Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Verfasst von:
Sylvia Kotterba
Publiziert am: 20.08.2022

Neuromuskuläre Erkrankungen

Neuromuskuläre Erkrankungen sind bedingt durch Störungen der Funktion der Muskulatur selbst, beziehungsweise der sie versorgenden Nerven oder der neuromuskulären Übertragung. Neuromuskuläre Erkrankungen sind sehr heterogen hinsichtlich Ätiologie und klinischem Erscheinungsbild. Neben überwiegend hereditären Krankheitsprozessen gibt es erworbene, metabolisch und endokrin bedingte sowie entzündliche Ursachen.

Synonyme

NMD

Englischer Begriff

neuromuscular disorders

Definition

Neuromuskuläre Erkrankungen sind bedingt durch Störungen der Funktion der Muskulatur selbst, beziehungsweise der sie versorgenden Nerven oder der neuromuskulären Übertragung.

Grundlagen

Neuromuskuläre Erkrankungen sind sehr heterogen hinsichtlich Ätiologie und klinischem Erscheinungsbild. Neben überwiegend hereditären Krankheitsprozessen gibt es erworbene, metabolisch und endokrin bedingte sowie entzündliche Ursachen (Hufschmidt und Lücking 2013). Für alle aufgeführten neuromuskulären Erkrankungen ist eine progrediente Abnahme der Muskelkraft charakteristisch. Im Verlauf führen viele neuromuskulären Erkrankungen zu einer Dysfunktion aller an der Atmung beteiligten Muskelgruppen, wie Interkostal-, Zwerchfell- und Atemhilfsmuskulatur (Kotterba 2009), sowie gegebenenfalls der Pharynxmuskulatur.
Unterschiedliche „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ (SBAS) werden durch neuromuskuläre Erkrankungen induziert, am häufigsten „Schlafbezogene Hypoventilationssyndrome“. Gerade in den Frühstadien der Erkrankungen, wenn die respiratorische Insuffizienz noch auf die Nacht (und hier zunächst auf den REM-Schlaf) beschränkt ist und daher zumeist noch unerkannt bleibt, müssen die Patienten explizit nach Tagesschläfrigkeit und unerholsamem Schlaf gefragt werden. Vorhandene Tagessymptomatik sollte Anlass sein, eine „Kardiorespiratorische Polysomnographie“, wenn möglich mit kontinuierlicher transkutaner Messung des pCO2, durchzuführen, um gegebenenfalls frühzeitig eine nichtinvasive nächtliche Beatmung einzuleiten. Die nächtliche Ventilationsstörung verursacht häufig eine Insomnie, sodass das Ausmaß der Schlafbezogenen Atmungsstörung durch eine Polygraphie, die nicht zwischen Wachzustand und Schlaf differenzieren kann, unterschätzt wird. Bei zunehmender Hyperkapnie besteht eine verminderte Sensitivität der zentralen Chemorezeptoren. Unter suffizienter Behandlung der Schlafbezogenen Atmungsstörungen lässt sich eine deutliche Besserung des Gesamtzustands der Patienten erzielen.
Vier große Gruppen von neuromuskulären Erkrankungen werden unterschieden, die auf unterschiedlicher Ebene die motorische Einheit beeinflussen (Tab. 1).
Tab. 1
Störungsebenen von neuromuskulären Erkrankungen und die sie betreffenden Krankheitsbilder
Ebene der Störung
Krankheitsbilder
1. Muskulatur
Muskeldystrophien und Myopathien
2. Vorderhornzelle
Spinale Muskelatrophie
3. Peripherer Nerv
4. Neuromuskuläre Übertragung
Die allgemeine Problematik der insbesondere nächtlich auftretenden respiratorischen Insuffizienz (siehe „Respiratorische Insuffizienz“) ist bei nahezu allen neuromuskulären Erkrankungen vorhanden. Nicht zu allen Erkrankungen wurden aussagekräftige schlafmedizinische Studien publiziert. Auf gut evaluierte Krankheitsbilder aus den vier genannten Gruppen, die in separaten Essays elektiv dargestellt werden, wird nachfolgend verwiesen:
Muskelerkrankungen
Muskeldystrophien und Myopathien betreffen die Muskulatur entweder generalisiert oder sie betreffen vorwiegend bestimmte Muskelgruppen wie den Gliedergürtel oder proximale Extremitäten, die skapulo-peroneale Muskulatur, selten die distale Muskulatur. Eine der Formen, die zu einer Beeinträchtigung der Atmung im Schlaf und damit des Schlafs selbst führt, ist die „Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert“.
Vorderhornzellerkrankungen
Eine chronische und fortschreitende Erkrankung, die ausschließlich motorische Nervenzellen betrifft und zwar zentral im Großhirn (1. Motoneuron) sowie im Bereich des Rückenmarks (2. Motoneuron), ist die „Amyotrophe Lateralsklerose“ (ALS). Klinisch finden sich Muskelatrophien mit Faszikulationen. Es treten keine Sensibilitätsstörungen und über lange Zeit des Krankheitsverlaufes keine kognitiven Defizite bei den Patienten auf. Die Atmungsunterstützung muss hier sehr gezielt geplant werden.
Erkrankungen des peripheren Nervensystems
Siehe dazu die Essays „Guillain-Barré-Syndrom“ und „Polyneuropathien“.
Störungen der neuromuskulären Übertragung
Die „Myasthenia gravis“ (MG) ist eine Autoimmunerkrankung, die durch Beteiligung der Atmungsmuskulatur und der oropharyngealen Muskulatur häufig nächtliche Atmungsstörungen zur Folge hat.
Literatur
Culebras A (2000) Sleep disorders and neuromuscular disorders. In: Culebras A (Hrsg) Sleep disorders and neurological diseases. Marcel Dekker Inc, New York
Guilleminault C, Philip P, Robinson A (1998) Sleep and neuromuscular disease: bilevel positive airway pressure by nasal mask as a treatment for sleep disordered breathing in patients with neuromuscular disease. J Neurol Neurosurg Psychaiatry 65:225–232CrossRef
Hufschmidt A, Lücking CH (2013) Neurologie compact. Leitlinien für Klinik und Praxis. Thieme, Stuttgart/New York
Kotterba S (2009) Schlafbezogene Hypoventilation/Hypoxämie durch neuromuskuläre oder Brustwand-Erkrankungen. In: Happe S, Walther BW (Hrsg) Schlafmedizin in der Praxis. Ecomed, Heidelberg/München/Landsberg/Frechen/Hamburg
Windisch W, Dreher M, Geiseler J, Siemon K, Brambring J, Dellweg D, Grolle B, Hirschfeld S, Köhnlein T, Mellies U, Rosseau S, Schönhofer B, Schucher B, Schütz A, Sitter H, Stieglitz S, Storre J, Winterholler M, Young P, Walterspacher S, für die Leitliniengruppe „Nichtinvasive und invasive Beatmung als Therapie der chronischen respiratorischen Insuffizienz“ (2017) S2k-Leitlinie: Nichtinvasive und invasive Beatmung als Therapie der chronischen respiratorischen Insuffizienz – Revision 2017. Pneumologie 71(11):722–795CrossRef
Winterholler M, Claus D, Bockelbrink A et al (1997) Empfehlungen der bayerischen Muskelzentren in der DGM zur Heimbeatmung bei neuromuskulären Erkrankungen Erwachsener. Nervenarzt 68:351–357CrossRef