schlafapnoe – eine Analyse basierend auf Routinedaten der TechnikerKrankenkasse. Gesundheitswesen. https://​doi.​org/​10.​1055/​s-0035-1549987. Online-Publikation
Stillfried D von, Czihal T. (2011) Polysomnographie – Was wissen wir über die Versorgungslage in Deutschland? Versorgungsatlas.de