Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Verfasst von:
Peter Young und Geert Mayer
Publiziert am: 09.04.2022

Idiopathische Hypersomnie

Die Idiopathische Hypersomnie stellt eine eigene Krankheitsentität in der Gruppe der Zentralen Störungen mit exzessiver Tagesschläfrigkeit gemäß ICSD-3 (2014) dar. Das Leitsymptom ist die vermehrte Schläfrigkeit ohne assoziierte Symptome. Die Differentialdiagnostik zur Narkolepsie Typ 2 und auch zur Narkolepsie Typ 1 kann schwierig sein und erfordert neben der polysomnographischen Diagnostik eine Bildgebung des Gehirns sowie Laboruntersuchungen, einschließlich der Liquordiagnostik. Therapeutische Optionen bestehen in der Off-Label-Anwendung von Modafinil oder probatorisch von SSRI.

Synonyme

frühere Bezeichnungen: polysymptomatische und monosymptomatische Hypersomnie; Idiopathische ZNS-Hypersomnolenz

Englischer Begriff

idiopathic hypersomnia; idiopathic CNS hypersomnolence

Definition

Die Idiopathische Hypersomnie ist eine chronische Erkrankung, gekennzeichnet durch exzessive Tagesschläfrigkeit (Hypersomnolenz), die sich nicht auf körperliche, psychiatrische oder andere schlafmedizinische Erkrankungen zurückführen lässt. Es lassen sich keine zur Narkolepsie assoziierten Symptome wie „Kataplexie“, hypnagoge oder hypnopompe Halluzinationen und „Schlaflähmung“ nachweisen.
Die Internationale Klassifikation der Schlafstörungen von 2005 (ICSD-2) unterschied zwei Varianten der Idiopathischen Hypersomnie, nämlich eine mit langer Schlafzeit und eine ohne lange Schlafzeit. In der „ICSD-3“ (2014) wurde diese Unterscheidung aufgehoben. Die Idiopathische Hypersomnie wird dort zur Diagnosegruppe der „Zentralen Störungen mit exzessiver Tagesschläfrigkeit“ (Central Disorders of Hypersomnolence) gezählt. In der ICSD-2 (2005) hieß diese Diagnosegruppe „Hypersomnien zentralnervösen Ursprungs“ (siehe auch „Diagnostische Klassifikationssysteme“; „Hypersomnolence“; „Hypersomnie“).

Genetik, Geschlechterwendigkeit

Familiarität zeigt sich in verschiedenen Studien zwischen 26,9–39,1 % der Fälle. Als prädisponierende Faktoren wurden Schädel-Hirn-Trauma, virale Infektionen und Narkosen beschrieben. Im Gegensatz zur „Narkolepsie“ besteht keine erhöhte HLA-Assoziation. Eine Geschlechterwendigkeit existiert nicht.

Epidemiologie

Es liegen keine repräsentativen Prävalenzerhebungen vor. Die geschätzte Prävalenz von 2–5 pro 100.000 (Bassetti und Aldrich 1997) wurde bislang nicht verifiziert. Die Krankheit beginnt in der späten Jugend oder im jungen Erwachsenenalter (Manifestationsgipfel 16,6–21,2 Jahre) und hält meist lebenslang an. In welchem Maße Spontanremissionen möglich sind, ist unklar.

Pathophysiologie

Pathophysiologische Modelle existieren nicht. Hypocretin-1-Bestimmungen im Liquor ergaben keine erniedrigten Werte, wie sie bei der Narkolepsie gefunden wurden. Einzelbefunde weisen auf einen Einfluss des Prostaglandinsystems und des histaminergen Systems hin. Eine Beziehung zur Regulation des Clock-Gen-Systems konnte in Hautfibroblasten von Patienten mit Idiopathischer Hypersomnie gezeigt werden.
Relevante Abweichungen der Schlafarchitektur konnten polysomnographisch in einigen Studien beschrieben werden. Hierzu zählen im „Elektroenzephalogramm“ (EEG) nachweisbare Verlängerungen des Tiefschlafanteils, Verlängerung der REM-Anteile und eine geringere Anzahl von Arousals („Arousal“) bei Patienten mit Idiopathischer Hypersomnie im Vergleich zu gesunden Kontrollen oder Patienten mit Narkolepsie.

Symptomatik

Das Hauptsymptom ist die starke Tageschläfrigkeit, meist begleitet von erschwertem Erwachen und einer lange Phase der Schlaftrunkenheit (confusional arousal). Auch das Erwachen aus „Schlafpausen“ tagsüber ist meist erschwert, und diese Schlafepisoden sind in der Regel unerholsam.

Komorbide Erkrankungen

Autonome Störungen wie orthostatische Beschwerden mit Neigung zu Synkopen, Verdauungsstörungen, Kopfschmerzen, Palpitationen und Störungen der Temperaturregulation mit Raynaud-artigen Symptomen sind häufig. Eine sichere Assoziation zu psychiatrischen Erkrankungen konnte nicht gezeigt werden.

Diagnostik

Polysomnographische Befunde bei Idiopathischer Hypersomnie:
  • Die Schlafdauer ist verlängert auf >660 Minuten.
  • Die Schlafperiode zeigt eine normale Zyklik und Schlafstadienverteilung.
  • Im Multiplen Schlaflatenztest (MSLT; „Multipler Schlaflatenztest und Multipler Wachbleibetest“) beträgt die gemittelte Schlaflatenz ≤8 Minuten.
  • Es findet sich höchstens eine „Sleep Onset REM“-Periode (SOREMP).
Wegen der schweren Erweckbarkeit und Schlaftrunkenheit ist der Multiple Schlaflatenztest oft nur schwer durchzuführen. Für eine 24-Stunden-Polysomnographie unter medikamentenfreien Bedingungen müssen die Medikamente mindestens 14 Tage vorher abgesetzt werden. Idealerweise wird vor der Polysomnographie-Diagnostik eine 14-tägige „Aktigraphie“ in Kombination mit dem Führen eines Schlaftagebuchs durchgeführt (Schlaftagebücher).

Differentialdiagnostik

Aus schlafmedizinischer Sicht stellt die Narkolepsie Typ 2 die wichtigste Differentialdiagnose dar. Mittels SOREM im MSLT und evtl. erniedrigtem Hypocretingehalt im Liquor kann die Narkolepsie Typ 2 von der Idiopathischen Hypersomnie differenziert werden. Im Einzelfall kann aber der Ausschluss einer Narkolepsie Typ 2 oder auch Typ 1 schwierig sein. Bei Narkolepsie Typ 1 mit früher Krankheitsmanifestation ist die Tagesschläfrigkeit für im Mittel mehr als 10 Jahre das Leitsymptom, ehe die ersten Kataplexien auftreten. Die Differenzierung mittels SOREM kann wegen der Möglichkeit fehlender SOREM-Perioden bei der Narkolepsie Typ 2 erschwert werden (Billiard 1996). Weiterhin können auch bei Narkolepsie Typ 1 und Typ 2 die Schlafepisoden am Tage unerholsam sein.
Anamnestisch sind weitere Ursachen für eine exzessive Tagesschläfrigkeit zu klären. Dazu gehören neben einem chronischen „Schlafmangelsyndrom“ die Einnahme von Medikamenten, ein Substanzgebrauch und andere zugrunde liegende psychiatrische Erkrankungen, Tumorerkrankungen, entzündliche Erkrankungen, Erkrankungen des endokrinen Systems, neurologische Erkrankungen und stattgehabtes „Schädel-Hirn-Trauma“. Eine MRT-Bildgebung des Kopfes und eine Liquoruntersuchung sollte das differentialdiagnostische Vorgehen beinhalten. Des Weiteren verlangt die Symptomatik den differentialdiagnostischen Ausschluss aller anderen internistischen und neurologischen Erkrankungen, die mit schwerer Tagesschläfrigkeit einhergehen. Dazu gehören als wichtige Differentialdiagnosen „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ und „Schlafbezogene Bewegungsstörungen“ (siehe auch „Endokrinium“; „Schilddrüsenerkrankungen“; „Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems“; „Infektionskrankheiten ohne Befall des Zentralnervensystems“; „Krebserkrankungen“; „Hämatoonkologische Erkrankungen“).

Therapie

Es liegen keine randomisierten Studien zum Einsatz von „Stimulanzien“ vor. Bislang gibt es in Deutschland keine zugelassenen Medikamente mit der Indikation der Idiopathischen Hypersomnie. Eine gute Wirkung von Modafinil konnte in einigen kleinen offenen Studien und einer multizentrischen Studie gezeigt werden. Andere Stimulanzien wie Methylphenidat und Dexamphetamin zeigten ebenfalls positive Effekte, aber mit einer höheren Rate an unerwünschten Wirkungen wie Kopfschmerzen, Nausea und Nervosität. Der Einsatz von antriebssteigernden Antidepressiva aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Venlafaxin ist bislang nicht durch kontrollierte Studien belegt, aber im klinischen Alltag möglicherweise hilfreich.
Im Gegensatz zur Narkolepsie sind verhaltenstherapeutische Ansätze wie die Verordnung von Schlafpausen nicht indiziert, da die Erholung durch diese bei der Idiopathischen Hypersomnie im Gegensatz zur Narkolepsie nicht gegeben ist.

Psychosoziale Bedeutung

Das Leitsymptom der exzessiven Schläfrigkeit stellt eine erhebliche Beeinträchtigung im sozialen und privaten Umfeld für die meist jungen Patienten dar. Die langfristige Betreuung durch spezialisierte Schlafmediziner ist erforderlich.

Zusammenfassung, Bewertung

Die Idiopathische Hypersomnie stellt eine eigene Krankheitsentität in der Gruppe der Zentralen Störungen mit exzessiver Tagesschläfrigkeit gemäß ICSD-3 (2014) dar. Das Leitsymptom ist die ausgeprägte Schläfrigkeit ohne assoziierte Symptome. Die Differentialdiagnostik zur Narkolepsie Typ 2 und auch zur Narkolepsie Typ 1 kann schwierig sein und erfordert neben der polysomnographischen Diagnostik eine Bildgebung des Gehirns sowie Laboruntersuchungen, einschließlich der Liquordiagnostik. Therapeutische Optionen bestehen in der Off-Label-Anwendung von Modafinil oder probatorisch von SSRI.
Literatur
Bassetti C, Aldrich MS (1997) Idiopathic hypersomnia. Brain 120:1423–1435
Billiard M (1996) Idiopathic hypersomnia. Neurol Clin 14:573–582