Definition
Tagesschläfrigkeit ist eine Beschwerde, die von vielen Patienten in schlafmedizinischen Zentren, Facharzt- oder Allgemeinpraxen angegeben wird und im Rahmen der schlafmedizinischen Diagnostik oder einer gutachterlichen Tätigkeit über eine Messung objektiviert werden soll. Da durch Schläfrigkeit neuropsychologische Funktionen erheblich beeinträchtigt werden und dies zur Minderung der Leistungsfähigkeit mit der Wahrscheinlichkeit, spontan einzuschlafen, führt, ist eine erhebliche Selbst- und Fremdgefährdung gegeben. Diese kann zu Unfällen bei Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten führen, die bei Fahrzeugführern im Personen-, Güter- oder Gefahrguttransport erhebliche Schäden an Leib und Leben, materiellen und ökologischen Werten anrichten können, wodurch schließlich auch enorme volkswirtschaftliche Folgekosten entstehen. Um Tagesschläfrigkeit zu messen und die Differentialdiagnostik zu ermöglichen, werden als objektive und reproduzierbare Verfahren der Multiple Schlaflatenztest (MSLT) und der Multiple Wachbleibetest (MWT) verwendet. Während der MSLT die Fähigkeit einzuschlafen bewertet und insbesondere zur Differentialdiagnose der
Narkolepsie dient, ist für den MWT die Fähigkeit, sich wach zu halten, das Ziel. Bei ähnlichem Messprotokoll ergibt sich der entscheidende Unterschied aus der Patienteninstruktion. Beide Verfahren sind am gebräuchlichsten in der Diagnostik der Tagesschläfrigkeit und zur Objektivierung der Einschlafneigung.
Der MSLT wurde in den 1970er-Jahren durch Mary A. Carskadon und William C. Dement in der Stanford University entwickelt, der MWT als Komplementärtest hierzu von Mitler et al. (
1982) eingeführt. Die Tests beruhen auf der Annahme, dass sich die Einschlaflatenz mit zunehmender Schläfrigkeit verkürzt. MSLT und MWT werden zur Objektivierung der
Tagesschläfrigkeit durch Schlafreduzierung, Schlaffragmentierung oder
Schlafdeprivation, bei der Kontrolle des Therapieerfolges und zur „Begutachtung bei Schlafbezogenen Atmungsstörungen“ eingesetzt. Das Testergebnis kann bei sozialmedizinischem oder forensischem Hintergrund erhebliche sozioökonomische Folgen nach sich ziehen, beispielsweise Arbeits-, Berufs- und Erwerbsunfähigkeit oder Entzug der Fahrerlaubnis.
Bei der unmittelbaren schlafmedizinischen Diagnostik ist der MSLT besonders zur Erkennung einer „Narkolepsie“ und dem Nachweis von Sleep-Onset-REM-Perioden (SOREMPs) geeignet. MSLT und MWT werden unter neurophysiologischer Kontrolle mittels
Polysomnographie im Schlaflabor durchgeführt („Polysomnographie und Hypnogramm“). Hierfür sind EEG-, EOG- und EMG-Ableitung zur Ermittlung des objektiven Einschlafzeitpunkts unbedingt erforderlich. Das Verfahren benötigt einen schallisolierten, ruhigen und abgedunkelten Raum. Beide
Testverfahren werden mit dem gleichen Prozessablauf hinsichtlich Ausgangsbedingungen, Räumlichkeit, Ableitung, Montage und Zeitregime durchgeführt. Sie unterscheiden sich nur in der Zielsetzung bzw. in der dementsprechenden Instruktion, den Lichtverhältnissen, der Lagerung der Testperson und in der Dauer der Durchführung. MSLT und MWT stellen aufwendige Verfahren dar, nicht nur wegen der apparativen, räumlichen Bedingungen mit absoluter Schallisolation, sondern auch aufgrund der Notwendigkeit zur intensiven Kontrolle, Überwachung und fachkundigen Auswertung der Messergebnisse. Bei Ableitung unter inadäquaten Bedingungen ist die Aussagekraft eingeschränkt.
Messverfahren
Das
Messverfahren ist standardisiert hinsichtlich Ausgangsbedingungen, Durchführung und Auswertung. Da das Testergebnis durch die Schlafqualität in den letzten sieben Tagen vor der Untersuchung beeinflusst werden kann, sollten die Probanden über ein bis zwei Wochen ein Schlaftagebuch geführt haben oder durch Aktimetrie („Aktigraphie“; „Bewegungsmessung“) überwacht worden sein. Die Tests haben folgende Grundvoraussetzungen, die von der ASDA und AASM festgelegt wurden (ASDA
1992; AASM
2014):
-
Sie sind nur aussagefähig, wenn in der vorangegangenen Nacht mittels
Polysomnographie der stattgehabte Schlaf dokumentiert ist und die Total Sleep Time (TST) mindestens sechs Stunden beträgt.
-
Der Proband muss das
Rauchen mindestens 30 Minuten vor Testbeginn einstellen.
-
Die Durchführung erfolgt in einem schallisolierten, abgedunkelten, klimatisierten Raum im Bett, liegend (MSLT) oder sitzend (MWT).
Beginnend 1,5–3 Stunden nach dem morgendlichen Erwachen werden die Testdurchgänge im zweistündigen Abstand mit einer Dauer von jeweils 20 Minuten (MSLT) oder 40 Minuten (MWT) vier- (MWT) bis fünfmal (MSLT) durchgeführt. Nach dem Verkabeln mit dem Polysomnographen wird die Testperson aufgefordert, sich ruhig und entspannt hinzulegen und zu versuchen, einzuschlafen (MSLT) bzw. in entspannter, zurückgelehnter Sitzposition wach zu bleiben (MWT). Die Instruktion beim MSLT lautet: „Bitte bleiben Sie ruhig und in einer angenehmen Position liegen, halten Ihre Augen geschlossen und versuchen Sie einzuschlafen“. Im Fall des MWT heißt die Instruktion: „Bitte sitzen Sie still und bleiben Sie so lange wie möglich wach. Schauen Sie gerade aus und nicht direkt ins Licht.“ Danach wird das Licht beim MSLT gelöscht, beim MWT ist ein Dämmerlicht im Rücken der Probanden vorgesehen. Die Randbedingungen und Auswertekriterien sind nach Carskadon et al.
1986 festgelegt:
Grenzen der Methode
In der praktischen Anwendung besteht die Gefahr, dass die Voraussetzungen nicht eingehalten werden, sodass verfälschte Ergebnisse entstehen können. Dies betrifft insbesondere das von den Autoren (Carskadon et al.
1986) ausdrücklich geforderte Aufstehen aus dem Bett und Herumlaufen zwischen den einzelnen Testdurchgängen. In der Instruktion wird auch der Gebrauch stimulierender oder sedierender Medikamente und Substanzen ausdrücklich untersagt. Nichteinhaltung (auch Kaffee oder schwarzer Tee) kann das Testergebnis verfälschen.
Speziell für die Bewertung des MSLT ist zu berücksichtigen, dass bei gesunden Kontrollprobanden – insbesondere in der Altersgruppe zwischen 30 und 50 Jahren – häufig Einschlaflatenzen unter fünf Minuten (Johns
2000) gemessen werden, was angesichts der erheblichen Anteile von chronisch schlafdeprivierten Personen unter der berufstätigen, als gesund geltenden Bevölkerung nicht überrascht. Andererseits ergaben sich in mehreren Studien an Patienten mit
Schlafbezogenen Atmungsstörungen keine oder nur geringe Korrelationen zwischen MSLT-Ergebnis, subjektiver Beurteilung der
Tagesschläfrigkeit und neuropsychologischem Testergebnis zur Vigilanz (Afifi et al.
2005). Dies weist auf die Mehrdimensionalität von Leistungsmessungen hin, die für die Ermittlung von Tagesschläfrigkeit vorgenommen werden (siehe auch „Leistungs-, Schläfrigkeits- und Vigilanzmessung“).
Der MSLT wurde ursprünglich in Schlafdeprivationsexperimenten (Afifi et al.
2005) eingesetzt, in denen er unter den Bedingungen einer kompletten
Schlafdeprivation die höchste Sensitivität aufwies. Die unter aktuellen Voraussetzungen hinsichtlich der praktischen Bedeutung höher einzustufenden Untersuchungen zu partiellem
Schlafentzug zeigen eine geringere Sensitivität (Affifi et al.
2005; Roehrs et al.
1990). In neueren Untersuchungen wird außerdem gezeigt, dass der MSLT im Vergleich zur Epworth Sleepiness Scale (ESS) eine geringere Spezifität zum Nachweis von
Tagesschläfrigkeit besitzt (Johns
2000).
Testschwächen des MSLT für
Tagesschläfrigkeit liegen bei seiner hohen Sensitivität und mangelnden Spezifität, was für den MWT ebenfalls gilt, jedoch in abgeschwächter Form. Dennoch stellen beide Verfahren den derzeitigen Standard zur objektiven Ermittlung der Tagesschläfrigkeit dar. Noch ausstehende klinische Evaluationsstudien könnten mehr Klarheit verschaffen.
Eine Unterscheidung der Ursachen von
Schlafstörungen ist mittels MSLT und MWT nicht möglich. Das Auftreten von mindestens zwei Sleep-Onset-REM-Perioden (eine davon auch in der Polysomnographienacht) im Kontext mit weiteren typischen Symptomen ist jedoch für den Nachweis einer
Narkolepsie gesichert. Im Gegensatz zum MSLT fehlen beim MWT ausreichende Studien zur Bestimmung der Grenzwerte für bestimmte Patientengruppen, insbesondere solche mit Obstruktiver Schlafapnoe und Narkolepsie. Der Einsatz des MWT zur Verlaufskontrolle vor und unter Therapie wird dadurch jedoch nicht beeinträchtigt, weil dabei jeder Patient mit dem Ausgangswert vor Therapie seinen eigenen Vergleichswert liefert.