Einleitung
Die Anzahl der Ersterkrankungen an Krebs lag im Jahr 2012 bei etwa 478.000, unter den Männern bei etwa 252.100, unter den Frauen bei etwa 225.900. Von diesen waren über 90.000 80 Jahre und älter (
Robert Koch-Institut 2015), das durchschnittliche Neuerkrankungsalter lag unter den Frauen bei 69 Jahren, unter den Männern bei 70 Jahren. Die häufigsten Tumorlokalisationen bildeten bei Frauen Brustdrüse (30,8 %), Darm (12,6 %) und Lunge (8 %), bei Männern Prostata (25,3 %), Lunge (13,7 %) und Darm (13,4 %).
Infolge von Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung hat die Zahl der Neuerkrankungen zwischen 2002 und 2012 bei den Frauen um etwa zehn Prozent, bei den Männern um etwa 13 % zugenommen. Wenn man bei der Berechnung der Neuerkrankungsraten für diesen Zeitraum eine Altersstandardisierung vornimmt, dann ergibt sich zwischen 2002 und 2012 für die Frauen eine Zunahme der Neuerkrankungsrate um etwa fünf Prozent, für die Männer dagegen eine Abnahme um etwa vier Prozent. Dieser Geschlechtsunterschied ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich die Häufigkeit von Lungenkrebs bei Frauen und Männern unterschiedlich entwickelt hat.
Statistisch
betrachtet erkranken 51 % der Männer und 43 % der Frauen im Laufe ihres Lebens an Krebs. Frauen haben bis zum Alter von etwa 55 Jahren ein gegenüber den Männern erhöhtes Erkrankungsrisiko, danach kehrt sich dieser Geschlechtsunterschied um. Nach Berechnungen des
Robert Koch-Instituts (
2015) haben Frauen im Alter von 55 Jahren ein Risiko von 8,5 %, in den nächsten zehn Jahren an Krebs zu erkranken, und ein Risiko von 2,6 %, an einer Krebserkrankung zu sterben; im Alter von 65 Jahren liegt für die nächsten zehn Jahre das Neuerkrankungsrisiko von Frauen bei 12,9 %, das Sterberisiko bei 4,9 %, im Alter von 75 Jahren das Neuerkrankungsrisiko bei 16,3 %, das Sterberisiko bei 8,0 %. Für die Männer ergeben sich aus den Berechnungen im Alter 55 Jahren für den Zeitraum der nächsten zehn Jahre ein Neuerkrankungsrisiko von 10,3 % und ein Sterberisiko 3,8 %, im Alter von 65 Jahren ein Neuerkrankungsrisiko von 20,6 % und ein Sterberisiko von 7,9 %, im Alter von 75 Jahren ein Neuerkrankungsrisiko von 27,4 % und ein Sterberisiko von 12,9 %.
An einer Krebserkrankung verstorben sind 2012 101.206 Frauen und 119.717 Männer. Dabei waren unter den Frauen Brustdrüse (17,5 %), Lunge (14,8 %) und Darm (12,1 %), unter den Männern Lunge (24,8 %), Darm (11,5 %) und Prostata (10,8 %) die häufigsten Tumorlokalisationen. Die relative Bedeutung von Krebs als Todesursache ist nach den Angaben des
Robert Koch-Instituts seit 1990 nahezu unverändert; bei den Frauen lassen sich etwa 22 % aller Todesfälle, bei den Männern etwa 28 % aller Todesfälle auf Krebserkrankungen zurückführen. Dagegen zeigen sich über die letzten 30 Jahre deutliche Verbesserungen in den Überlebenschancen der Erkrankten. Hier wirkt sich vor allem aus, dass sich die Prognose für bösartige Tumoren der Brustdrüse, des Darms und der Prostata deutlich verbessert hat. Hinzu kommt, dass sich insbesondere bei Männern deutliche Verschiebungen im Lokalisationsspektrum ergeben haben: diese sind heute vergleichsweise seltener von Tumoren in Magen und Lunge und vergleichsweise häufiger von Tumoren in Darm und Prostata betroffen. Von jenen Frauen, die 2011 und 2012 an Krebs erkrankten, werden nach Berechnungen des Robert Koch-Instituts etwa 67 % die nächsten fünf Jahre überleben, der entsprechende Anteil wird für die 2011 und 2012 erkrankten Männer mit 62 % angegeben.
Unabhängig davon, dass die Mehrzahl der Krebserkrankungen bei älteren Menschen diagnostiziert wird, ist über die Biologie und den Verlauf von Krebserkrankungen im Alter vergleichsweise wenig bekannt. In klinische Studien wurden nur selten Patienten mit einem Alter von 70 oder 75 Jahren aufgenommen (Dale et al.
2012; Wildiers et al.
2013), obwohl gerade bei alten Menschen Begleiterkrankungen und Gebrechlichkeit (
Frailty) neben der
Tumorbiologie und dem Ansprechen auf Behandlungsansätze wichtige Kriterien für Behandlungsentscheidungen, Prognose, medizinische und psychosoziale Versorgung sowie psychoonkologische Interventionen sind (Fontana et al.
2014; Götze et al.
2016; Köhler et al.
2015; Kunkler et al.
2014; Mandelblatt et al.
2014; Mehnert et al.
2011). Durch ein umfassendes
geriatrisches Assessment können (a) Beeinträchtigungen, die im Kontext von routinemäßigen Anamnesen und körperlichen Untersuchungen nicht identifiziert werden, erkannt, (b) iatrogene Schädigungen vorhergesehen, (c) Überlebenswahrscheinlichkeiten bei vielen Tumorlokalisationen prognostiziert, (d) Entscheidungen über die Art und Intensität der Behandlung optimiert werden (Clough-Gorr et al.
2010; Decoster et al.
2015; Gajra et al.
2016; Soubeyran et al.
2012; Wildiers et al.
2014). In einer Überarbeitung ihrer 2005 veröffentlichten Empfehlungen zum geriatrischen Assessment bei älteren Krebspatienten empfiehlt die
International Society of Geriatric Oncology (SIOG), im Kontext eines solchen Assessments die folgenden, in einer Panelbefragung von Experten in geriatrischer Onkologie konsentierten Bereiche zu bewerten: funktioneller Status, Komorbidität, Kognition, Mental Health-Status, Fatigue, sozialer Status und soziale Unterstützung, Ernährung sowie vorliegende
geriatrische Syndrome (Wildiers et al.
2014). Zur Identifikation von Patienten, die von einem umfassenden geriatrischen Assessment profitieren, liegen mittlerweile mehrere evaluierte Screening-Verfahren vor (Decoster et al.
2015).
Psychosoziale Belastungen
Sowohl aus der Erkrankung als auch aus dem Verlauf des Alternsprozesses ergeben sich im Einzelfall zum Teil sehr unterschiedliche Aufgaben und Anforderungen für die Betroffenen. Krebsdiagnosen
können als prototypisch für traumatisierende kritische Lebensereignisse angesehen werden (Filipp
1992,
1999). Dies nicht nur, weil die Diagnose die Betroffenen in der Regel unvorhergesehen und unvorbereitet trifft und der weitere Verlauf der Erkrankung für die Patienten (und nicht selten auch für den Arzt) in hohem Maße als ungewiss und unkontrollierbar erscheint. Lebensbedrohliche Erkrankungen können Ziele, Pläne und Vorhaben grundlegend in Frage stellen. Zum einen können diese durch eine veränderte Zeitperspektive wie auch durch das subjektive Gewahr werden von begrenzter Restlebenszeit, Endlichkeit und Endgültigkeit als nicht mehr erreichbar erlebt werden. Zum anderen werden sie vielleicht vor dem Hintergrund einer veränderten Lebenssituation als nicht mehr wichtig, nicht mehr sinnvoll, nicht mehr erstrebenswert wahrgenommen. Nicht zuletzt kann die Diagnose zentrale Aspekte der Selbstsicht, insbesondere auch „positive Illusionen“ von Handlungsfähigkeit, Unverwundbarkeit und Unsterblichkeit (Filipp
1999), und den Glauben, in einer „gerechten Welt“ zu leben, erschüttern (Janoff-Bulman
2010; Lerner
1980).
Aus (psycho-)gerontologischer Perspektive nimmt im Alter vor dem Hintergrund zunehmender Verluste in körperlichen, psychisch-geistigen, sozialen und zeitlichen Ressourcen (Brandtstädter
2007a) sowie erhöhter körperlicher, kognitiver, sozialer und emotionaler Verletzlichkeit (Kruse
2017a) die Beschäftigung des Menschen mit der Begrenztheit des eigenen Lebens zu. Die Integration gelebten und ungelebten Lebens im Lebensrückblick wird zunehmend zur Entwicklungsaufgabe (Erikson
1998; Kruse
2012). Vor dem Hintergrund dieser Thematik lassen sich Introversion mit Introspektion, Offenheit und Wissensweitergabe (im Sinne der Verwirklichung von Generativität und symbolischer Immortalität) als Potenziale des hohen Alters beschreiben, die aus einer zunehmenden Verletzlichkeit resultieren bzw. in der Auseinandersetzung mit dieser entwickelt werden und die die Verarbeitung und Bewältigung von Beeinträchtigungen und Verlusten positiv beeinflussen (Kruse
2017a). Arbeiten zur sozioemotionalen Selektivitätstheorie
(Carstensen und Lang
2007) machen deutlich, dass ältere Menschen im Vergleich zu jüngeren in ihren sozialen Beziehungen in stärkerem Maße emotional bedeutsame Ziele verfolgen und Beziehungen zunehmend unter dem Aspekt der Möglichkeiten, diese Ziele zu verwirklichen, auswählen und gestalten. Des Weiteren wurde gezeigt, dass sich auch bei jüngeren Menschen unter der Voraussetzung einer als in stärkerem Maße begrenzt erfahrenen Restlebenszeit infolge lebensbedrohlicher Krankheit ganz ähnliche Ziele und Präferenzen finden wie bei älteren Menschen. Auch diese Befunde machen deutlich, dass ältere Krebspatienten im Vergleich zu jüngeren unabhängig von Ressourcenverlusten, Funktionseinschränkungen und Komorbidität nicht notwendigerweise in stärkerem Maße mit psychosozialen Belastungen
konfrontiert sind. Zudem zeigen die Befunde, dass ältere Menschen genauso gut in der Lage sind, schwere, lebensbedrohliche Erkrankungen zu verarbeiten und zu bewältigen, auch wenn die im Kontext eines geriatrischen Assessments identifizierten Ressourcen und Beeinträchtigungen natürlich erhebliche Konsequenzen für Behandlungsentscheidungen, Therapietoleranz und Prognose haben.
Vor dem Hintergrund der epidemiologischen Daten, die deutlich machen, dass die meisten Krebspatienten im höheren Lebensalter stehen – das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei knapp 70 Jahren, die Neuerkrankungsrate ist bei über 65-Jährigen etwa zehnmal höher als bei unter 65-Jährigen, nahezu ein Fünftel ist zum Zeitpunkt der Diagnose mindestens 80 Jahre alt –, ist es bemerkenswert, dass sich die psychoonkologische Forschung lange vor allem mit jüngeren Patienten beschäftigt hat (Schneider et al.
2016; Lancker et al.
2014). Gleichwohl sind in jüngerer Zeit Studien erschienen, in denen ältere Menschen berücksichtigt und mit jüngeren Menschen verglichen werden. Diese weisen allerdings zum Teil widersprüchliche Ergebnisse aus. Während die Studien von Wada et al. (
2015) sowie von Tuinman et al. (
2015) dafür sprechen, dass ältere Krebspatienten – unabhängig von ihrem im Allgemeinen schlechteren funktionellen Status und Multimorbidität – im Vergleich zu jüngeren weniger starke Belastungen erleben und ein geringeres Depressionsrisiko haben, fanden Canoui-Poitrine et al. (
2015) unter älteren Patienten höhere Prävalenzraten für Depression sowie einen statistisch bedeutsamen positiven Zusammenhang zwischen den im geriatrischen Assessments
identifizierten Einschränkungen und Depression
. Nach Aarts et al. (
2015) geht ein höheres Depressionsrisiko älterer Krebspatienten auf die im Vergleich zu jüngeren weniger aktiven Bewältigungsstrategien
und eine höhere Vermeidungstendenz zurück.
Empirische Arbeiten zu psychosozialen Belastungen älterer Krebspatienten lassen sich in den meisten Fällen als Querschnittstudien kennzeichnen, die auf eine gleichzeitige Betrachtung der Situation nicht erkrankter Menschen vergleichbaren Alters wie auch jüngerer Krebspatienten verzichten. Entsprechend ist es oft nicht möglich, zwischen Effekten, die auf das Lebensalter zurückgehen, und solchen, die stärker mit dem Zeitpunkt der Erkrankung oder Diagnosestellung zusammenhängen, zu trennen. Gleichwohl liegt es nahe, dass der Alternsprozess und der Zeitpunkt der Erkrankung zum Teil unabhängige, zum Teil auch sich gegenseitig beeinflussende Effekte haben. Studien, in denen ältere Krebspatienten in ihrer körperlichen und psychologischen Situation mit Gleichaltrigen verglichen werden, sprechen eher dafür, dass die Erkrankung sowohl im körperlichen als auch im seelischen Bereich mit (zusätzlichen) Beeinträchtigungen einhergeht (Avis und Deimling
2008; Deckx et al.
2015); in einer neueren Studie von Zlatar et al. (
2015) fand sich lediglich ein Unterschied in körperlichen, nicht aber in psychologischen und kognitiven Funktionen. Stärkere Unterschiede finden sich in Ergebnissen zum Vergleich zwischen jüngeren und älteren Krebspatienten. Hier berichten jüngere Patienten in mehreren Studien eine höhere Belastung. Gleichzeitig finden sich in den für die Erkrankung charakteristischsten Symptomen, nämlich Antriebslosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten, geringe Unterschiede (Champion et al.
2014; Cataldo et al.
2013). Nach Deckx et al. (
2015) lassen sich die geringeren Belastungen älterer Krebspatienten möglicherweise auf eine weniger aggressive Tumortherapie, oder auch darauf, dass ältere Patienten Probleme zum Teil nicht berichten, weil sie zusätzliche Diagnostik und Therapie vermeiden wollen oder Symptome als normale Alterserscheinung deuten, zurückführen. Hinzu kommt, dass die verwendeten Messinstrumente (z. B. zur Erfassung von Depression) für ältere Patienten weniger sensitiv sind als für jüngere, weil sich bei diesen eine psychische Symptomatik seltener in Form von affektiven Zuständen und stärker in Form von Konzentrationsstörungen oder Fatigue präsentiert. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Zugehörigkeit zu jüngeren oder älteren Krebspatienten je nach Studie unterschiedlich definiert wird. Während die
International Society of Geriatric Oncology Krebspatienten ab einem Alter von 70 Jahren als „ältere“ ausweist, liegen in vielen Studien die entsprechenden
Cut-off-Werte bei 60 oder sogar 50 Jahren (Deckx et al.
2015).
In der Studie von Deckx et al. (
2015) wurden 125 Patienten im Alter von mindestens 70 Jahren und 196 Patienten im Alter 50 und 69 Jahren, bei denen jeweils in den letzten Monaten Brust- oder Darmkrebs diagnostiziert worden war, sowie 215 ältere Menschen (mindestens 70 Jahre), die im Zuge der Primärversorgung in sieben Kliniken in Belgien und den Niederlanden rekrutiert worden waren, über einen Zeitraum von einem Jahr in ihrer Entwicklung von Depression, kognitiver Leistungsfähigkeit und Fatigue miteinander verglichen. Depression wurde mit Hilfe der
Geriatric Depression Scale, kognitive Leistungsfähigkeit (in Form von subjektiven Konzentrations- und Gedächtnisproblemen in der vorhergehenden Woche) und Fatigue
wurden mit Hilfe von visuellen Analogskalen erfasst. In logistischen
Regressionsanalysen wurden der funktionelle Status, die gewählte Krebstherapie und die Komorbidität als Risikofaktoren für die drei genannten abhängigen Variablen (Depression, kognitive Leistungsfähigkeit, Fatigue) berücksichtigt. Die Wahl des einjährigen Beobachtungszeitraums wird von den Autoren mit einem Wechsel von der Sekundär- zur Primärversorgung (in der Regel der Übernahme der Versorgung durch den Hausarzt) begründet, der früheren Studien zufolge mit zunehmenden psychosozialen Belastungen verbunden ist. Die Ergebnisse der Studie zeigen sowohl für die älteren als auch für die jüngeren Patienten eine Zunahme von Depression und eine Verschlechterung kognitiver Leistungen zum zweiten Messzeitpunkt (zwölf Monate nach Diagnosestellung). Im Ausmaß dieser Veränderungen findet sich kein bedeutsamer Unterschied. In Übereinstimmung mit früheren Studien unterscheiden sich die älteren Krebspatienten ein Jahr nach der Diagnose in ihren Depressionswerten erheblich von gleichaltrigen Patienten der Primärversorgung, bei denen keine Krebsdiagnose vorliegt. Der Anteil der Krebspatienten, für die auf der
Geriatric Depression Scale Werte oberhalb des Cut-off Wertes (5 auf der von 0 bis 15 reichenden Skala) ermittelt wurden, lag zu Beginn bei neun Prozent und hatte sich innerhalb des zwölfmonatigen Beobachtungszeitraums auf 18 % verdoppelt. In der Vergleichsgruppe wurde der Cut-off Wert zu Beginn von acht Prozent und nach zwölf Monaten von neun Prozent überschritten. Von den jüngeren Krebspatienten lagen zu Beginn elf Prozent und gegen Ende 19 % oberhalb des Cut-off Wertes. In der subjektiven Einschätzung von Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit veränderte sich der Anteil der Personen, die oberhalb des als kritisch definierten Cut-off Wertes lagen (67 auf der von 0–100 reichenden visuellen Analogskala), in der Gruppe der älteren Krebspatienten von 18 % zu Beginn auf 26 % nach einem Jahr; in der gleichaltrigen Vergleichsgruppe wurde zu beiden Messzeitpunkten ein Anteil von 22 % ermittelt, in der Gruppe der jüngeren Krebspatienten zu Beginn ein Anteil von 28 % und gegen Ende ein Anteil von 31 %. Die zu den beiden Messzeitpunkten ermittelten Unterschiede in der Einschätzung der kognitiven Leistungsfähigkeit zwischen den älteren Krebspatienten und der gleichaltrigen Vergleichsgruppe waren nicht signifikant. Im Merkmal Fatigue wurde ein Cut-off Wert von 4 (auf einer von 0–10 reichenden visuellen Analogskala) zu Beginn von 53 % der älteren Krebspatienten, 57 % der älteren Vergleichsgruppe und 52 % der jüngeren Krebspatienten überschritten, nach zwölf Monaten von 53 % der älteren Krebspatienten, 62 % der älteren Vergleichsgruppe und 60 % der jüngeren Krebspatienten. Die Unterschiede zwischen den Gruppen waren nicht signifikant. Logistische Regressionsanalysen legen die Deutung nahe, dass Krebserkrankung und Therapie im Beobachtungszeitraum zu einer Zunahme von Depressionswerten, nicht aber zu einer Verschlechterung der subjektiven kognitiven Leistungsfähigkeit und zu Fatigue beitragen. Bei der Interpretation ihrer Befunde verweisen die Autoren auf die Studie von Zlatar et al. (
2015), in der sich keine Hinweise auf bei älteren Krebspatienten gegenüber einer gleichaltrigen Vergleichsgruppe erhöhte Depressionswerte fanden. Die unterschiedlichen Ergebnisse sprechen nach Deckx et al. (
2015) dafür, dass die psychologische Situation der Patienten im ersten Jahr nach der Diagnose in starkem Maße durch die Erkrankung und deren Behandlung geprägt ist, während längerfristig Alternsprozesse an Bedeutung gewinnen. Die Tatsache, dass sich mit Blick auf Fatigue im Beobachtungszeitraum keine signifikanten Veränderungen fanden, spricht den Autoren zufolge dafür, dass dieses Merkmal weniger durch die Erkrankung und Behandlung als vielmehr durch sekundäre körperliche und psychische Belastungen sowie durch Komorbidität und kontinuierliche Medikation bei vorliegenden chronischen Erkrankungen beeinflusst ist.
Psychoonkologische Interventionen
Nach Schneider et al. (
2016) weisen die vorliegenden Ergebnisse darauf hin, dass sich ältere Patienten in ihren Belastungen und Bedürfnissen von jüngeren Patienten unterscheiden könnten und psychoonkologische Interventionen
entsprechend speziell für diese Personengruppe geplant und evaluiert werden müssten. Die Ergebnisse vorliegender Reviews und
Metaanalysen zur (altersunabhängigen) Wirksamkeit psychoonkologischer Interventionen lassen sich mit Schneider et al. (
2016) dahingehend zusammenfassen, dass diese geringe bis mittlere positive Effekte auf die
Lebensqualität der Patienten haben, während Belastungen, Angst und Depressivität eher nicht beeinflusst werden. Heron-Speirs et al. (
2013) gelangen in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass für diese Ergebnisse die Art der durchgeführten Intervention möglicherweise weniger bedeutsam ist als patientenbezogene Variablen. Auch dies weist auf die Notwendigkeit von Forschung zu Möglichkeiten und Grenzen psychoonkologischer Intervention bei älteren Patienten hin. Die Arbeit von Schweer et al. (
2011) kommt zu dem Ergebnis, dass die Akzeptanz psychoonkologischer Interventionen auch bei älteren Patienten relativ hoch ist: lediglich
Entspannungsverfahren werden seltener gewünscht als in der Gruppe jüngerer Patienten. Von den über 60-jährigen Teilnehmern dieser Befragung äußerten 73,5 % ihre Bereitschaft, an mindestens einer psychoonkologischen Intervention teilzunehmen; bei den unter 60-Jährigen lag der entsprechende Anteil bei 87,9 %. Statistisch bedeutsame Vorhersagefaktoren der Inanspruchnahme waren höheres Lebensalter, ausgeprägte Angst und das Vorliegen eines Rezidivs mit einer Varianzaufklärung von insgesamt neun Prozent. Da sich die Inanspruchnahmebereitschaft demnach auf der Grundlage von Patientenmerkmalen nicht gut vorhersagen lässt, empfehlen die Autoren, diese in Form von routinemäßigen Screenings abzufragen.
Vor diesem Hintergrund wurde in einer randomisierten kontrollierten Längsschnittuntersuchung von Schneider et al. (
2016) ein in der psychoonkologischen Praxis etabliertes Gruppenangebot, für das positive Effekte auf
Lebensqualität, Angst und Depression
bei Brustkrebspatientinnen nachgewiesen wurden (Weis et al.
2006), älteren Männern mit
Prostatakarzinom oder gastrointestinalen Malignoms unterbreitet; in der Literatur finden sich Hinweise, dass die Inanspruchnahme psychosozialer Angebote bei jüngeren Menschen und männlichem Geschlecht seltener ist (Ernstmann et al.
2009; Schneider et al.
2015). Zwischen Oktober 2012 und August 2014 wurden alle für eine Teilnahme in Frage kommenden Patienten am Universitätsklinikum Münster kontaktiert und über die Studie informiert. Neben einem Lebensalter von unter sechzig Jahren bildeten das Vorliegen einer demenziellen Erkrankung, schwere körperliche Einschränkungen, die eine Teilnahme an einem ambulanten Gruppenangebot unmöglich machten, und eine Entfernung des Wohnortes von mehr als 80 km Ausschlusskriterien. Die konsekutive
Stichprobe umfasste insgesamt 473 Männer. Von diesen waren 292 (61,7 %) nicht zu einer Teilnahme an der Studie bereit, auch nicht zum Ausfüllen eines kurzen Fragebogens, mit dessen Hilfe Wünsche nach psychoonkologischen Angeboten erhoben werden sollten. 130 Männer (27,5 %) waren lediglich zum Ausfüllen des Kurzfragebogens bereit, 51 nahmen an der Evaluationsstudie teil, 24 absolvierten nach Randomisierung das Gruppenangebot (im Durchschnitt 7,6 von zehn Sitzungen). Die Teilnehmer der Evaluationsstudie waren mit im Durchschnitt 67,2 Jahren jünger als die Männer, die nur zu einer Teilnahme an der Kurzbefragung oder zu keiner Teilnahme bereit waren (Durchschnittsalter 70,1 bzw. 70,5 Jahre).
In der Befragung zu Wünschen nach psychoonkologischen Angeboten lag die „hypothetische Inanspruchnahmebereitschaft“ mit 48,9 % am höchsten für ein mehrere Sitzungen umfassendes Gruppenprogramm, gefolgt von Einzelgesprächen mit einem Psychotherapeuten (40,1 %), einer einmaligen Informationsveranstaltung (38,5 %),
Entspannungsverfahren (35,2 %) und einer längeren, tiefergreifenden Einzelpsychotherapie (23,6 %). Für Beratung per Telefon oder Email als niederschwellige Angebote wurden hingegen nur Akzeptanzwerte von unter 10 % ermittelt. Ein wesentliches Ergebnis ihrer Untersuchung sehen Schneider und Kollegen darin, dass die faktische Bereitschaft, an einer psychoonkologischen Intervention teilzunehmen, bei älteren Männern faktisch deutlich geringer ist, als vor dem Hintergrund hypothetischer Befragungen angenommen werden könnte – in einer Pilotstudie zur Machbarkeit der Intervention am Universitätsklinikum Münster hatten 28,5 % der über 60-jährigen Männer Interesse an einem solchen Angebot bekundet (Schweer et al.
2011). Wenn man die Ergebnisse der Kurzbefragung berücksichtigt, dann ist es den Autoren zufolge eher unwahrscheinlich, dass die geringe Akzeptanz des Gruppenangebots darauf zurückzuführen ist, dass dieses an den Bedürfnissen der älteren Männer vorbeigeht – zeigte sich hier doch für entsprechende Gruppenangebote mit fast 50 % die höchste hypothetische Inanspruchnahmebereitschaft.
Die Evaluation des Programms spricht für eine hohe subjektive Zufriedenheit der Gruppenteilnehmer mit der Intervention. Dagegen zeigen sich in den ausgewählten Zielvariablen (
Lebensqualität, Angst, Depression) keine positiven Veränderungen, die sich auf eine Teilnahme an der Intervention zurückführen ließen, was infolge der geringen Stichprobengröße allerdings schwer zu beurteilen ist. Im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigten sich ungünstigere Entwicklungen auf den Unterskalen Emotionale Rollenfunktion, Fatigue,
Schmerz und
Schlafstörungen des EORTC QLQ-C30 (
European Organisation for Research and Treatment of Cancer, Quality of Life Core Questionnaire, Gronvold et al.
1997), einem Selbstbeurteilungsverfahren, das als Standardinstrument zur Erhebung der gesundheitsspezifischen Lebensqualität von Tumorpatienten im europäischen Raum angesehen werden kann. In diesen ungünstigeren Entwicklungen spiegeln sich möglicherweise objektive Verschlechterungen des Krankheitsgeschehens wider. Mit Blick auf die Tatsache, dass sich in den Zielvariablen Angst und Depression keine signifikanten Veränderungen finden, diskutieren Schneider et al. (
2016) mögliche Deckeneffekte, die sich aus der Tatsache ergeben, dass auch Teilnehmer ohne entsprechende psychopathologische Symptome einbezogen wurden, sowie der Tatsache, dass im Unterschied zu anderen Evaluationsstudien des in Frage stehenden Programms die teilnehmenden Männer zum Teil auch von Metastasen und Rezidiven betroffen waren. Insgesamt belegt die Studie, dass entsprechende Interventionen auch mit älteren Männern (als einer in psychoonkologischen Interventionen deutlich unterrepräsentierten Gruppe) gut durchführbar sind, gleichwohl besondere Anstrengungen unternommen werden müssen, um ältere Männer für eine Teilnahme zu motivieren.
Belastungsverarbeitung
Nach Horowitz (
1997) lässt sich der Prozess der Verarbeitung von belastenden Lebensereignissen und Traumata
in einem Phasenmodell abbilden: Nach einer (kurzen) Schockphase, die durch heftige emotionale Ausbrüche in Form von Angst, Trauer oder Wut gekennzeichnet ist, wechseln sich Phasen der Leugnung und selektiven Unaufmerksamkeit mit Phasen der Aufmerksamkeitszuwendung, insbesondere auch in Form unkontrollierbarer, intrusiver Gedanken, ab (siehe auch Filipp und Aymanns
1996). Hierbei ist die Leugnung bzw. die Weigerung, sich an das traumatisierende Geschehen zu erinnern und sich mit dessen möglicher Bedeutung auseinanderzusetzen, zunächst eine durchaus adaptive Reaktion, da sie die Person vor einer emotionalen Überwältigung schützt. Gleiches gilt für die Intrusion, da durch das Sich-Aufdrängen von Erinnerungen an das Erlebte verhindert wird, dass sich die Person allzu weit von der Realität entfernt und so ihre „Funktionstüchtigkeit“ verliert. Nach Horowitz geht die „Oszillation“ zwischen Leugnung und Aufmerksamkeitszuwendung mit fortschreitendem Verarbeitungsprozess
zurück. Die Person tritt in eine Phase des Durcharbeitens ein, im günstigen Falle gelingt es ihr allmählich, das traumatische Geschehen zu akzeptieren und in ihre Selbst- und Weltsicht zu integrieren. Im ungünstigen Falle sind, je nach der Phase, in der es zu einer Stagnation des Verarbeitungsprozesses kommt, unterschiedliche pathologische Reaktionen zu beobachten. So können aus einem Persistieren der Weigerung, sich an das Erlebte zu erinnern, extreme Vermeidungsreaktionen (u. a. in Form von Drogenkonsum) resultieren, die die Funktionstüchtigkeit der Person auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen. Stagniert der Verarbeitungsprozess auf der Stufe des unerwünschten Sich-Aufdrängens von Gedanken und Erinnerungen, kommt es zu einer Überflutung mit Trauma bezogenen Gedanken und Bildern, die die Person gleichfalls handlungsunfähig macht. Stagniert der Verarbeitungsprozess in der an die Oszillation zwischen Leugnung und Aufmerksamkeitszuwendung anschließenden Durcharbeitungsphase, so sind psychosomatische Reaktionen oder
Persönlichkeitsstörungen die Folge.
Filipp hat vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Trierer Längsschnittstudie zur Psychologie der Krankheitsbewältigung, in der 178 Krebspatienten über einen Zeitraum von drei Monaten zu vier Messzeitpunkten untersucht wurden (von diesen verstarben während der Laufzeit der Studie 68 Patienten) ein heuristisches Rahmenmodell vorgeschlagen, das Bewältigungsprozesse
als „Versuche der Realitätskonstruktion“ analysiert (Filipp
1999; Filipp und Ferring
2002). Ähnlich wie Horowitz in seinem Phasenmodell, geht sie in ihrem Drei-Stufenmodell der Bewältigung von Verlusten und Traumata von einer Informationsverarbeitungsperspektive aus, die berücksichtigt, dass sich Menschen bei der Verarbeitung von Belastungen nicht einfach an einer mit Blick auf ihre Wünsche, Ziele und Bedürfnisse eindeutigen Realität bzw. einer aus diesen resultierenden „Ist-Soll-Diskrepanz“ orientieren können, sondern dass Realität in ihren (mutmaßlich) relevanten Aspekten immer erst auf der Grundlage von Aufmerksamkeitszuwendung, von persönlichen Konstrukten und von Bewertungen (re-)konstruiert werden muss. Im Prozess der Bewältigung von Verlusten und Traumata stellt sich nach Filipp (
1999) weniger die Aufgabe, „was ist“ und „was sein sollte“ durch eine Veränderung des „Istzustandes“ (d. h. der Umwelt) oder des „Sollzustandes“ (d. h. des Selbst) in Übereinstimmung zu bringen (Brandtstädter
2007b; Heckhausen et al.
2010). Vielmehr geht es darum, eine objektive, durch „
bad news“ gekennzeichnete Realität schrittweise in eine subjektive Realität zu überführen, in der ein relativ zufriedenstellendes (unbedrohtes) Weiterleben möglich ist. Entsprechend werden in dem Modell drei fundamentale Prozesse unterschieden, die zwar nicht notwendigerweise im Sinne einer Stufensequenz aufeinander folgen müssen, im Prozess erfolgreicher Traumaverarbeitung
aber dennoch häufig qualitativ unterschiedliche Stadien kennzeichnen:
a.
Attentive Prozesse, die zur Konstruktion einer „perzeptiven Realität“ beitragen; zu beachten ist hier insbesondere die Verteidigung „positiver Illusionen“.
b.
Komparative Prozesse, die zur Überführung der perzeptiven Realität in eine Realität, die schrittweise toleriert, akzeptiert und gelebt werden kann, beitragen.
c.
Interpretative Prozesse, vor allem ruminierendes Denken wie auch das Bemühen, den Aspekten der perzeptiven Realität Sinn und Bedeutung zu verleihen.
Nach Filipp (
1999) können religiöse Überzeugungen die Konstruktion einer „interpretativen Realität“ erleichtern, insofern sie die Zuschreibung subjektiver Bedeutung zu zunächst nicht verstehbaren, bedrohlichen Ereignissen erlauben und damit zur Wiederherstellung einer besseren Welt, in der es sich zu leben lohnt, beitragen.
Eine Studie von Kandasamy et al. (2011) zeigt, dass spirituelles Wohlbefinden als eine wichtige Komponente der
Lebensqualität von Menschen in fortgeschrittenen Stadien von Krebserkrankungen anzusehen ist (siehe auch Roser et al.
2010). Spirituelles Wohlbefinden
wurde hier mit Hilfe von zwei Subskalen erfasst, die (a) das Erleben von Sinn und Ruhe sowie (b) die „Bedeutung des Glaubens für die persönliche Deutung der Krankheit“ abbilden. Lebensqualität wurde über die
Functional Assessment of Chronic Illness Therapy-Spiritual Well-Being Scale (FACIT-sp, Peterman et al.
2002) operationalisiert, die zwischen körperlichem Wohlbefinden (im Sinne von berichteten körperlichen Symptomen), sozialem/familiärem Wohlbefinden (im Sinne von sozialer Unterstützung und Kommunikation), emotionalem Wohlbefinden (Stimmung und emotionale Reaktionen auf die Erkrankung) und sowie funktionellem Wohlbefinden (im Sinne der Teilhabe an und des Genießens von Alltagsaktivitäten) differenziert. In einer
Stichprobe von 50 Patienten (allesamt in Hospizen rekrutiert, Durchschnittsalter 49,7 Jahre, Altersspanne 17–64 Jahre) zeigten sich statistisch bedeutsame Zusammenhänge zwischen dem spirituellen Wohlbefinden und allen fünf erfassten Dimensionen von Lebensqualität. Des Weiteren zeigten Patienten, die höhere Werte für spirituelles Wohlbefinden aufwiesen, ein geringeres Risiko für Depression, Angst, Fatigue, Stresserleben,
Gedächtnisstörungen, Appetitverlust, Benommenheit, Mundtrockenheit und Traurigkeit. Da spirituelles Wohlbefinden sowohl zu den körperlichen als auch zu den psychologischen Belastungsindikatoren bedeutsame Zusammenhänge aufwies, gelangen die Autoren zu der Schlussfolgerung, dass Spiritualität routinemäßig erfasst und in der Versorgung von Krebspatienten im fortgeschrittenen Stadium sowie im Kontext von
Palliative Care berücksichtigt werden und ein vielfach erkennbarer therapeutischer Nihilismus aufgegeben sollte. So ist zu lesen: „Spirituality needs to be formally assessed and integrated into the management of patients with advanced cancers and those undergoing palliative care. The attitude of ‚therapeutic nihilism‘ among physicians needs to be changed, and active help should be provided in improving the QOL of the patients that in turn will ease the inevitable process of dying“ (Kandasamy et al.
2011, S. 59).
Ausgehend von der Einsicht, dass
Spiritual Care ein wesentliches Element von Gesundheitsfürsorge darstellt, gingen Pearce et al. (
2012) in einer
Stichprobe von 150 stationären Krebspatienten eines
Medical Centers im fortgeschrittenen Stadium zwei Fragen nach: Erhalten onkologische Patienten ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend
Spiritual Care? Wenn dem nicht so ist, ergeben sich dann schädigende Auswirkungen für die Patienten? 91 % der befragten Patienten gaben in dieser Untersuchung an, spirituelle Bedürfnisse zu haben. Die meisten wünschten sich spirituellen Beistand von Gesundheitsdienstleistern, religiösen Gemeinschaften und Krankenhausseelsorgern. 42 der 150 Patienten (35 %) gaben an, von mindestens einer der genannten Quellen nicht das gewünschte Ausmaß an Unterstützung zu bekommen. Subjektive Einschätzungen unzureichenden Beistands waren assoziiert mit häufigeren Symptomen von Depression und einem reduzierten Erleben von Sinn und Ruhe. Ähnliche Ergebnisse berichten Vallurupalli et al. (
2012). In dieser Studie gaben 84 % der Krebspatienten im fortgeschrittenen Stadium, die eine palliative
Strahlentherapie erhielten, an, für ihre Auseinandersetzung mit der Erkrankung seien religiöse oder spirituelle Überzeugungen wichtig. Jene, die Spiritualität und Religiosität als eine Bewältigungsressource betrachteten, wiesen eine höhere
Lebensqualität auf. Des Weiteren deuteten die meisten Patienten
Spiritual Care als eine wesentliche Aufgabe in der Versorgung durch Ärzte und Krankenschwestern.
Den Ausgangspunkt der Arbeit von Tang et al. (
2015) bildet die Annahme, dass der Prozess des Sterbens im günstigen Falle eine Lebenskrise darstellt, die mit posttraumatischem Wachstum verbunden ist. Nachdem sich die meisten Studien zur Frage posttraumatischen Wachstums mit der Entwicklung in früheren Stadien der Erkrankung beschäftigt haben, stellt diese Studie eine der ersten dar, die Krebspatienten im fortgeschrittenem Stadium bis zu ihrem Tod begleitet und dabei mögliche Einflussfaktoren posttraumatischen Wachstums im Sterbeprozess
untersucht hat. Posttraumatisches Wachstum wurde über das
Posttraumatic Growth Inventory (Tedeschi und Calhoun
1996) operationalisiert. Als mögliche Einflussfaktoren wurden soziodemografische Merkmale, Charakteristika der Krebserkrankungen, Merkmale des sozialen Kontexts und Coping-Strategien berücksichtigt; deren Bedeutung wurde mit Hilfe linearer
Regressionsanalysen bestimmt. Mit den Autoren lässt sich feststellen, dass der Sterbeprozess für Krebspatienten möglicherweise allgemein als zu bedrohlich und belastend empfunden wird, sodass sich für die 313 untersuchten Krebspatienten keine tiefgreifenden posttraumatischen Entwicklungsgewinne zeigen – auf der von 0–105 reichenden Skala lagen die durchschnittlichen Wachstumswerte zum Zeitpunkt der Ersterhebung bei 26,13 (SD= 21,59), kurz vor dem Lebensende bei 40,33 (SD= 27,71); der ermittelte Anstieg war nicht signifikant. Gleichwohl fanden sich bei terminalen Patienten, denen es gelang, die initiale Bedrohung zumindest in Teilen zu verarbeiten (bzw. die von der initialen Bedrohung nicht überwältigt wurden), deutliche Hinweise auf posttraumatisches Wachstum. Ein erhöhtes Risiko für geringere posttraumatische Wachstumswerte ergab sich für terminale Patienten, die (a) männlich waren, (b) die nicht im mittleren Erwachsenenalter standen, (c) die einen geringeren Bildungsstand aufwiesen, (d) die unter einer nicht metastasierenden Erkrankung litten, (e) deren körperlicher Status vor kürzerer Zeit als „terminal“ eingestuft wurde, (f) die eine hohe Belastung durch Symptome zeigten, (g) die in hohem Maße funktional eingeschränkt waren, (h) die über weniger soziale Unterstützung verfügten und (i) die über ihre Diagnose nicht informiert waren oder diese nicht akzeptieren konnten. Die Autoren deuten die genannten Ergebnisse als Hinweis auf die Möglichkeit der Förderung posttraumatischen Wachstums am Lebensende durch Interventionen im Bereich der Linderung von Begleitsymptomen, der Förderung von funktionaler Selbstständigkeit, der Erhöhung sozialer Unterstützung und der verbesserten Aufklärung über Erkrankung und Prognose.
Bewältigungsverhalten am Lebensende
Eine Untersuchung von Kruse (
1995a,
b,
2017b) schloss Patienten ein, bei denen der Tumor bereits so weit fortgeschritten war, dass langfristig nicht mehr mit dem Überleben dieser Patienten gerechnet werden konnte. Schon zu Beginn der Untersuchung lag bei diesen Patienten eine infauste Diagnose vor.
An der Untersuchung zum Bewältigungsverhalten
am Lebensende nahmen 29 Frauen und 21 Männer teil, die mit einer infausten Diagnose aus dem Krankenhaus entlassen worden waren (Altersspanne: 60–85 Jahre). Die Untersuchung erstreckte sich über einen Zeitraum von neun bis 24 Monaten: die Untersuchungsdauer hing davon ab, wann bei den Patienten der Tod eintrat. Mit dem Zeitraum der Untersuchung variierte auch die Anzahl der Messzeitpunkte: Im kürzesten Falle fanden vier, im längsten Falle sechs Messzeitpunkte statt. Die Betreuung der Patienten wurde in 30 Familien von der Ehefrau, in 13 Familien vom Ehemann und in sieben Familien von der Tochter übernommen. Auch die betreuenden Angehörigen wurden zu den einzelnen Messzeitpunkten ausführlich befragt (Kruse
2007).
Die Gruppe der Patienten
In die
Stichprobe wurden nur Patienten
aufgenommen, die nicht an schweren
psychischen Krankheiten (zum Beispiel hirnorganischen Psychosyndromen,
Demenzen verschiedener Ätiologie, Majore Depressionen) litten. Diese Einschränkung war notwendig, da bei schweren psychischen Erkrankungen keine zuverlässigen Aussagen über psychische Reaktionen sterbender Patienten möglich gewesen wären. Die Behandlung der Patienten lag in der Verantwortung mehrerer Hausärzte (Ärzte für Allgemeinmedizin). Zusätzlich wurden die Patienten durch ambulante Dienste und Sozialstationen betreut. Es bestand eine enge Kooperation zwischen den Hausärzten und den Diensten. Die Patienten wurden schmerztherapeutisch ausreichend behandelt. Es war ausdrücklich erwünscht, dass sie gemeinsam mit dem Hausarzt die einzelnen Schritte der
Schmerztherapie erörtern konnten. Bei jenen Patienten, bei denen die vom Hausarzt überwachte Schmerztherapie nicht zu einer subjektiv als ausreichend eingeschätzten Linderung der
Schmerzen führte, wurden Fachärzte für Anästhesie hinzugezogen.
Die Patienten wie auch deren Angehörige wurden von Sozialarbeitern betreut. In jenen Fällen, in denen die Patienten und ihre Angehörigen eine seelsorgerische Betreuung wünschten, wurde diese ermöglicht. Allen Patienten wurde die Sicherheit gegeben, dass auch bei einer Verschlechterung der Erkrankung, vor allem bei einer Zunahme der
Schmerzen, alle medizinischen (vor allem schmerztherapeutischen) und pflegerischen Maßnahmen ergriffen würden, um die Situation möglichst erträglich zu machen. Dabei wurde auch versichert, dass die medizinischen und pflegerischen Maßnahmen mit dem Patienten und seinen Angehörigen genau besprochen würden.
Wir fanden in dieser Längsschnittuntersuchung fünf verschiedene Formen des Erlebens der eigenen Endlichkeit und der Auseinandersetzung mit dieser. Dabei wurde der Einfluss deutlich, den die Intensität empfundener
Schmerzen, die Beziehung zum sozialen Umfeld (vor allem zu den Familienangehörigen) sowie das Verhältnis zwischen dem Patienten und dem Arzt auf das Erleben und die Auseinandersetzung ausüben.
Im Folgenden werden fünf statistisch (Kombination aus Cluster- und
Diskriminanzanalyse) signifikante Formen
des Erlebens der eigenen Endlichkeit und der Auseinandersetzung mit dieser kurz charakterisiert. Zudem wird angegeben, wie die Patienten (a) die
Schmerzen, (b) ihre Beziehung zum sozialen Umfeld und (c) das Verhältnis zu ihrem Arzt beschrieben haben.
1. Akzeptanz des Sterbens und des Todes bei gleichzeitiger Suche nach jenen Möglichkeiten, die das Leben noch bietet
2. Zunehmende Resignation und Verbitterung, die mit dazu beiträgt, dass das Leben als Last empfunden wird und die Endlichkeit des eigenen Daseins immer stärker in den Vordergrund des Erlebens tritt
3. Linderung der Todesängste durch die Erfahrung eines neuen Lebenssinnes und durch die Überzeugung, im Leben noch Aufgaben wahrnehmen zu können
4. Bemühen, die Bedrohung der eigenen Existenz nicht in das Zentrum des Erlebens treten zu lassen
5. Durchschreiten von Phasen tiefer Depression zur Hinnahme des Todes
Die Gruppe der Angehörigen
Herbert Plügge beschreibt in seinem Buch „Der Mensch und sein Leib“ (
1962) die Entfremdung zwischen Sterbenden und Angehörigen
als Teil eines sich im Prozess des Sterbens vollziehenden Rückzugs von der Welt:
„Ebenso wie der Sterbende sich von seiner Welt zurückzieht, gibt auch die Welt ihn auf. Es entsteht zwischen ihm und seiner Welt eine zunehmende Entfremdung. In diese Entfremdung werden auch, da sie ja wichtige Bestandteile der Welt des Sterbenden waren, die Angehörigen miteinbezogen. Man versteht sich nicht mehr, weil man im Begriff ist, sich zu trennen. Das geht oft unter Unredlichkeiten, Verlogenheiten und unter dem Mantel von Albernheiten, Zudringlichkeiten, Gereiztheiten oder Exaltiertheiten vor sich. (…) Der Akt der Entfremdung zwischen Krankem und den Angehörigen betrifft beide: Wenn der Sterbende sich anschickt, die Welt zu verlassen, sich nach innen zurückzuziehen, lässt er die Angehörigen, die ja ein gut Teil seiner Welt waren, allein. Die Angehörigen aber, zu deren Welt der Sterbende gehört, erfahren durch diesen Verlust die Welt als verändert, entfremdet.“ (Plügge
1962, S. 120 f.)
Die Behandlung und Betreuung chronisch kranker und sterbender Patienten richtet an den Arzt wie auch an Pflegefachpersonen Anforderungen, die über die körperliche Diagnostik und Therapie hinausgehen. Unter diesen Anforderungen sind auch Fähigkeiten in der psychologischen Gesprächsführung sowie in der Betreuung der pflegenden Angehörigen zu nennen. Die psychologische Gesprächsführung ist wichtig, da sich schwere und zugleich lang andauernde Erkrankungen auf die psychische Situation des Patienten auswirken. Dies ist vor allem bei Krankheiten der Fall, die mit chronischen
Schmerzen verbunden sind und die den Patienten in seiner Fähigkeit zur selbstständigen Lebensführung behindern.
Die Betreuung der Angehörigen – und dies heißt auch: die Integration eines familienpsychologischen Ansatzes in das Behandlungs- und Betreuungskonzept – ist wichtig, da die meisten chronisch kranken und sterbenden Menschen von Angehörigen unterstützt oder gepflegt werden. Auch wenn die Aussage zutrifft, nach der viele Menschen in Institutionen sterben (70–80 % aller Menschen sterben in Kliniken oder Einrichtungen der Altenhilfe), darf nicht übersehen werden, dass die meisten Patienten lange von Angehörigen gepflegt werden und erst kurz vor dem Eintritt des Todes, wenn sich der körperliche und psychische Zustand deutlich verschlechtert, in ein Krankenhaus oder in ein Pflegeheim kommen (Kruse
2017b). Die Unterstützung und Pflege chronisch kranker und sterbender Menschen geht häufig mit hohen physischen und psychischen Belastungen der Angehörigen einher, die aus diesem Grunde nicht selten ebenfalls auf fachliche Betreuung angewiesen sind.
In unserer genannten Untersuchung wurden die Angehörigen zu den mit der Begleitung eines sterbenden Familienmitglieds verbundenen Anforderungen und Belastungen befragt. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf die Ergebnisse der Befragung von 37 Angehörigen. In Tab.
1 sind die erlebten Anforderungen, in Tab.
2 die erlebten Belastungen aufgeführt, die von den Angehörigen zum ersten, dritten und sechsten Messzeitpunkt berichtet wurden. Wir beschränken uns dabei auf die Nennung der vier wichtigsten Anforderungen und Belastungen (in Klammern ist die Anzahl der Angehörigen angegeben, die die jeweilige Anforderung und Belastung genannt haben).
Fertigwerden mit der Erkenntnis, dass der Patient an einer tödlichen Krankheit leidet (n = 36) | Fertigwerden mit der Erkenntnis, dass der Patient an einer tödlichen Krankheit leidet (n = 34) | Versuche, die Ängste des Patienten vor dem Tod zu lindern (n = 32) |
Versuche, die Ängste des Patienten vor dem Tod zu lindern (n = 29) | Unterstützung des Patienten bei der Ausübung von Alltagsaktivitäten (n = 30) | Intensive Pflege des Patienten (n = 32) |
Sich-Einstellen auf zunehmende Beschwerden des Patienten (n = 26) | Versuche, dem Patienten bei seinen Ängsten vor dem Tod beizustehen (n = 29) | Fertigwerden mit dem herannahenden Tod des Patienten (n = 32) |
Motivieren des Patienten zur Befolgung ärztlicher Therapiemaßnahmen (n = 22) | Motivieren des Patienten zur Ausübung von Interessen (n = 21) | Motivieren von Angehörigen und Freunden, den Patienten zu besuchen (n = 24) |
Tab. 2
Erlebte Belastungen der Angehörigen bei der Sterbebegleitung (Kruse
1994)
Antizipation wachsender Hilfsbedürftigkeit des Patienten (n = 33) | Bewusstwerdung des herannahenden Todes des Patienten (n = 34) | Erwartung des in kurzer Zeit eintretenden Todes des Patienten (n = 33) |
Konfrontation mit einer infausten Diagnose des Patienten (n = 32) | Phasen der Niedergeschlagenheit und des Rückzugs des Patienten (n = 31) | Antizipation von Einsamkeit nach dem Tod des Patienten (n = 29) |
Phasen der Niedergeschlagenheit und des Rückzugs des Patienten (n = 31) | Antizipation von Einsamkeit nach dem Tode des Patienten (n = 24) | Klagen des Patienten wegen zunehmender Beschwerden und Schmerzen(n = 24) |
Gespräche mit dem Patienten über den herannahenden Tod (n = 24) | Hohe zeitliche Belastung durch die Unterstützung des Patienten (n = 22) | Zunehmender Rückzug und Depressionen des Patienten (n = 25) |
Bei der Analyse der erlebten Anforderungen fällt zunächst auf, dass die persönliche Auseinandersetzung mit dem herannahenden Tod des Patienten von den meisten Angehörigen über den gesamten Zeitraum der
Sterbebegleitung als zentrale Anforderung wahrgenommen wurde. Wir hatten erwartet, dass es den Angehörigen im Laufe der Zeit gelingen würde, den herannahenden Tod des Patienten zu akzeptieren. Doch machen die Befunde deutlich, dass die meisten Angehörigen auch nach längerer Auseinandersetzung den drohenden Tod des Patienten nicht annehmen konnten.
Die
Sterbebegleitung ist nicht nur mit pflegerischen, sondern auch mit psychologischen Aufgaben verbunden, wie die von vielen Angehörigen genannte Anforderung „Versuche, die Ängste des Patienten vor dem Tod zu lindern“, zeigt. Diese Anforderung wurde auch von Angehörigen geschildert, die ihr persönliches Verhältnis zum Patienten als gespannt und belastet beschrieben. Eine weitere Aufgabe bestand in der Motivierung des Patienten zur Befolgung ärztlicher Therapiemaßnahmen und zur Ausübung von Interessen.
Bei der Analyse der erlebten Belastungen (Tab.
2) fällt auf, dass diese nicht nur aus der aktuellen Situation, sondern ebenso aus der Antizipation der persönlichen Zukunft erwuchsen. Zum ersten Messzeitpunkt stand die Antizipation zunehmender Hilfsbedürftigkeit des Patienten im Vordergrund, beim dritten und sechsten Zeitpunkt die Antizipation von Einsamkeit nach dem Tod des Patienten. Daneben wurde das Verhalten des Patienten von vielen Angehörigen als Belastung erlebt. Phasen der Niedergeschlagenheit und des Rückzugs des Patienten sowie dessen Klagen wegen zunehmender Beschwerden und
Schmerzen wurden als entscheidende Ursachen für diese Belastung genannt.
In den Befragungen der Angehörigen wurde auch die Bedeutung der ärztlichen Hilfe für die Bewältigung der genannten Anforderungen und Belastungen thematisiert. Die Angehörigen nannten sechs Merkmale ärztlichen Handelns, die sie bei der
Sterbebegleitung als Hilfe empfunden hatten:
1.
Offenheit und Wahrhaftigkeit des Arztes in der Kommunikation mit ihnen und mit dem Patienten: Sie erwarteten, dass der Arzt sie und den Patienten über den weiteren Verlauf der Erkrankung und über mögliche Symptome aufklärt.
2.
Sicherheit des Arztes bei der Behandlung und in der Kommunikation: Den Angehörigen war bewusst, dass die Behandlung eines sterbenden Patienten hohe ärztliche Kompetenz in Diagnostik und Therapie erfordert. Die Kontrolle der
Schmerzen sowie der fachlich fundierte und einfühlsame Umgang mit psychischen Veränderungen des Patienten wurden von den Angehörigen als höchste Anforderungen an den Arzt beschrieben. Sie erwarteten, dass der Arzt die notwendige Kompetenz und Erfahrung im Hinblick auf die Behandlung sterbender Patienten besitzt.
3.
Erreichbarkeit des Arztes: Vor allem in den letzten Tagen vor Eintritt des Todes legten die Angehörigen großen Wert darauf, den Hausarzt zu erreichen. Die Erreichbarkeit des Arztes gab ihnen Sicherheit, dass der Patient auch in den letzten Tagen vor dem Tod nicht an unnötigen Schmerzen leiden müsse.
4.
Offenheit des Arztes für die Anliegen der Angehörigen: Die Angehörigen betonten, dass auch sie auf ärztliche Unterstützung angewiesen seien. Die hohen psychischen Anforderungen, die mit der Begleitung eines sterbenden Familienmitglieds verbunden sind, führen häufig zu Spannungs- und Erschöpfungszuständen, verbunden mit vegetativen oder psychosomatischen Symptomen. Gespräche mit dem Arzt über die eigene psychische Situation wurden als Hilfe im Umgang mit diesen Zuständen und Symptomen wahrgenommen.
5.
Aufklärung durch den Arzt über die von ihm eingesetzten oder geplanten Therapiemaßnahmen: Die Angehörigen äußerten das Bedürfnis, über therapeutische Maßnahmen aufgeklärt zu werden. Von dieser Aufklärung erwarteten sie Hilfen für das Verständnis der veränderten Reaktionen des Patienten.
6.
Beratung durch den Arzt hinsichtlich notwendiger Pflegehandlungen und hinsichtlich des Verhaltens gegenüber dem Patienten.
In einer Untersuchung von Kinoshita et al. (
2015) zum Zusammenhang zwischen Sterbeort
, Einschätzungen der Qualität von Sterben und Tod und Belastungen von Angehörigen krebskranker Patienten am Ende des Lebens wurde deutlich, dass der Sterbeort als ein zentrales Thema der
End-of-Life-Care anzusehen ist (siehe auch Remmers und Kruse
2014). In zwei in den Jahren 2008 und 2011 durchgeführten Surveys mit Hinterbliebenen wurden insgesamt 2247 pflegende Angehörige von Krebspatienten befragt. Die subjektiv erlebte Qualität von Sterben und Tod wurde mit Hilfe des
Good Death Inventory, die subjektiv erlebten Belastungen der Angehörigen wurden mit Hilfe des
Caregiving Consequences Inventory erhoben. Nach Kontrolle relevanter Merkmale der Patienten und der Art der Erkrankung ergaben sich für die Qualität von Sterben und Tod für jene, die Zuhause verstarben (Vertrauensintervall 95 % 4,9–5,2), höhere Werte als für Menschen, die in
Palliative Care Units (Vertrauensintervall 95 % 4,5–4,7) oder im Krankenhaus (Vertrauensintervall 95 % 4,2–4,4) verstarben. Alle Paarvergleiche erwiesen sich als hochsignifikant bei moderater (Vergleich zu Hause – im Krankenhaus) bzw. geringer Effektstärke. Bezogen auf die mit den beiden Inventaren erfassten Aspekte zeigten sich für das Sterben zu Hause gegenüber dem Sterben in einer
Palliative Care-Einrichtung oder im Krankenhaus günstigere Werte hinsichtlich der Präferenz des Sterbeorts, der Beziehung zum medizinischen Versorgungsteam, der Beziehungen zu Angehörigen sowie der Aufrechterhaltung von Hoffnung und Wohlbefinden. Des Weiteren war das Sterben zu Hause im Vergleich zum Sterben im Krankenhaus mit einer geringeren allgemeinen Belastung der pflegenden Angehörigen sowie mit geringeren finanziellen Belastungen verbunden.
In einer ländervergleichenden Survey-Untersuchung von Gomes et al. (
2012) wurden 9344 Personen im Alter von mindestens 16 Jahren aus acht europäischen Ländern (Belgien (Flandern), Deutschland, England, Italien, Niederlande, Portugal und Spanien) gefragt, wo sie für den Fall, dass sie unter einer schweren Erkrankung wie zum Beispiel Krebs leiden würden, vorziehen würden zu sterben. In sieben der acht teilnehmenden Länder ergab sich ein Anteil an Personen, die angaben, sie würden es vorziehen, zu Hause zu sterben, von mindestens zwei Dritteln, der höchste Anteil wurde hier für die Niederlande (84 %), der niedrigste für Portugal (51 %) ermittelt. Dabei erwiesen sich vier Merkmale in mindestens zwei Ländern als bedeutsamer Vorhersagefaktor für den Wunsch, zu Hause zu sterben: (a) ein Alter von unter 70 Jahren (Deutschland, Niederlande, Portugal, Spanien), (b) eine höhere subjektive Bedeutung des Sterbens am bevorzugten Ort (Deutschland, England, Portugal, Spanien), (c) die Aufrechterhaltung einer positiven Einstellung (Deutschland, Spanien) und (d) der Wunsch, Familienmitglieder in Entscheidungen einzubeziehen, die man selbst nicht mehr alleine treffen kann (Flandern, Portugal ).
Wenn es Ärzten gelingt, neben der fachlich fundierten Therapie sterbender Patienten eine medizinisch wie psychologisch ansprechende Begleitung der Angehörigen zu leisten, so verwirklichen sie wichtige Zielsetzungen, die auch im Zusammenhang mit der Betreuung in Hospizen genannt werden (Saunders und Baines
1991; Student
1999). Die hausärztliche Behandlung bildet in diesen Fällen eine wichtige Alternative oder Ergänzung zur
Sterbebegleitung in Hospizen.
Selbstverantwortung im Sterben als bedeutendes Merkmal der Qualität der Sterbebegleitung
Das Sterben des Menschen ist in der medizinischen Ethik eng mit der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen selbstverantwortlichen Lebens in der letzten Phase unseres Lebens verknüpft. Die
Lebensqualität sterbender Menschen wird auch als Ergebnis einer medizinischen Behandlung und pflegerischen Betreuung gewertet, die auf die Erhaltung eines möglichst hohen Maßes an Selbstverantwortung
zielt. Auch bei der Behandlung und Betreuung jener Menschen, die aufgrund eingetretener Veränderungen ihres Bewusstseins nicht mehr zu einer selbstverantwortlichen Lebensführung in der Lage sind, gilt der Grundsatz einer möglichst weiten Orientierung an den Werten und Bedürfnissen, die diese vor dem Eintritt der Bewusstseinsveränderungen geäußert haben und die im Kontakt zu diesen wahrgenommen werden. Darüber hinaus ist gerade in solchen Situationen die Orientierung an einer allgemeinen Anthropologie notwendig, zu der auch die
Reflexion über grundlegende menschliche Werte und Bedürfnisse gehört. Entscheidend für den Sterbebeistand
ist die Rücksichtnahme auf die Individualität des Menschen auch in der letzten Grenzsituation seines Lebens. Dieses Leitbild eines menschenwürdigen Sterbebeistandes, das sich um die Erhaltung der Selbstverantwortung des sterbenden Menschen und um die Erkennung und Berücksichtigung seiner Werte und Bedürfnisse zentriert, wird in der Medizin und Pflege wie folgt umschrieben:
Voluntas aegroti suprema lex (der Wille des Patienten ist das höchste Gesetz). Dieser Grundsatz gilt allgemein für die Behandlung und Betreuung des Menschen. Er gewinnt aber zusätzlich an Bedeutung, wenn sich Menschen in einem körperlichen und seelischen Zustand befinden, in dem es ihnen schwer fällt, ihre Werte und Bedürfnisse zu artikulieren. In dieser Situation ist die psychologische Kompetenz von Medizinern und Pflegern, wie auch von anderen Berufsgruppen, die an der
Sterbebegleitung beteiligt sind, besonders gefordert (Kruse
2004).