Barrierestörung des intestinalen Epithels
Die intestinale Mukosa wird nach der Geburt dauerhaft mit einer großen Anzahl von mikrobiellen Erregern konfrontiert. Für diese Herausforderung ist das Frühgeborene nur bedingt vorbereitet. Der frühgeborene Intestinaltrakt ist charakterisiert durch einen verminderte zelluläre und humorale Immunität, erhöhte Permeabilität, reduzierte gastrale Säureproduktion, reduzierte Konzentration proteolytischer
Enzyme, verminderte Motilität und Unreife des intestinalen Epithels
. Durch die herabgesetzte intestinale Barriere können
Bakterien und (Lipopolysaccharide) LPS translozieren (Neu
2014; Ginzel et al.
2017).
Diese intestinale Barrierestörung ist der erste Schritt in der Pathogenese der NEC, der zur Aktivierung einer proinflammatorischen Kaskade führt.
Welche Faktoren ursächlich für diesen Mukosaschaden sind, wird kontrovers diskutiert. Zu den am häufigsten zitierten Faktoren gehört ein reduzierter mukosaler Blutfluss bzw. die intestinale
Hypoxie, die durch zentralvenöse umbilikale Venenkatheter und Transfusionen über die Umbilikalvene bedingt sein könnte. Als Folge eines zentralisierten Blutflusses wird v. a. Herz und Gehirn adäquat perfundiert, was zu Lasten der Splanchnikusperfusion geht. Auch wenn es verschiedene Mausmodelle gibt, die diese Hypothese unterstützen (Ginzel et al.
2016), konnte sie in klinischen Studien bislang nicht bestätigt werden. Da keine Korrelation zwischen einer
perinatalen Asphyxie und der Entwicklung einer NEC beobachtetet wird, ist die Rolle der
Hypoxie in der Pathogenese der NEC weiterhin unklar (Patel et al.
2015).
Als weitere wichtige Risikofaktoren konnten einen Vielzahl von
inflammatorischen Mediatoren identifiziert werden, hierunter PAF, LPS, NO und TNF-α (Berman und Moss
2011). Diese sind u. a. in der Lage,
Apotose von intestinalen Epithelzellen zu induzieren. Die gesteigerte
Apoptose im Rahmen der NEC wurde auch im Mausmodell nachgewiesen (Ginzel et al.
2016).
Die Arbeitsgruppe von Henry Ford et al. konnte in einer Vielzahl von Publikationen zeigen, dass eine Hochregulation der inducible nitric oxide synthase (NOS-2) im Gastrointestinaltrakt über eine anhaltende Überproduktion von NO zur Schädigung des intestinalen Epithels beiträgt. NOS-2 und NO führen in der Darmwand von Kindern mit NEC durch das potente Oxidans Peroxynitrit zur vermehrten
Apoptose und verminderten Proliferation der Enterozyten. Die gesteigerte Apoptose führt zu einer Läsion des Epithels im Bereich der Villusspitze, wo
Bakterien anheften, translozieren und die inflammatorische Kaskade aktivieren (Potoka et al.
2003).
Infektiöse Erreger
Tierexperimentelle Studien konnten zeigen, dass eine NEC in einer sterilen Umgebung nicht auftritt: Tiere, die in einer keimfreien Umgebung gehalten werden, entwickeln keine NEC (Musemeche et al.
1986). Daher liegt es nahe, die NEC auch als Infektionskrankheit zu begreifen. Der Darm von gestillten Neonaten wird v. a. durch Bifidobakterien (grampositiv) besiedelt, welche die Ausbreitung von gramnegativen
Bakterien einschränken. Das Mikrobiom von mit Formula ernährten Neonaten hingegen weist
Streptokokken,
Staphylokokken und Laktobazillen auf (Vongbhavit und Underwood
2016). Mit dieser ersten Besiedlung ausgestattet ist die frühgeborene intestinale Mukosa einer Vielzahl von mikrobiellen Erreger ausgesetzt. Sie stellt nicht nur eine einfache physische Barriere dar, sondern interagiert mit den intraluminalen Mikroben als Teil des angeborenen Immunsystems. Hierbei spielt ein System von sog. „Pattern recognition receptors“ (PRR) eine Rolle. Während der Kolonisierung des Intestinums kommt es zur Interaktion („crosstalk“) der PRR mit der Standortflora, woraus sich eine intestinale
Toleranz bzw. Hyposensibilität für diese Erreger entwickelt, um in Symbiose mit diesen zu leben. PRR interagieren u. a. mit LPS, Flagellin und Peptidoglykanen und vermitteln diese Toleranz über verschiedene Signalwege. Zu den PRR gehörten auch sog. Toll-like-Rezeptoren, die v. a. bei der Erkennung der extrazellulären Umgebung eine Rolle spielen. Die Arbeitsgruppe von David Hackam konnte zeigen, dass TLR-4 in der Pathogenese der NEC eine wichtige Rolle spielt. TLR-4 wird v. a. auf dem intestinalen Epithel exprimiert und ist der wichtigste Rezeptor für LPS, ein Produkt gramnegativer Bakterien und ist für
Apoptose und
Migration von Enterozyten zuständig (Leaphart et al.
2007).
In utero reguliert TLR-4 die normale Darmentwicklung und wird überexprimiert. Diese Überexpression besteht auch noch zum Zeitpunkt der Frühgeburtlichkeit. Sie gereicht dem Frühgeborenen jedoch postpartal zum Nachteil, da nun die deletären Effekte des TLR-4-Signaling (
Apoptose von Enterozyten, verminderte Mukosaregeneration, proinflammatorische Zytokinfreisetzung und Minderung des mesenterialen Blutflusses) zu einer sekundären Translokation von
Bakterien führen. TLR-4 wird durch Muttermilch inhibiert.
Die Rolle von
Bakterien in der Pathogenese der NEC wird durch folgende Punkte unterstrichen: Fälle von NEC wurden in episodischen und epidemischen Wellen und mit denselben Erregern beschrieben. Eine NEC kann bei Neonaten ohne Risikofaktoren auftreten und sich noch Wochen nach kritischen perinatalen Phasen entwickeln, wenn der Gastrointestinaltrakt voll kolonisiert ist (Vongbhavit und Underwood
2016). NEC ähnliche Läsionen können bei vulnerablen Kindern nach Ingestion mit Clostridien beobachtet werden (Smith et al.
2011). Im Mausmodell kann eine experimentelle NEC durch Administration von LPS induziert werden (Ginzel et al.
2016). Eine Endotoxämie kann bei 80 % der Kinder mit NEC nachgewiesen werden, die positive
Blutkulturen haben (Scheifele et al.
1981). Schließlich ist die Pneumatosis intestinalis (Abschn.
3.5) als häufiges radiologisches Zeichen Ausdruck einer submukösen Gasansammlung, die durch eine bakterielle Fermentation hervorgerufen wird.
Zusammenfassende Hypothese zur Pathogenese
Empirische und experimentelle Daten weisen darauf hin, dass die NEC bei Neonaten auftritt, deren gastrointestinale Abwehr geschwächt wurde. Die Frühgeburtlichkeit führt zusammen mit der intensivmedizinischen Behandlung zu einer bakterieller Fehlbesiedlung des Darms (
Dysbiose). Aus der Interaktion von
Bakterien und Rezeptoren sowie Immunzellen des intestinalen Epithels resultiert eine überschießende Aktivierung des Immunsystems, welche den Mukosaschaden weiter verstärkt, die Permeabilität erhöht und bakterielle Translokation ermöglicht. In den letzten Jahren konnte in mehreren Arbeiten gezeigt werden, dass das intestinale Mikrobiom bei einer Vielzahl von Erkrankungen wie auch der NEC
eine wichtige Rolle spielt (Pammi et al.
2017). Der Prozess der Kolonisierung des Darmepithels in der Neonatalperiode scheint hierbei für das angeborene Immunsystem eine äußerst vulnerable Zeit zu sein. In Zwillingsstudien konnte zudem gezeigt werden, dass bei der Besiedlung des Darms sowohl Umwelt- als auch genetische Faktoren eine Rolle spielen (Palmer et al.
2007).
Im Rahmen der überschießenden Immunantwort kommt es zur Aktivierung einer proinflammatorischen Signalkaskade und Inhibition von Signalwegen, die das Immunsystem hemmen. In der Endstrecke der Immunantwort werden proinflammatorische
Zytokine freigesetzt, die zu einer globalen Entzündungsantwort führen. Mit dem Fortschreiten der Entzündung werden klinische und radiologische Zeichen sichtbar. Die Pneumatosis intestinalis (Abschn.
3.5) ist das Korrelat einer Luftansammlung in der Darmwand, die durch enterale
Bakterien produziert wird. Eine Drainage dieser Luft über die Mesenterialvenen und
Migration in die Portalvene kann als Zeichen einer Progression zum Nachweis von portalvenöser Luft führen. Alternativ könnten Bakterien auch im portalvenösen System selbst Gas bilden. Das klassische histologische Bild einer transmuralen intestinalen Inflammation ist in 52 % der chirurgischen Resektate zu finden (Remon et al.
2015). Ein Pneumoperitoneum zeigt schließlich die transmurale Nekrose der Darmwand mit Perforation an.