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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Verfasst von:
Kai Spiegelhalder und Dieter Riemann
Publiziert am: 22.02.2020

Schlafentzug

Schlafentzug bezeichnet in der Schlafforschung die experimentelle Strategie, durch eine partielle oder vollständige Verhinderung des Nachtschlafs die Auswirkungen von Schlafverlust zu untersuchen und damit Aufschlüsse über die Funktion des Schlafs zu gewinnen. Ein vollständiger Schlafentzug wird dabei in der Regel für eine bis maximal drei Nächte durchgeführt. Partieller Schlafentzug kann auch über längere Zeiträume durchgeführt werden. Eine weitere Methode ist der Entzug spezieller Schlafstadien durch gezielte Weckungen, beispielsweise Entzug von Tief- oder REM-Schlaf.

Synonyme

Schlafdeprivation; Schlafverlust

Englischer Begriff

sleep deprivation

Definition

Schlafentzug bezeichnet in der Schlafforschung die experimentelle Strategie, durch eine partielle oder vollständige Verhinderung des Nachtschlafs die Auswirkungen von Schlafverlust zu untersuchen und damit Aufschlüsse über die Funktion des Schlafs zu gewinnen. Ein vollständiger Schlafentzug wird dabei in der Regel für eine bis maximal drei Nächte durchgeführt. Partieller Schlafentzug kann auch über längere Zeiträume durchgeführt werden. Eine weitere Methode ist der Entzug spezieller Schlafstadien durch gezielte Weckungen, beispielsweise Entzug von Tief- oder REM-Schlaf (siehe dazu „Gestörter Schlaf, seine Muster in der Kardiorespiratorischen Polysomnographie“).

Grundlagen

In der Schlafentzugsforschung werden die Auswirkungen von akutem und chronischem Schlafentzug differenziert.
Ob und wie sich Schlafentzug auswirkt, hängt davon ab, wie lange jemand vor dem Schlafentzug geschlafen hat, wie lange der Schlaf entzogen wird, zu welcher zirkadianen Zeit er untersucht wird und wie viel jemand habituell schläft. Weitere Faktoren sind Einflüsse, die sich auf den Grad der Vigilanz auswirken, wie körperliche Aktivität, Licht, Lärm, Temperatur, Körperhaltung, Einnahme von vigilanzsteigernden oder -vermindernden Substanzen, Interessenlage, Motivation und die Erfahrung im Umgang und mit den Effekten von Schlafentzug. Ebenso spielen das Alter und Persönlichkeits- und psychopathologische Faktoren eine Rolle.

Effekte von Schlafentzug auf neuropsychologische Parameter

Schlafentzug hat deutliche Effekte auf Müdigkeit und Schläfrigkeit, wobei diese Effekte zirkadian moduliert werden. Zudem besteht ein Einfluss auf neuropsychologische Variablen: So werden Reaktionszeiten insbesondere in den frühen Morgenstunden verlängert und Fehlerraten erhöht.
Die Effekte des Schlafentzugs werden deutlicher, wenn die verwendeten neuropsychologischen Tests eine länger anhaltende Aufmerksamkeit erfordern und komplexer sind. Zudem zeigen sich die Effekte des Schlafentzugs verstärkt bei unbekannten Tests, die nicht bereits vorher eingeübt worden sind. Insgesamt spielt die Motivation der Versuchspersonen aber eine wichtige Rolle: Negative Auswirkungen von Schlafentzug können durch erhöhte, willentliche Anstrengung kurzfristig kompensiert werden. Langfristig kommt es jedoch zu Einbußen, beispielsweise auch beim Führen eines Kraftfahrzeugs, was gravierende Folgen haben kann („Einschlafen am Steuer“).
Wissenschaftlich Experimente haben gezeigt, dass auch partieller Schlafentzug, z. B. auf vier Stunden für einen Zeitraum von ein bis zwei Wochen, erhebliche Effekte auf die Leistungsfähigkeit haben kann (Van Dongen et al 2003). Dabei treten die Effekte dosisabhängig auf. Das heißt, dass sie abhängig von der kumulativen Menge des Schlafverlusts sind. Trotz objektivierbarer kognitiver Defizite neigen Versuchspersonen in Studien dazu, die Effekte des Schlafentzugs subjektiv nicht so ausgeprägt wahrzunehmen.

Effekte von Schlafentzug auf die Stimmung

Interessanterweise kann Schlafentzug bei Patienten mit einer Depression einen stimmungsaufhellenden Effekt haben („Affektive Störungen“). Dieser Effekt wurde vor zirka 50 Jahren erstmalig beschrieben und hat dazu geführt, dass die Schlafentzugsbehandlung als adjuvante Behandlung in der Depressionstherapie eingesetzt wird. Allerdings ist der Effekt nur kurzfristig und wird durch den nächsten Schlaf in den meisten Fällen wieder rückgängig gemacht. Bei gesunden Probanden hat Schlafentzug eher einen negativen Effekt auf die Stimmung.
Schlafentzug ist auch ein Bestandteil von Folter- und Verhörmethoden. Unter solchen Bedingungen hat der Schlafentzug extrem unangenehme Effekte, wirkt sich zermürbend auf die Stimmung aus und wird eingesetzt, um Geständnisse oder bestimmte Aussagen zu erzwingen.

Effekte von Schlafentzug auf Neuroendokrinologie und Immunologie

Ein wichtiger Zweig der Schlafentzugsforschung befasst sich damit, ob und wie Schlafentzug neuroendokrine und neuroimmunologische Parameter beeinflusst („Endokrinium“; „Neuropeptide“). Schlafentzug führt zu einer kurzfristigen Erhöhung der Ausschüttung des Hormons Kortisol. Zudem bewirkt prolongierter Schlafentzug bei Ratten eine Destabilisierung des Immunsystems mit der Folge einer reduzierten Immunfunktion. Bei Schlafrestriktionsexperimenten an gesunden Menschen konnte gezeigt werden, dass eine Schlafreduktion von acht auf fünf Stunden über einen Zeitraum von einer Woche dazu führte, dass weniger Antikörper als Reaktion auf eine Impfung gebildet werden („Immunsystem“).

Effekte von Schlafentzug auf EEG und Schlaf

Eines der wichtigsten Modelle der Schlafforschung, das Zwei-Prozess-Modell der Schlaf-Wach-Regulation, basiert im Wesentlichen auf Schlafentzugsexperimenten. Diese belegen, dass im Erholungsschlaf nach Schlafentzug zuerst die langsamwellige Deltaaktivität kompensiert wird. Der verlorene REM-Schlaf wird dann erst nach der Kompensation des Tiefschlafs aufgeholt. Die leichteren Schlafstadien 1 und 2 werden hingegen nicht kompensiert. Dies erklärt, warum nach einer komplett verlorenen Schlafnacht in der darauf folgenden Nacht nicht doppelt so lang geschlafen wird, sondern der Schlaf „nur“ um zwei bis drei Stunden länger wird, allerdings viel mehr Tiefschlafanteile enthält als normalerweise. Siehe auch „Schlafregulation“ und „Wachheit und Schlaf“.
EEG-Untersuchungen nach Schlafentzug belegen zudem, dass Schlafverlust zu einer Zunahme von Delta- und Thetaaktivität im Tagschlaf-EEG führen. Auch im Multiplen Schlaflatenztest (MSLT) zeigen sich Schlafentzugseffekte in einer Verkürzung der Einschlaflatenz („Multipler Schlaflatenztest und Multipler Wachbleibetest“).

Effekte von Schlafentzug auf Morbidität und Mortalität

In Schlafentzugsexperimenten an Tieren wurde gezeigt, dass vollständiger Schlafentzug über Zeiträume von zwei bis drei Wochen dazu führt, dass die Tiere versterben. Es kommt zunächst zu einer gesteigerten Nahrungsaufnahme und erhöhten Körpertemperatur, und die Tiere verlieren an Gewicht. Immunologische Parameter zeigen eine erhöhte Aktivität des Immunsystems während dieser Zeit an. Auch im Humanbereich wurde untersucht, ob eine habituell kurze Schlafdauer mit erhöhter Morbidität und Mortalität korreliert. Dieser Forschungsansatz beruht auf der Analyse großer epidemiologischer Datensätze, die zu mindestens zwei Messzeitpunkten die subjektive Schlafdauer erhoben haben und Morbidität beziehungsweise Mortalität analysierten. Dabei zeigte sich, dass sowohl eine sehr kurze Schlafdauer als auch eine sehr lange Schlafdauer mit einer leicht erhöhten Mortalität verbunden war (Kripke et al. 2002).

Zusammenfassung, Beurteilung

Der Schlafentzug ist eine wichtige Methode der experimentellen Schlafforschung, um Antworten auf die Frage nach der Funktion des Schlafs zu erhalten. Während die Anfänge der Schlafforschung durch die Annahme gekennzeichnet waren, dass Schlafentzug auch über mehrere Nächte kaum schädliche Auswirkungen hat, konnten neuere Untersuchungen zeigen, dass schon wenige Nächte partiellen Schlafentzugs zu neuropsychologischen Defiziten führen.
Weiterhin wird intensiv diskutiert, ob eine habituell geringe Schlafdauer zu spezifischen Erkrankungen führt, beispielsweise Übergewicht und Diabetes (siehe auch „Körpergewicht“, „Metabolismus“ und „Diabetes mellitus“).
Die Ergebnisse zum experimentellen Schlafentzug müssen im Hinblick auf Schlussfolgerungen für Patienten mit Schlafstörungen vorsichtig interpretiert werden. Bei Patienten mit einer „Insomnie“ liegt zwar in vielen Fällen subjektiv eine massive Schlafverkürzung vor, objektiv ist die Schlafdauer gegenüber Gesunden jedoch lediglich um ca. 30 Minuten verkürzt (Baglioni et al. 2014). Insofern können experimentelle Daten an gesunden Probanden, die kognitive Defizite nach Schlafentzug zeigen, nicht direkt auf Patienten mit Insomnien übertragen werden.
Literatur
Baglioni C, Regen W, Teghen A et al (2014) Sleep changes in the disorder of insomnia: a meta-analysis of polysomnographic studies. Sleep Med Rev 18:195–213CrossRef
Kripke DF, Garfinkel L, Wingard DL et al (2002) Mortality associated with sleep duration and insomnia. Arch Gen Psychiatry 59:131–136CrossRef
Van Dongen HP, Maislin G, Mullington JM, Dinges DF (2003) The cumulative cost of additional wakefulness: dose-response effects on neurobehavioral functions and sleep physiology from chronic sleep restriction and total sleep deprivation. Sleep 26:117–126CrossRef