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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Publiziert am: 09.03.2022

Polyneuropathien

Verfasst von: Peter Young
Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen peripher Nerven. Motorische, sensible oder autonome Nerven können innerhalb des peripheren Nervensystems (PNS) entweder ausschließlich oder in Kombination betroffen sein. Die klinischen Symptome richten sich nach den peripheren Nerven, die vorwiegend betroffen sind. Aus diesem Grund handelt es sich bei den Polyneuropathien um eine phänomenologisch heterogene Gruppe von Erkrankungen, deren Ursachen erblich bedingte, traumatische, entzündliche, paraneoplastische, toxische, metabolische, autoimmunologische oder vaskuläre Schädigung des peripheren Nerven umfassen. Polyneuropathien können mit verschiedenen Schlafstörungen assoziiert sein, wie Insomnie, Schlafbezogene Atmungsstörungen und Restless-Legs-Syndrom (RLS). Eine spezifische Schlafstörung bei Polyneuropathien gibt es nicht. Es konnte jedoch gezeigt werden dass insbesondere erbliche Polyneuropathien mit einer erhöhten Prävalenz für Obstruktive Schlafapnoe einhergehen.

Synonyme

Englischer Begriff

polyneuropathy

Definition

Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen peripher Nerven. Motorische, sensible oder autonome Nerven können innerhalb des peripheren Nervensystems (PNS) entweder ausschließlich oder in Kombination betroffen sein. Die klinischen Symptome richten sich nach den peripheren Nerven, die vorwiegend betroffen sind. Aus diesem Grund handelt es sich bei den Polyneuropathien um eine phänomenologisch heterogene Gruppe von Erkrankungen, deren Ursachen erblich bedingte, traumatische, entzündliche, paraneoplastische, toxische, metabolische, autoimmunologische oder vaskuläre Schädigung des peripheren Nerven umfassen (Tab. 1). Ätiologisch können im peripheren Nervensystem entweder vorwiegend die Markscheiden oder die Axone der Nerven betroffen sein. Die gemeinsame Endstrecke für die Schäden besteht jedoch immer in der neuronalen Fehlfunktion entlang des Axons.
Tab. 1
Ursachen für Polyneuropathien. Auslösende Erkrankungen und Substanzen
Ursache
Erkrankung bzw. Substanz
Hereditär
Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie (HMSN)
Amyloidneuropathie
Traumatisch
Engpasssyndrome
Entzündlich
Neoplastisch
Paraneoplastische Syndrome
Leukosen
Amyloidablagerungen
Metabolisch/endokrin
Diabetes mellitus
Urämie
Vaskulär
Diabetische Angiopathie
Toxisch
Alkohol
Schwermetalle wie Blei, Quecksilber und Arsen
Hydrocarbone
Zytostatika wie Vincristin
Thallidomid
Autoimmun
Polyneuropathien können mit verschiedenen Schlafstörungen assoziiert sein, wie „Insomnie“, „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ und „Restless-Legs-Syndrom“ (RLS). Eine spezifische Schlafstörung bei Polyneuropathien gibt es nicht. Es konnte jedoch in einigen Studien gezeigt werden dass insbesondere erbliche Polyneuropathien mit einer erhöhten Prävalenz für Obstruktive Schlafapnoe einhergehen.

Genetik

Neben der Gruppe erworbener Polyneuropathien gibt es die erblich bedingten Neuropathien. Den größten Teil dieser Gruppe stellen die hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) dar. In dieser Gruppe werden nach elektrophysiologischen Kriterien demyelinisierende und axonale Formen unterschieden. Im klinischen Alltag spielen die demyelinisierende Form (HMSN I), die axonale Form (HMSN II) und die X-chromosomal vererbte Form (HMSN X) eine Rolle. Mittlerweile sind für die verschiedenen Formen der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathie viele verschiedene Kandidatengene beschrieben worden. Entsprechend der spezifischen Mutation werden die Unterformen der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathie unterschiedlich benannt (Young und Suter 2003). Mit Abstand die häufigste Mutation, die zu einer motorischen und sensiblen Polyneuropathie führt, ist die Verdopplung eines DNA-Abschnitts auf dem kurzen Arm von Chromosom 17. In dem verdoppelten DNA-Abschnitt liegt das Gen für das periphere Myelinprotein 22 (PMP22), das als Kandidatengen der HMSN I gilt, seitdem auch Mutationen im PMP22 identifiziert werden konnten. Zudem kann die Duplikation des gesamten Gens selber zu einer HMSN I führen. Innerhalb einer Familie mit autosomal-dominant vererbter HMSN I konnte eine Segregation der Duplikation auf Chromosom 17 mit dem klinischen neuropathischen Phänotyp der HMSN I und der zentralen oder Obstruktiven Schlafapnoe beschrieben werden. Andererseits konnte in sporadischen Fällen mit HMSN I keine Häufung von Schlafstörungen gefunden werden. Die Assoziation zwischen HMSN I und der Obstruktiven Schlafapnoe konnte bestätigt werden (Boentert et al. 2014). Die Gruppe der HMSN ist häufiger mit „Periodischen Extremitätenbewegungen“ (PLM) und RLS assoziiert (Boentert et al. 2014.
Neben der großen Gruppe der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) müssen die hereditären motorischen Neuropathien (HMN), die hereditären sensiblen Neuropathien (HSN) und die hereditären autonomen Neuropathien (HAN) erwähnt werden, bei denen ebenfalls primär der genetische Defekt zu einer Polyneuropathie führt, die nicht sekundär metabolisch, entzündlich, autoimmunologisch, paraneoplastisch oder toxisch bedingt ist. Inwieweit die Formen der genetisch bedingten Polyneuropathie zu Schlafstörungen führen, ist bislang nicht untersucht. Eine große Anzahl genetisch bedingter Stoffwechselerkrankungen oder anderer neurodegenerativer Erkrankungen kann ebenfalls sekundär zu einer Polyneuropathie führen. Die Fatale familiäre Insomnie (FFI; „Fatale familiäre Insomnie und andere Prionenerkrankungen“), die durch eine Mutation im Prionproteingen ausgelöst sein kann, führt auch schwere Störungen der autonomen Funktionen herbei, ohne dass jedoch sicher eine Polyneuropathie mit dieser schweren Schlafstörung assoziiert ist.

Epidemiologie und Risikofaktoren

Über die Prävalenz von Schlafstörungen bei Polyneuropathien gibt es bislang nur wenige gesicherte Daten aus großen Patientenkollektiven. In einem Kollektiv von Patienten mit Polyneuropathie unterschiedlicher Ätiologie zeigten 5,2 % der Patienten ein Restless-Legs-Syndrom. Für die Gruppe der HMSN konnte eine Prävalenz von 40 % gezeigt werden (Boentert et al. 2014). Die Prävalenz liegt weit oberhalb des sporadischen Auftretens des Restless-Legs-Syndroms. Bekanntermaßen werden Polyneuropathien jedoch als mögliche Ursache für ein sekundäres Restless-Legs-Syndrom angesehen. Die Prävalenz der „Obstruktiven Schlafapnoe“ ist für die Gruppe der erblichen Neuropathien untersucht und wird mit 37,7 % angegeben (Boentert et al. 2014).

Pathophysiologie, Psychophysiologie

Der Zusammenhang zwischen peripheren nervösen Störungen wie der Polyneuropathie und dem Auftreten von PLM und/oder dem Restless-Legs-Syndrom ist bislang nicht ausreichend geklärt. Ebenso wenig ist bekannt, welchen Zusammenhang es zwischen Polyneuropathie und dem Auftreten des Restless-Legs-Syndroms gibt. Falls periodische Extremitätenbewegungen auftreten, können sie jedoch zu motorischen Weckreaktionen während des Schlafs führen und durch verschiedene Mechanismen der Chronifizierung zu einer manifesten Insomnie führen.
Wichtige Erkenntnisse über den Zusammenhang von motorischen Arousals und der Polyneuropathie oder zentraler Mechanismen, wie zum Beispiel der zerebellären Kontrolle, könnten in Zukunft durch die weitere Erforschung der Machado-Joseph-Erkrankung gewonnen werden. Diese Form der autosomal-dominant erblichen spinozerebellären Ataxie (SCA3) ist assoziiert mit einer zerebellären Ataxie, einer axonalen Polyneuropathie sowie einer Häufung der „REM-Schlaf-Verhaltensstörung“. Welcher Anteil an der Schlafstörung dem Verlust der zerebellären Kontrolle oder der vermehrten motorischen Aktivität im Schlaf durch die Polyneuropathie zugeschrieben werden muss, ist bislang ungeklärt.

Symptomatik

Sensible Neuropathien zeichnen sich durch Symptome der Miss- und Minderempfindung besonderes der unteren Extremitäten aus. Missempfindungen können sich als brennende oder kribbelnde Empfindungen äußern, die besonders bei Wärme, beispielsweise unter der wärmenden Bettdecke, zunehmen. „Muskelkrämpfe“ können ein frühes Symptom motorischer und/oder sensibler Neuropathien sein und treten bevorzugt nachts aus dem Schlaf heraus auf. Durch die Sensibilitätsstörungen kann es neben Einschlafstörungen auch zu Durchschlafstörungen mit sekundärer Chronifizierung kommen. Für die diabetische Neuropathie, die überhaupt häufigste Form der Polyneuropathie, gibt es eine Untersuchung von 1994, in der die Prävalenz von Schlafstörungen bei „Diabetes mellitus“ mit 33,7 % angegeben wird (Sridhar und Madhu 1994). Die häufigsten Symptome, die in der Untersuchung mit Schlafstörungen assoziiert waren, stellten die polyneuropathischen Sensibilitätsstörungen dar. Motorische neuropathische Symptome können periodische Extremitätenbewegungen auslösen. Das Restless-Legs-Syndrom stellt die wichtigste Differentialdiagnose zu den durch eine sensible und/oder motorische Neuropathie hervorgerufenen Schlafstörungen dar (siehe Übersicht in Allen und Earley 2001).
Autonome Symptome einer Polyneuropathie können zu einer zentralen Dysregulation der Atmung mit vermehrten zentralen Apnoen führen, wie es bei Patienten mit Diabetes mellitus beobachtet werden konnte. Bei Patienten mit anderen Formen autonomer Neuropathien, wie beispielsweise hereditären autonomen Neuropathien (HAN), liegen keine epidemiologischen Daten vor. Bei Patienten mit „Obstruktiver Schlafapnoe“ wurde eine Häufung axonaler Polyneuropathien gefunden (Lüdemann et al. 2001). Siehe auch „Schnarchen“.

Komorbide Erkrankungen

Die große Gruppe erworbener Polyneuropathien (siehe Tab. 1) zeichnet sich durch viele verschiedene begleitende Symptome aus, die ihrerseits selber zu Schlafstörungen führen können. Beim Vorliegen eines Diabetes mellitus werden Schlafstörungen auch durch die bestehenden Begleitsymptome ausgelöst, wie Hypo- und Hyperglykämie oder diabetische Nephropathie.
Andere metabolische oder entzündliche Polyneuropathien können ebenfalls durch die entsprechenden Begleitsymptome zu Schlafstörungen führen.

Diagnostik

In der klinischen Anamnese sollten Angaben über Sensibilitätsstörungen, Paresen und autonome Symptome wie erektile Dysfunktion oder Zeichen der Gastroparese erfasst werden. In der allgemeinen klinisch-neurologischen Untersuchung müssen die Sensibilität, die Muskelkraft, die Koordination und die Vibrationsempfindung (Pallästhesie) untersucht werden. Mittels der elektrophysiologisch messbaren Nervenleitgeschwindigkeiten peripherer sensibler und motorischer Nerven und mit den Summenaktionspotenzialen lässt sich eine quantitative und qualitative Diagnostik der Polyneuropathie durchführen. Mit den Methoden lässt sich eine Unterscheidung in vorwiegend demyelinisierende oder axonale Formen der Polyneuropathie vornehmen. Insbesondere in der Abgrenzung zum Restless-Legs-Syndrom ist die periphere Elektrophysiologie in Zusammenhang mit der klinisch-neurologischen Untersuchung unentbehrlich. In der „Polysomnographie“ können sich periodische Extremitätenbewegungen zeigen, ohne dass klinisch-anamnestisch die Kriterien für ein Restless-Legs-Syndrom gegeben sind.
Besonders häufig zeigen Patienten mit Polyneuropathie auch nicht periodische Bewegungen der Beine in allen Schlafstadien. Diese kurz dauernden Beinbewegungen von weniger als 0,5 Sekunden Dauer werden auch Twitches genannt und erlauben häufig, polysomnographisch die Verdachtsdiagnose einer Polyneuropathie zu stellen (Abb. 1).

Therapie

Für die Therapie von Schlafstörungen bei Polyneuropathien gibt es keine spezifischen Therapiekonzepte. Die durch eine Polyneuropathie hervorgerufenen Sensibilitätsstörungen, die ihrerseits zu Einschlafstörungen und auch zu einer sekundären Chronifizierung und Insomnie führen können, werden mittels Membranstabilisatoren wie beispielsweise Gabapentin, Carbamazepin oder Pregabalin in Kombination mit trizyklischen Antidepressiva wie Amytriptilin oder anderen atypischen Antidepressiva behandelt (siehe Übersicht in Sindrup und Jensen 2000). Für Mirtazipin ist ein gehäuftes Auftreten von PLM und RLS-Beschwerden beschrieben. Kommt es unter der Behandlung mit „Antidepressiva“ zu einer Verschlechterung der Sensibilitätsstörungen oder zu einer Bewegungsunruhe, muss differentialdiagnostisch und differentialtherapeutisch immer an ein Restless-Legs-Syndrom gedacht werden (Allen und Earley 2001). Vor diesem Hintergrund kann auch ein differentialtherapeutischer Therapieversuch in der einmaligen Gabe von L-Dopa erfolgen.

Prognose

Einige Formen der Polyneuropathie, seien sie hereditär, inflammatorisch oder autoimmunologisch bedingt, sind progredient verlaufende Erkrankungen, in deren Rahmen sich auch die assoziierten Schlafstörungen progredient entwickeln. Im Falle einer sekundären Chronifizierung und manifesten Insomnie kann sich jedoch die Schlafstörung auch unabhängig fortsetzen.
Im Falle reversibler Grunderkrankungen kann die Schädigung der peripheren Nerven unterbrochen werden und nach einer ausreichenden Zeitspanne eine weitergehende Restitution der polyneuropathischen Symptome und der damit verbundenen Schlafstörungen eintreten. Für gutachterliche Fragestellungen ist somit der Verlauf und die Therapierbarkeit der Polyneuropathie getrennt von der damit verbundenen Schlafstörung zu beurteilen. In der Regel wird eine Wiederbegutachtung nach einem gewissen Zeitraum empfohlen.
Literatur
Allen RP, Earley CJ (2001) Restless legs syndrome: a review of clinical and pathophysiologic features. J Clin Neurophysiol 18:128–147CrossRef
Boentert M, Knop K, Schuhmacher et al (2014) Sleep disorders in Charcot-Marie-Tooth disease type 1. J Neurol Neurosurg Psychiatry 85:319–325CrossRef
Lüdemann P, Dziewas R, Soros P et al (2001) Axonal polyneuropathy in obstructive sleep apnoea. J Neurol Neurosurg Psychiatry 70:685–687CrossRef
Sindrup SH, Jensen TS (2000) Pharmacologic treatment of pain in polyneuropathy. Neurology 55:915–920CrossRef
Sridhar GR, Madhu K (1994) Prevalence of sleep disturbances in diabetes mellitus. Diabetes Res Clin Pract 23:183–186CrossRef
Young P, Suter U (2003) The causes of Charcot-Marie-Tooth disease. Cell Mol Life Sci 60:2547–2560CrossRef