Einleitung
Die
akute lymphatische Leukämie (ALL)
wird oft als primär pädiatrische Entität wahrgenommen; jedoch stimmt dies nur bedingt, da mit dem Alter ebenfalls eine steigende Inzidenz zu verzeichnen ist (Hoelzer et al.
2016). Verschiedene Untersuchungen konnten zeigen, dass mehr als ein Drittel der Patienten >60 Jahre alt sind (31–35 %, Dinmohamed et al.
2016; Juliusson et al.
2010; Bassan et al.
2009). Bereits innerhalb der pädiatrischen ALL und ebenso im Erwachsenenalter ist zunehmendes Alter bei der ALL mit einer ungünstigeren Prognose verbunden (Juliusson et al.
2010).
Der Terminus „älterer Patient“ wird jedoch, gerade bei der ALL, keineswegs einheitlich definiert. Historisch wurde das Alter über 35 Jahren als ungünstiger Prognosefaktor definiert (Hoelzer et al.
1988). Heute werden international unterschiedliche Altersgrenzen für die Anwendung verschiedener Therapieprotokolle und die Umsetzung der Stammzelltransplantation definiert. Im Folgenden wird auf die Altersgrenze von 55 Jahren Bezug genommen, die im Kontext der Deutschen Studiengruppe für die ALL des Erwachsenen (GMALL) als Altersgrenze für die Anwendung von Protokollen für „ältere“ ALL-Patienten definiert ist. Diese Definition ist jedoch nicht rigide zu verstehen, sie sollte sich nicht ausschließlich am chronologischen Alter orientieren. Die Einschätzung, ob ein Patient für eine kurative Therapie geeignet ist oder nicht, sollte vielmehr anhand des biologischen Alters, also des Allgemeinzustands, der Komorbiditäten und Organfunktionen erfolgen, die sorgfältig zu evaluieren sind (Gökbuget
2013).
Prognose und Risikofaktoren
Die Prognose ist stark von der Wahl der Therapie abhängig (Dinmohamed et al.
2016; Toft et al.
2012; Juliusson et al.
2010; Gökbuget et al.
2008; Sancho et al.
2007; Robak
2004; Pagano et al.
2000; Delannoy et al.
1997; Bassan et al.
1996). Um dieser schwierigen Entscheidung gerecht zu werden, für die es ausreichend klinische Erfahrung mit den entsprechenden antineoplastischen Regimes bedarf, ist eine Vorstellung in einem Zentrum zu empfehlen.
Einer der wichtigsten Prognosefaktoren
bei der ALL des Erwachsenen ist das Alter (Rousselot und Delannoy
2011; Rowe et al.
2005; Robak
2004; Legrand et al.
1997; Guru Murthy et al.
2015). Das 5-Jahres-Überleben liegt bei Patienten >65 Jahren historisch bei <10 % (Dinmohamed et al.
2016; Juliusson et al.
2010; Moorman et al.
2010; Pagano et al.
2000). Dies kann verschiedenen Problemen geschuldet sein, die insbesondere bei älteren Patienten eine Rolle spielen. Die erfolgreiche Therapie der ALL basiert weitgehend auf einer Dosis- und Zeit-intensiv applizierten Chemotherapie. Komorbiditäten und Komedikationen treten bei älteren Patienten häufiger auf; es besteht darüber hinaus eine erhöhte Morbidität und Mortalität bedingt durch die Chemotherapie (Gökbuget
2013). Besonders relevant ist dabei die hohe Frühmortalität unter Induktionstherapie, die bei 10–20 % liegen kann. Dosisreduktionen und uneinheitliche Therapieschemata erschweren Prognosen und die optimale Therapiedurchführung. Einer Therapieoptimierung steht die niedrige Rate an älteren Patienten, die in klinische Studien eingeschlossen werden, entgegen (Dinmohamed et al.
2016; Gökbuget
2013).
Darüber hinaus nimmt mit zunehmendem Alter die Inzidenz prognostisch günstiger Subgruppen ab und die Häufigkeit ungünstiger biologischer Subgruppen zu (Gökbuget
2013). Dazu gehört auch Ph/BCR-ABL positive (Ph+) ALL, die historisch erheblich zu der ungünstigen Prognose älterer ALL-Patienten beigetragen hat, heute aber dank molekular zielgerichteter Behandlung mit Tyrosinkinaseinhibitoren nicht mehr mit einer schlechteren Prognose assoziiert ist (Hoelzer und Gökbuget
2012). Ein schlechter Status zur Diagnosestellung (ECOG >2) sowie Komorbiditäten stellen ebenfalls ein Risiko dar (Gökbuget et al.
2012c). Auch eine sekundär aufgetretene Erkrankung nach anderen Malignomen ist mit einer schlechteren Prognose vergesellschaftet (Giri et al.
2015).
Bei ALL-Patienten aller Altersgruppen ist das individuelle Ansprechen auf die Therapie ein entscheidender Risikofaktor; in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass das Persistieren der Erkrankung auf molekularem Niveau (entsprechend einem positiven Ergebnis der Messung eines molekularen Markers) mit einem sehr hohen Rezidivrisiko und einem ungünstigen Gesamtüberleben assoziiert ist (Gökbuget et al.
2012a).
Einschätzung der Therapiefähigkeit
Die Entscheidung, ob ein älterer Patient in einer mäßig-intensiven Chemotherapie und ggf. sogar einer Stammzelltransplantation
gewachsen ist oder ob eine modifizierte antineoplastische Therapie für gebrechliche Patienten zur Anwendung kommen soll, ist hoch komplex und wird dadurch zusätzlich erschwert, dass Patienten im Rahmen der Erstdiagnose häufig einen krankheitsbedingt stark reduzierten Allgemeinzustand aufweisen. Hier ist es entscheidend, zu einer fundierten Einschätzung des Zustandes des Patienten vor Beginn der Erkrankung zu kommen, was unter Umständen nicht trivial ist. In diesem Zusammenhang kommt der ausführlichen Eigen- und Fremdanamnese sowie dem ausführlichen Aufklärungsgespräch, bestenfalls im Beisein der nächsten Angehörigen, eine sehr hohe Bedeutung zu. Zusätzlich sind validierte Scores hilfreich, die hier routinemäßig zur Anwendung kommen sollten; die GMALL empfiehlt den Charlson Score für Komorbiditäten. Eine umfassende geriatrische Einschätzung (
comprehensive geriatric assessment, CGA) sollte ebenfalls möglichst systematisch, sofern im klinischen Alltag möglich, erfolgen (Gökbuget
2013).
Diagnostik
Zu Beginn der Erkrankung ist die sorgfältige und lückenlose Diagnostik
für die weitere Therapie und Prognose des Patienten von größter Wichtigkeit. Dazu gehören neben der für die Diagnose unerlässlichen Blut- und Knochenmarkuntersuchung mit Zytomorphologie, Immunphänotypisierung und
Zytogenetik sorgfältige klinische und apparative Untersuchungen zur Detektion z. B. von Infekten oder relevanten Begleiterkrankungen, wie z. B. beginnende
Herzinsuffizienz (Hoelzer et al.
2016). Die Diagnostik der minimalen Resterkrankung (MRD) ist ebenfalls schon von der Diagnosestellung an von essentieller Bedeutung. Individuelle Marker müssen anhand des leukämischen Primärmaterials identifiziert werden, das zu diesem Zweck in ein Referenzlabor geschickt werden muss. MRD-Bestimmungen erlauben im weiteren Verlauf den sensitiven Nachweis (bis 0,01 %) von residuellen Leukämiezellen im Status der kompletten, hämatologischen Remission. Bei allen Patienten sollte zusätzlich zur Bestimmung der hämatologischen Remission auch die molekulare Remission bestimmt werden. Patienten mit molekularem Therapieversagen nach der ersten intensiven Therapie sind aufgrund ihres hohen Rezidivrisikos Kandidaten für experimentelle, zielgerichtete Therapie und ggf. eine allogene Stammzelltransplantation, sofern der Patient hierfür geeignet erscheint (Gökbuget et al.
2012a). Das Gleiche gilt für Patienten mit molekularem Rezidiv. Sofern eine Stammzelltransplantation
als Therapieoption nicht grundsätzlich auszuschließen ist, sollte eine HLA-Typisierung sowie die Typisierung etwaiger Geschwister bereits zur Diagnosestellung erfolgen (Hoelzer et al.
2016).
Vorphase
Die empfohlene Vorphasetherapie
zur Senkung der Tumormasse besteht aus einer Kombination von Dexamethason (10 mg/m
2 auf 3 Tagesdosen verteilt an d1-d5) und Cyclophosphamid an den Tagen 3–5. Aufgrund des Risikos eines
Tumorlysesyndroms wird die parallel Gabe von Allopurinol sowie die i.v.-Hydrierung empfohlen. Die Gabe von Rasburicase kann unter Umständen erforderlich sein.
Cave: Insbesondere bei hohen Leukozytenzahlen ist auf die Entwicklung eines
Tumorlysesyndroms zu achten.
Zusätzlich erfolgt im Kontext der diagnostischen Liquorpunktion erstmalig die Gabe von intrathekaler Chemotherapie, meist als Monotherapie mit
Methotrexat. Innerhalb des Zeitraums der Vorphasetherapie sollte die Knochenmarkdiagnostik
, insbesondere die Feststellung des Immunphänotyps, die CD20-Expression und die molekularbiologische Diagnostik auf BCR-ABL, fertiggestellt werden.
Cave: Nach der Vorphase unterscheiden sich die weitere Therapie der B- und T-Vorläufer-ALL sowie der reifen B-ALL, der Ph + und der Ph-negativen Erkrankung. Diese Diagnostik (Immunphänotypisierung und molekularbiologische Untersuchung auf BCR-ABL) sollte bis zu Beginn der Induktionschemotherapie abgeschlossen sein.
Altersadaptierte intensive Chemotherapie
Bei Patienten in gutem Allgemeinzustand vor Beginn der Leukämie-assoziierten Symptome und im Alter von bis zu 75 Jahren sollte eine intensive Chemotherapie
(entsprechend der dosisreduzierten Protokolle für ältere Patienten) mit kurativen Therapieansatz angestrebt werden. Die Komorbiditäten sollten hier entsprechend berücksichtigt werden (s. Abschn.
3). Da das frühe Erreichen einer kompletten Remission (CR)
einer der wichtigsten prädiktiven Marker für das Überleben des Patienten ist, spielt die Induktionschemotherapie eine entscheidende Rolle; bei den älteren Patienten kommt eine hohe Wahrscheinlichkeit hinzu, vor oder während der Induktionschemotherapie zu versterben (15–23 % [0–42 %], Gökbuget
2013), was aufzeigt, wie anspruchsvoll das Management in dieser frühen Phase der Therapie ist. Es sollte jedoch bedacht werden, dass auch Patienten, die in nicht-intensiven palliativen Protokollen behandelt werden, eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit haben, früh unter Therapie zu versterben (Early-Death-Rate 24 %, [18–42 %], Gökbuget
2013); außerdem sollte in Betracht gezogen werden, dass die Frühsterblichkeit innerhalb der alters-adaptierten Protokolle in den letzten Jahren durch optimierten Einsatz der zytostatischen Substanzen sowie Verbesserung der Supportivtherapie deutlich gesenkt werden konnte. Ein Ansatz ist hier der Einsatz von liposomalem Cytarabine zur ZNS-Prophylaxe im Rahmen der GMALL-Induktionstherapie bei älteren Patienten (Gökbuget et al.
2012c).
Nach der Induktionschemotherapie erfolgt die konsolidierende intensive Chemotherapie, die in Teilen ambulant erfolgen kann. Danach folgt eine Erhaltungstherapie, die ambulant durchgeführt wird und in der Regel zwei Jahre dauert. Die optimale Therapiedauer erstreckt sich also auf 2–3 Jahre.
Induktionschemotherapie
In der Regel kommt bei Ph-negativen Erkrankungen eine Induktionschemotherapie
mit dem Ziel einer kompletten hämatologischen Remission zur Anwendung, die aus Vincristin, Corticosteroiden und Anthrazyklinen besteht. Die GMALL-Studiengruppe empfiehlt die Anwendung von Idarubicin aufgrund der reduzierten hepatischen und kardialen Toxizität gegenüber Doxorubicin (Gökbuget
2013). Eine Dosisreduktion der Anthrazykline bzw. der Reduzierung der einzelnen Anthrazyklingabe oder auch der Verzicht auf die Anthrazyklingabe kann in Einzelfällen erforderlich sein, sollte jedoch nur in absolut begründeten Fällen erfolgen (sehr stark reduzierter Allgemeinzustand oder bereits eingeschränkte Ejektionsfraktion <50 %). Entsprechend der Protokolle der GMALL folgt dieser ersten Phase der Induktionschemotherapie eine zweite Phase mit Cyclophosphamid und Cytarabin. Hier ist ebenfalls die myelosuppressive Wirkung als schwerwiegendste unerwünschte Wirkung anzuführen. Zusätzlich kann es zu schweren Schleimhauttoxizitäten kommen, wie der Cytarabin-induzierten Konjunktivitis.
G-CSF parallel zu der Chemotherapie sollte frühzeitig zur Anwendung kommen. Im Kontext der Induktionschemotherapie ist eine Neutropeniedauer von >10 Tagen zu erwarten. Aufgrund der zu erwartenden Hepatotoxizität der Therapie sowie aufgrund einer möglichen Potenzierung der Toxizität der Vincaalkaloide wird jedoch von einer Azolprophylaxe abgeraten (Yang et al.
2015).
Bei der Ph-negativen B-Vorläufer- oder reifer B-ALL mit positivem CD20-Status sollte zusätzlich die Gabe von Rituximab erfolgen (Hoelzer et al.
2014; Maury et al.
2016). Da insbesondere ältere Patienten auch in kompletter Remission noch an einer erhöhten Mortalität aufgrund von Infektionen leiden, sollte grundsätzlich auf eine sorgfältige und effektive Supportivtherapie während der gesamten Behandlungsdauer geachtet werden (Gökbuget
2013; Thomas et al.
2010). Parallel dazu erfolgt eine regelmäßig zu wiederholende intrathekale Chemotherapiegabe, therapeutisch oder prophylaktisch (s. Abschn.
9).
Für ältere Patienten mit Burkitt-Leukämie oder Burkitt-Lymphom wird eine alternative, intensive Blocktherapie mit intensivem Einsatz von
Methotrexat und fraktionierten Alkylanzien empfohlen (Hoelzer et al.
2014).
Konsolidierende Chemotherapie
Nach der Induktionschemotherapie erfolgt eine konsolidierende Chemotherapie bestehend aus abwechselnden Therapiezyklen mit intermediär-dosiertem
Methotrexat (adaptiert an Alter und Nierenfunktion) und Asparaginase, hoch dosiertem Cytarabin sowie eine Reinduktionstherapie. Die Asparaginasetherapie ist ein entscheidender Bestandteil, da die Aminosäure
Asparagin für lymphatische Blasten essentiell ist. Relevante Nebenwirkungen sind
anaphylaktische Reaktionen sowie Hepatotoxizität. Da Asparaginase-assoziierte Toxizitäten vorwiegend in der Induktionstherapie auftreten, wird die Substanz erst in der Konsolidationstherapie
eingesetzt (Patel et al.
2016). Die Fibrinogen- und Antithrombinspiegel sollten unter Asparaginasetherapie regelmäßig bestimmt werden und ggf. sollte eine Substitution erfolgen. Auch das Risiko von Pankreastoxizität, Hyperlipidämien und Hyperglykämien sollte im Blick behalten werden. Die Asparaginase- und Cytarabin-Dosis sollten in altersadaptierten Regimes verabreicht werden.
Bei CD20-positiver B-Linien-ALL erfolgt vor jedem Zyklus die Gabe von Rituximab. Die intrathekale Therapie wird ebenfalls während der Konsolidierung fortgesetzt.
Erhaltungstherapie
Nach Abschluss der Konsolidierungszyklen erfolgt die orale Erhaltungstherapie
mit
Methotrexat und 6-Mercaptopurin, die entsprechend der Hämatotoxizität dosisangepasst wird. Währenddessen wird die intrathekale Therapie regelmäßig fortgeführt.
Chemotherapie der Philadelphia/BCR-ABL positiven Erkrankung
Die Ph + ALL wird nach Beendigung der Vorphasetherapie grundlegend anders als die Ph-negative Erkrankung therapiert. Es ist grundsätzlich entscheidend, einen Tyrosinkinaseinhibitor (TKI)
zu Beginn der Therapie hinzuzunehmen, da damit die Rate an erreichten kompletten hämatologischen Remissionen deutlich >90 % ansteigen im Vergleich zu 50 % mit konventioneller Chemotherapie in dieser Gruppe, während die Toxizität wesentlich geringer ist (Ottmann et al.
2007; Yanada et al.
2006). Eine Monotherapie mit Imatinib ist in diesem Kollektiv eine Möglichkeit der Induktionstherapie, in der Konsolidierung sollte die konventionelle Chemotherapie zusätzlich gegeben werden (Ottmann et al.
2007; s. Abschn.
7.2 und
7.3). Die Kombination von konventioneller Chemotherapie und Imatinib ist in der Konsolidierung im Allgemeinen gut durchführbar (Fielding et al.
2014; Ottmann et al.
2007). Auch in der Erhaltungstherapie erfolgt weiterhin die Gabe des Tyrosinkinaseinhibitors.
Neuere Studien haben auch Zweitgenerations-TKI
wie Dasatinib und Nilotinib untersucht, die ebenfalls eine Option zur Therapie der Ph + ALL darstellen. Dasatinib ist im Rahmen der EWALL-Ph-01-Studie auch in Kombination mit einer Induktionschemotherapie
aus Vincristin, Dexamethason und intrathekaler Therapie erprobt sowie im Rahmen der nachfolgenden Konsolidierungstherapie; es zeigte sich eine 96 % CR-Rate bei einer Therapie-assoziierten Mortalität von 12 % (Rousselot et al.
2016). In dieser Studie lag das 5-Jahres-Überleben bei 36 %. Fast alle Rezidivpatienten zeigten eine Resistenz-induzierende T315I-Mutation. Eine weitere Studie der EWALL-Gruppe mit der gleichen Chemotherapie in Kombination mit Nilotinib wurde ebenfalls durchgeführt. Auch hier wurden sehr hohe CR-Raten und ein vielversprechendes Gesamtüberleben beobachtet (Ottmann et al.
2013). Auch für Ponatinib in Kombination mit Chemotherapie wurde eine hohe Remissionsrate und ein günstiges Langzeitüberleben berichtet (Jabbour et al.
2015). Jedoch ist das Nebenwirkungsprofil der Substanz insbesondere aufgrund der gehäuft auftretenden kardiovaskulären Komplikationen nicht unproblematisch und optimale Dosierungsschemata müssen noch definiert werden.
Zweitgenerations-TKI sind für die Erstlinientherapie der ALL nicht zugelassen und die Ergebnisse im Hinblick auf Ansprechen, molekulares Ansprechen und Verträglichkeit zeigen bisher keine eindeutigen Vorteile gegenüber der Kombinationstherapie mit Imatinib. In der GMALL-Studiengruppe wird daher als Standardbehandlung eine Kombination von Imatinib, Vincristin und Dexamethason in der Induktion gefolgt von einer mäßig intensiven Konsolidation mit Imatinib und Chemotherapie empfohlen. Bei allen Patienten sollte konsequent die minimale Resterkrankung verfolgt und eine Stammzelltransplantation erwogen werden. Bei ungenügendem Abfall der MRD sollte eine Umstellung des TKI erwogen werden.
Die unerwünschten Wirkungen der Tyrosinkinaseinhibitoren sind je nach Substanz unterschiedlich; allerdings sind die unerwünschten Wirkungen deutlich geringer als bei einer Behandlung mit konventioneller Chemotherapie. An nicht-hämatologischen Nebenwirkungen sind ein Anstieg der Leberwerte, Übelkeit und Erbrechen sowie Diarrhoen möglich sowie Infektkomplikationen (Ottmann et al.
2007). Nilotinib, Imatinib und Ponatinib können eine toxische
Pankreatitis verursachen, Dasatinib verursacht unter Umständen Pleuraergüsse sowie Pleuritiden, bei langfristiger Einnahme kann es zu einer
pulmonalen Hypertonie kommen (Guignabert et al.
2016; Rousselot et al.
2016). Kardiovaskuläre Komplikationen spielen v. a. bei der Therapie mit Ponatinib eine Rolle (Jabbour et al.
2015). Die Entscheidungsfindung zum Einsatz von TKI kann gerade bei älteren, komorbiden Patienten herausfordernd sein.
Wichtig ist bei der Therapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren, dass diese Substanzklasse über Cytochrom-P-450-Enzyme, speziell CYP3A4, verstoffwechselt wird, so dass die Komedikation sehr sorgfältig geprüft werden muss; dies gilt insbesondere für viele Antiinfektiva wie z. B. Azole und Markolidantibiotika.
Cave: Tyrosinkinaseinhibitoren werden häufig über CYP3A4 verstoffwechselt. Bei der Therapieentscheidung und -durchführung müssen Komorbiditäten und Begleitmedikationen berücksichtigt werden.
Supportivtherapie
Die Supportivtherapie
sollte bereits zu Therapiebeginn möglichst optimiert werden, insbesondere die Behandlung von Infektionen, die Gabe von Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentraten sowie der Einsatz von
G-CSF prophylaktisch oder bei Grad IV-Neutropenie (Granulozyten <500/μl). Gerade ältere Patienten erleiden eine hohe Therapie-assoziierte Mortalität (s. Abschn.
7), die in der Mehrzahl der Fälle durch Infektionen verursacht wird. Eine PCP-Prophylaxe sollte für die gesamte Dauer der Therapie durchgeführt werden; bei rezidivierenden viralen Infekten ist eine Aciclovir Prophylaxe zu empfehlen. Eine antibiotische Prophylaxe sollte bei schwerer Neutropenie eingeleitet werden (Villafuerte-Gutierrez et al.
2014; Gafter-Gvili et al.
2005). Eine antimykotische Azol Prophylaxe wird zumindest in der Induktionstherapie nicht als Standard empfohlen (Yang et al.
2015).
Therapie des gebrechlichen Patienten
Sollte der Patient nicht für eine mäßig intensive Chemotherapie geeignet sein, gestaltet sich die Therapieempfehlung
schwieriger, da diese Subgruppe in klinischen Studien deutlich unterrepräsentiert ist. Da sich die Prognose, sofern keine intensive Chemotherapie in altersadaptierter Form mehr möglich ist, signifikant verschlechtert und das mediane Überleben dieser Subgruppe nur noch wenige Monate beträgt (3–10 Monate, Pagano et al.
2000; Legrand et al.
1997), sollte die Entscheidung behutsam mit Patient und nächsten Angehörigen besprochen werden und die weitere Therapie, sofern irgend möglich, ambulant erfolgen.
Der Schwerpunkt sollte auf ALL-typische Substanzen gelegt werden. So empfiehlt die GMALL-Studiengruppe ein Regime mit Steroiden und Vincristin sowie optionaler Gabe von Anthrazyklinen. Sollte eine hämatologische komplette Remission erreicht werden, sollte eine orale Erhaltungstherapie mit
Methotrexat und 6-Mercaptopurin angeschlossen werden. Je nach Verträglichkeit kann auch die Induktionschemotherapie als Reinduktion wiederholt werden. Zusätzlich zur Erhaltungstherapie kann eine Vincristingabe alle zwei Monate erfolgen. Bei Auftreten von Neurotoxizität kann Cyclophosphamid an Stelle von Vincristin verabreicht werden.
Als Minimalanforderung an die Diagnostik sollte auch in dieser Subgruppe die Bestimmung der BCR-ABL-Mutation erfolgen; bei Ph + positiven Patienten ist nämlich auch in dieser Subgruppe die Therapie mit einem Tyrosinkinaseinhibitor möglich und damit besteht, selbst als Monotherapie, eine sehr gute Chance auf das Erreichen eine kompletten Remission (Ottmann et al.
2007). Diese Therapie ist ambulant sehr gut durchführbar und sollte daher keinem Patienten ohne medizinische Begründung vorenthalten werden.
Stammzelltransplantation
Die Stammzelltransplantation (SZT)
ist in den letzten Jahren immer mehr Patienten zugänglich gemacht worden, so dass mittlerweile auch ältere Patienten immer häufiger von dieser Therapieoption profitieren können (Dinmohamed et al.
2016). In Studien und retrospektiven Populationsanalysen konnte gezeigt werden, dass sie auch für ausgewählte ältere Patienten bis 70 Jahre eine Therapieoption darstellen kann (Dinmohamed et al.
2016; Takashima et al.
2015; Mohty et al.
2010). Grundsätzlich sollte die Transplantation bei möglichst niedriger Tumorlast erfolgen, da dies das Rezidivrisiko zusätzlich senkt. Bei älteren Patienten oder Patienten mit relevanten Komorbiditäten sollte dann anstelle der myeloablativen Konditionierung eine reduzierte Konditionierung (
reduced intensity conditioning, RIC) eingesetzt werden (Solomon et al.
2016; Abdul Wahid et al.
2014; Mohty et al.
2010). Auch hier liegen Empfehlungen der GMALL-Studiengruppe vor.
Grundsätzlich sollte bei allen Ph + Patienten eine Transplantationsindikation
geprüft werden, sofern keine relevanten Kontraindikationen bestehen. Selbst in der Ära der Tyrosinkinaseinhibitoren ist das Gesamtüberleben dieser Höchstrisikogruppe aufgrund des hohen Rezidivrisiko ohne eine allogene SZT deutlich schlechter (4-Jahres-Überleben ohne allogene SZT 19 % vs. 39 % mit Stammzelltransplantation nach reduzierter Konditionierung, Fielding et al.
2014). Eine weitere Indikation zur allogenen SZT stellt die fehlende komplette molekulare Remission dar (Bassan et al.
2009; Gökbuget et al.
2012a). Es wird empfohlen, für die SZT geeignete Patienten bei persistierendem Nachweis des molekularen Markers nach der 1. Konsolidierung einer SZT zu unterziehen, da diese Therapie das Rezidivrisiko deutlich senkt. Vor der SZT sollte der Versuch einer experimentellen, zielgerichteten Therapie gemacht werden, um die Tumorlast zu senken.
Darüber hinaus ist es schwierig, für ältere Patienten eine rigide Empfehlung zur SZT abzugeben; natürlich darf die hohe Therapie-assoziierte Morbidität und Mortalität nicht außer Acht gelassen werden (Marks et al.
2008; Fielding et al.
2014). Bei geeigneten Patienten (Alter <70 Jahren, guter Allgemeinzustand, wenig Komorbiditäten) sollte allerdings schon zur Erstdiagnose eine HLA-Typisierung und Spendersuche erfolgen, da sich die Transplantationsindikation im Therapieverlauf ergeben kann (MRD-Therapieversagen, MRD-Rezidiv). Sollten Zweifel bezüglich der Eignung zur Transplantation bestehen, ist es ratsam, den Patienten an einem Transplantationszentrum zur Evaluation der Transplantationsindikation und -eignung vorzustellen.
Dank neuer Therapiekonzepte ist es heutzutage möglich, auch nach einem Rezidiv eine zweite komplette Remission zu erzielen und den Patienten dann einer allogenen SZT zuzuführen (Gökbuget et al.
2012b).
Weitere Therapieoptionen
Neben der bereits beschriebenen Rituximabtherapie und der Therapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren haben auch weitere zielgerichtete Therapien in die Behandlung der ALL Einzug gehalten. Insbesondere Immuntherapien
gegen die bei B-Vorläufer-ALL häufig exprimierten Oberflächen-Antigene
CD19 und CD22 wurden umfangreich klinisch getestet (Kantarjian et al.
2012,
2016; Topp et al.
2011,
2012,
2014). Mit dem bispezifischen
Antikörper Blinatumomab wird das Ziel verfolgt eine T-Zell-vermittelte Lyse von CD19-positiven B-Lymphoblasten zu induzieren. Im hämatologischen Rezidiv liegen die CR-Raten bei etwa 45 % mit einem medianen Überleben von 6 Monaten (Topp et al.
2015). Sowohl Wirksamkeit als auch Toxizität sind mit der Tumorlast assoziiert. Wird Blinatumomab bei einem molekularen Therapieversagen oder Rezidiv eingesetzt, liegen die molekularen Ansprechraten bei fast 80 % und es werden vielversprechende Langzeit-Überlebensraten berichtet (Gökbuget et al.
2015; Kantarjian et al.
2016). Sowohl die Wirksamkeit als auch die Verträglichkeit von Blinatumomab unterscheidet sich nicht zwischen älteren und jüngeren Patienten (Jabbour et al.
2016).
Eine weitere zielgerichtete Therapieoption bei rezidivierter Erkrankung stellt der Calicheamicin-konjugierte anti-CD22-Antikörper Inotuzumab dar. In einer randomisierten Studie im Vergleich zu Hochdosis-Cytarabin-basierter Chemotherapie wurden zytologische Remissionsraten von fast 80 % erreicht, im Vergleich zu 29 % für die Standardtherapie (Kantarjian et al.
2016).
Bei Patienten mit molekularem Versagen einer T-ALL kann das T-Zell-spezifische Purinanalog Nelarabin eingesetzt werden.
Der optimale Einsatz der neuen Immuntherapien muss noch definiert werden. In der Zukunft plant die GMALL-Studiengruppe innovative Studien für ältere Patienten, in denen eine dosisreduzierte Chemotherapie mit einer Immuntherapie kombiniert wird. Durch solche Ansätze kann sowohl die Frühmortalität als auch die Rezidivrate gesenkt werden.
Klinische Studien und Expertennetzwerke
Für die ALL älterer Patienten existiert keine Standardbehandlung. Daher sollten möglichst alle Patienten im Rahmen von klinischen Studien behandelt werden. Die Therapieoptimierungsstudien der GMALL-Studiengruppe verbinden genaue Therapieanweisungen auf dem aktuellen Stand der Forschung mit einer intensiven Beratung und einer zeitnahen Auswertung der Daten und tragen so erheblich zur Qualität der Versorgung bei. Zur Erfassung aller Patienten, auch solcher, die die Einschlusskriterien für Studien nicht erfüllen, hat die GMALL-Studiengruppe ein Register gegründet, an dem sich alle behandelnden Kliniken beteiligten können. Hier werden auch Therapieempfehlungen für ältere Patienten bereitgestellt.
Informationen zu klinischen Studien, hämatologischen Zentren und Ansprechpartnern lassen sich über das Kompetenznetz „Akute und chronische Leukämien“ (
http://www.kompetenznetz-leukaemie.de Stand 15.03.2017) und dort unter der Rubrik „Ärzte – Studiengruppen – GMALL“ sowie im Studienregister auffinden.
Cave: Ältere ALL-Patienten sollten für die Gewährleistung einer qualitätsgesicherten Therapie im Rahmen von Studien oder analog zu Standardempfehlungen behandelt und die Therapie dokumentiert werden.