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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Publiziert am: 06.02.2020

Nozizeption

Verfasst von: Christoph Schäfer
Unter Nozizeption wird allgemein die Rezeption, Weiterleitung und zentralnervöse Prozessierung von schmerzauslösenden Reizen verstanden. Schmerzwahrnehmung ist nicht zwingend eine Folge eines Reizes von Nozizeptoren. Insbesondere bei chronischen Schmerzen erfolgen als Ergebnis einer zentralen Sensitivierung Schmerzwahrnehmungen ohne Erregung von Nozizeptoren. Die Schmerzwahrnehmung zeigt im Unterschied zu den meisten anderen Sinnessystemen eine große motivational-emotionale Komponente. Im vorliegenden Beitrag werden Zusammenhänge mit dem Schlaf dargestellt.

Synonyme

Nozirezeption; Noziperzeption; Schmerzsinn; Schmerzrezeption

Englischer Begriff

nociperception

Definition

Unter Nozizeption wird allgemein die Rezeption, Weiterleitung und zentralnervöse Prozessierung von schmerzauslösenden Reizen verstanden. Schmerzwahrnehmung, hier als das Bewusstwerden von schmerzhaften Reizen oder Zuständen verstanden, ist nicht zwingend eine Folge eines Reizes von Nozizeptoren. Insbesondere bei chronischen Schmerzen erfolgen als Ergebnis einer zentralen Sensitivierung Schmerzwahrnehmungen ohne Erregung von Nozizeptoren. Die Schmerzwahrnehmung zeigt im Unterschied zu den meisten anderen Sinnessystemen eine große motivational-emotionale Komponente. Im vorliegenden Beitrag werden Zusammenhänge mit dem Schlaf dargestellt.

Grundlagen

Grundstrukturen des nozizeptiven Systems

Grob skizziert wird beispielsweise somatischer Schmerz aus der Haut unter anderem über freie, nichtkorpuskuläre Nervenendigungen in Form von Mechano- und Chemosensoren vermittelt. Die afferente Fortleitung geschieht über dünne markhaltige Gruppe-III- beziehungsweise A-δ-Fasern und vor allem über marklose Gruppe-IV-C-Fasern. Diese Fasern enden im Rückenmark an Neuronen des Hinterhorns. Von dort aus setzen sich afferente Projektionen vorwiegend im Vorderseitenstrang des Rückenmarks in Gestalt des Tractus spinothalamicus nach zentral fort. Im Hirnstammbereich treten nozizeptive Fasern des Nervus trigeminus als Tractus trigeminothalamicus hinzu. Kollateralen projizieren in motorische und vegetative spinale und supraspinale Reflexbögen. Im Ventrolateralkomplex des Thalamus erfolgt eine Umschaltung auf kortikale Projektionen und hier vorwiegend zum somatosensorischen Kortex. Von den medialen Thalamuskernen erfolgen Projektionen unter anderem in den frontalen Kortex und in das limbische System. Deszendierende Projektionen erfolgen vom Kortex auf die medialen und ventrolateralen Thalamuskerne sowie kortikobulbär über das zentrale Höhlengrau durch die Formatio reticularis auf das Hinterhorn des Rückenmarks beziehungsweise die vergleichbaren trigeminalen Strukturen. (Siehe auch „Autonomes Nervensystem“)
Bedingt durch die afferenten und efferenten Projektionen unterliegt die Schmerzwahrnehmung zahlreichen hemmenden und erregenden modifizierenden Einflüssen.
Lokal setzen sowohl Nozizeptoren als auch an der afferenten Weiterleitung beteiligte Neurone verschiedene Peptide wie beispielsweise die Substanz P frei.

Interaktionen von Nozizeption und Schlaf

Anatomische Korrelate für Verbindungen zwischen nozizeptivem System und dem Schlaf-Wach-System finden sich in weiten Bereichen des nozizeptiven Systems. Im afferenten Schenkel ist insbesondere der Thalamus, der frontale Kortex und das limbische System erheblich auch an der Schlaf-Wach-Regulation beteiligt. Im efferenten Schenkel sind insbesondere thalamische und hypothalamische Kerne sowie die Formatio reticularis beteiligt.
Vorwiegend spinale und thalamische Strukturen filtern die afferenten Erregungen der Nozizeptoren. Nicht jeder Schmerzreiz gelangt daher in das Bewusstsein. Die Schmerzschwelle, also die minimale Schmerzintensität, die eine Schmerzwahrnehmung auslöst, zeigt eine zirkadiane Rhythmik („Chronobiologie“). Die Schmerzschwelle ist in der Zeit von 12:00–18:00 Uhr am höchsten und in der Zeit nach Mitternacht bis ca. 3:00 Uhr am niedrigsten. Schlafmangel, sei er durch intrinsische oder extrinsische Schlafstörungen bedingt, senkt die Schmerzschwelle und bewirkt damit eine verstärkte Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen bis hin zur Hyperalgesie. Schlafentzug ist geeignet, eine signifikante Hyperalgesie zu erzeugen, während andere sensorische Modalitäten nicht signifikant beeinflusst werden (Schuh-Hofer 2013). Gleichzeitig besteht durch Schlafmangel auch ein negativer Einfluss auf die Wirkung pharmakologischer Schmerzbehandlung. Eine differenzierte Beurteilung, die Ursache des Schlafmangels hier den entscheidenden Einfluss darstellt, ist anhand der aktuellen Datenlage nicht möglich (Kunderman et al. 2004).
Bei schlafbezogenen Erkrankungen, die mit einer verstärkten Schlaffragmentation einhergehen, berichten Patienten neben Tagesschläfrigkeit gehäuft über Kopfschmerzen. Erkrankungen, die nächtliche Schwankungen der Blutgase aufweisen, wie „Schlafbezogene Atmungsstörungen“, insbesondere „Schlafbezogene Hypoventilationssyndrome“ oder „Neuromuskuläre Erkrankungen“, korrelieren mit einer gehäuften Inzidenz an „Kopfschmerz“ (Jennum und Jensen 2002).
Substanzielle Beziehungen zwischen Nozizeption und Schlaf ergeben sich auf Transmitterebene. Neuere Untersuchungen weisen auf einen Zusammenhang mit Hypocretin-2-vermittelter Modulation der Aktivität der Hinterhornzellen des Rückenmarkes hin. Hypocretin-1 und -2 spielen grundsätzlich eine Rolle in der Vermittlung von Arousals, der Schlafinduktion sowie der Appetitregelung. Eine Erniedrigung des Hyopkretin-2-(Orexin-B-)Spiegels wird bei Patienten mit Narkolepsie gesehen. Hypocretin-2-Fasern projizieren vom Thalamus in die Laminae I und II des Hinterhorns des Rückenmarks. Im Experiment an der Ratte konnten Grudt et al. eine Hypocretin-2-vermittelte Frequenzsteigerung exzitatorischer postsynaptischer Entladungen an einzelnen Neuronen der Laminae I und II nachweisen. Die Autoren schließen hieraus auf eine modulierende Wirkung des Hypocretin-2 auf die Schmerzwahrnehmung (Grudt et al. 2002).
Substanz P (SP) wird präsynaptisch von Nozizeptoren und afferenten Neuronen lokal freigesetzt. Das Neuropeptid ist ein wichtiger Mediator der lokalen Schmerz- und Entzündungsreaktion. Im Zentralnervensystem kommt der Substanz P bei Affektiven Störungen (siehe „Affektive Störungen“) eine Bedeutung zu. Bei Patienten mit Depressivem Syndrom konnte ein erhöhter SP-Spiegel im Liquor gesehen werden. Gestützt wird der Zusammenhang auch durch die antidepressive Wirkung von SP-Rezeptorantagonisten bei depressiven Patienten. Lieb et al. konnten in einer doppelblinden Cross-over-Studie an 12 gesunden jungen Männern unter polysomnographischer Kontrolle eine deutliche Stimmungsverschlechterung, eine Verlängerung der REM-Schlaflatenz sowie eine Zunahme der Wachzeit während der Schlafphase unter SP-Infusion im Vergleich zu Plazebo sehen. Kortisol- und TSH-Spiegel zeigten einen Anstieg, das „Wachstumshormon“ zeigte einen Abfall des Serumspiegels. Die Ergebnisse werden im Sinne eines erregenden Effekts von Substanz P auf das zentrale Nervensystem interpretiert. (Siehe auch „Endokrinium“; „Schilddrüsenerkrankungen“; „Hypophyse und Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse“)
Chronische Schmerzen gehen gehäuft mit Depressivität einher. Inwieweit die objektivierbaren Schlafstörungen beichronischen Schmerzen das Resultat des auslösenden Schmerzes beziehungsweise zentraler Sensitivierung oder einer begleitenden Depression sind, ist nicht immer zweifelsfrei zu klären. Schlafstörungen in Zusammenhang mit Schmerzen äußern sich meist in einer verlängerten REM-Schlaflatenz, reduzierten Anteilen an REM-, NREM3- und NREM4-Schlaf sowie einer erhöhten Schlaffragmentation mit prolongierten Wachphasen („Gestörter Schlaf, seine Muster in der Kardiorespiratorischen Polysomnographie“; „Stress und Hyperarousal“).
Literatur
Grudt TJ, van den Pol AN, Perl ER (2002) Hypocretin-2 (orexin-B) modulation of superficial dorsal horn activity in rat. J Physiol 538(Pt 2):517–525CrossRef
Jennum P, Jensen R (2002) Sleep and headache. Sleep Med Rev 6(6):471–479CrossRef
Kundermann B, Krieg JC, Schreiber W et al (2004) The effect of sleep deprivation on pain. Pain Res Manag 9(1):25–32CrossRef
Lieb K et al (2002) Effects of the neuropeptide substance P on sleep, mood, and neuroendocrine measures in healthy young men. Neuropsychopharmacology 27(6):1041–1049CrossRef
Schuh-Hofer et al (2013) One night of total sleep deprivation promotes a state of generalized hyperalgesia: a surrogate pain model to study the relationship of insomnia and pain. Pain 154(9):1613–1621CrossRef