Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Verfasst von:
Sylvia Kotterba
Publiziert am: 20.08.2022

Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert

Die Myotone Dystrophie als häufigste Form der adulten Muskeldystrophie ist unter schlafmedizinischem Aspekt gut untersucht. Die abnehmende muskuläre Kraft bedingt eine zunächst nächtlich imponierende Insuffizienz der Atmung. Nur bei dieser Muskelerkrankung konnte eine zentralnervöse Mitbeteiligung und ein Hypocretinmangel nachgewiesen werden, die zusätzlich zu den Folgen der Schlafbezogenen Atmungsstörungen die Wachsymptomatik der Hypersomnie verstärken. Gerade in den Frühstadien der Erkrankungen, wenn die respiratorische Insuffizienz noch auf die Nacht beschränkt ist und unerkannt bleibt, müssen die Patienten explizit nach Tagesschläfrigkeit und unerholsamem Schlaf gefragt werden. Vorhandene Tagessymptomatik sollte Anlass sein, eine Kardiorespiratorische Polysomnographie durchzuführen, um gegebenenfalls frühzeitig eine nichtinvasive nächtliche Beatmung einzuleiten. Unter suffizienter Behandlung der Schlafbezogenen Atmungsstörungen lässt sich eine deutliche Besserung des Gesamtzustands der Patienten erzielen.

Englischer Begriff

Curschmann-Steinert disease

Definition

Die Erkrankung ist eine Form der Muskeldystrophien und gehört zur Gruppe der neuromuskulären Erkrankungen (siehe „Neuromuskuläre Erkrankungen“). Sie hat eine Beeinträchtigung der Atmung im Schlaf zur Folge und reduziert damit die Erholungsfunktion des Schlafs.

Epidemiologie

Mit einer Prävalenz von 1:10.000 ist die Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert die häufigste Form einer Muskeldystrophie bei Erwachsenen und die einzige Form neuromuskulärer Erkrankungen mit eindeutig zentraler Beteiligung.

Genetik

Es handelt sich um eine progressive Multisystemerkrankung, die autosomal dominant mit variabler phänotypischer Ausprägung und unvollständiger Penetranz vererbt wird. Das für die Erkrankung verantwortliche Gen ist auf dem langen Arm von Chromosom 19 lokalisiert (19q13).

Symptomatik

Die klinischen Symptome umfassen Myotonie, Muskelschwäche, Katarakt, Stirnglatze, intellektuelle Einbußen, Störungen der Herz-Kreislauf-Funktion und endokrine Störungen wie Hodenatrophie, Ovarialinsuffizienz und Insulinresistenz. Neben Veränderungen in der Muskulatur konnten per Kernspintomographie (NMR) und mittels neuropathologischer Untersuchungen auch zerebrale Veränderungen wie Neuronenverlust und neurofibrilläre Degeneration nachgewiesen werden. Ebenfalls lassen sich Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Achse nachweisen. Daher ist davon auszugehen, dass neben den sekundären Atmungsstörungen auch zentrale Störungen eine zusätzliche Rolle bei der Entstehung der „Hypersomnie“ bei den Betroffenen spielen. Im Rahmen einer intensivmedizinischen Behandlung aufgrund einer schwerwiegenden Zweiterkrankung (insbesondere kardial) und nach Operationen ist auf dem Boden der häufigen muskulär bedingten Atmungsstörung prinzipiell eine verlängerte Nachbeatmungszeit einzukalkulieren, insbesondere in fortgeschrittenen Stadien. Um die Entwöhnung vom Respirator zu unterstützen, sollten Elektrolytverschiebungen und pulmonale Infekte möglichst zügig behandelt werden. Grundsätzlich sollten bei allen Myotonien Hypothermie, Elektrolytentgleisungen und Verabreichung depolarisierender Muskelrelaxanzien vermieden werden (Klingler et al. 2005).

Diagnostik

In diversen Studien konnte durch hohe Scores in der Epworth Sleepiness Scale (ESS) und verkürzte Einschlafzeiten im Multiplen Schlaflatenztest (MSLT) die Schläfrigkeit objektiviert werden. In einigen Untersuchungen wurden Sleep-Onset-REM-Phasen nachgewiesen (Martínez-Rodríguez et al. 2003). Hypocretin-1-Bestimmungen im Liquor zeigten teilweise erniedrigte Werte, es bestand aber keine Korrelation mit dem Ausmaß der Tagesschläfrigkeit. Für die Hypersomnie scheint somit ein komplexes Zusammenspiel von respiratorischer Insuffizienz (siehe „Respiratorische Insuffizienz“), gestörter Schlafrhythmik mit meist fragmentiertem Schlaf und zentralen Mechanismen wie Hypocretinmangel, Atrophie und Funktionsstörungen auf kortikaler Ebene und in der Medulla oblongata mit Auswirkung auf die Regulation der Atmung verantwortlich zu sein (Martínez-Rodríguez et al. 2003; Laberge et al. 2004). „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ in Gestalt von Schlafbezogenen Hypoventilationssyndromen sind mittels spezifischer Diagnostik zu erfassen (siehe „Schlafbezogene Hypoventilationssyndrome“; „Diagnostik der Schlafbezogenen Atmungsstörungen“).

Therapie

Die Therapie der Erkrankung ist symptomatisch und richtet sich nach der vorherrschenden Problematik. Nachgewiesene Schlafbezogene Atmungsstörungen, speziell die Hypoventilations- und Hypoxämiesyndrome, müssen konsequent mit nichtinvasiver Beatmung behandelt werden, wobei zuvor eine genaue Evaluation der Herzinsuffizienz notwendig ist, die unter Umständen eine Kontraindikation für bestimmte Formen der Atmungsunterstützung darstellt. Bei persistierender Tagesschläfrigkeit kann die Gabe von „Stimulanzien“ erfolgen. Siehe auch „Nichtinvasive Beatmung bei zentralen Schlafbezogenen Atmungsstörungen und bei der chronischen respiratorischen Insuffizienz“.

Zusammenfassung, Bewertung

Die Myotone Dystrophie als häufigste Form der adulten Muskeldystrophie ist unter schlafmedizinischem Aspekt gut untersucht. Die abnehmende muskuläre Kraft bedingt eine zunächst nächtlich imponierende Insuffizienz der Atmung. Nur bei dieser Muskelerkrankung konnte eine zentralnervöse Mitbeteiligung und ein Hypocretinmangel nachgewiesen werden, die zusätzlich zu den Folgen der Schlafbezogenen Atmungsstörungen die Wachsymptomatik der Hypersomnie verstärken. Gerade in den Frühstadien der Erkrankungen, wenn die respiratorische Insuffizienz noch auf die Nacht beschränkt ist und unerkannt bleibt, müssen die Patienten explizit nach Tagesschläfrigkeit und unerholsamem Schlaf gefragt werden. Vorhandene Tagessymptomatik sollte Anlass sein, eine Kardiorespiratorische Polysomnographie durchzuführen, um gegebenenfalls frühzeitig eine nichtinvasive nächtliche Beatmung einzuleiten. Unter suffizienter Behandlung der Schlafbezogenen Atmungsstörungen lässt sich eine deutliche Besserung des Gesamtzustands der Patienten erzielen.
Literatur
Culebras A (2000) Sleep disorders and neuromuscular disorders. In: Culebras A (Hrsg) Sleep disorders and neurological diseases. Marcel Dekker Inc, New York
Guilleminault C, Philip P, Robinson A (1998) Sleep and neuromuscular disease: bilevel positive airway pressure by nasal mask as a treatment for sleep disordered breathing in patients with neuromuscular disease. J Neurol Neurosurg Psychiatry 65:225–232CrossRef
Hufschmidt A, Lücking CH (2003) Neurologie compact. Leitlinien für Klinik und Praxis. Thieme, Stuttgart/New York
Klingler W, Lehmann-Horn F, Jurkat-Rott K (2005) Complications of anesthesia in neuromuscular disorders. Neuromuscul Disord 15:195–206CrossRef
Laberge L, Bégin P, Montplaisir J, Mathieu J (2004) Sleep complaints in patients with myotonic dystrophy. J Sleep Res 13:95–100CrossRef
Martínez-Rodríguez JE, Lin L, Iranzo A et al (2003) Decreased hypocretin I (Orexin A) levels in the cerebrospinal fluid of patients with myotonic dystrophy and excessive daytime sleepiness. Sleep 26:287–290CrossRef
Winterholler M, Claus D, Bockelbrink A et al (1997) Empfehlungen der bayerischen Muskelzentren in der DGM zur Heimbeatmung bei neuromuskulären Erkrankungen Erwachsener. Nervenarzt 68:351–357CrossRef