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Kinderchirurgie
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Publiziert am: 10.05.2018

Siamesische Zwillinge

Verfasst von: R. Grantzow
Siamesische Zwillinge werden äußerst selten gesehen und stellen eine der faszinierendsten Fehlbildungen des Menschen dar. Entsprechend groß ist auch das Interesse an ihnen, denn die fehlende Individualität der zusammengewachsenen Menschen gibt Anlass für viele Überlegungen und Fantasievorstellungen. Der Schweregrad der Verwachsungen schwankt stark, sodass es kein „typisches“ Zwillingspaar gibt. Trennungen sind meistens möglich, jedoch können unter Umständen die Defekte nach einer Trennung so groß sein, dass es ethisch fraglich erscheint, eine derartige Operation durchzuführen. So muss jeder Fall individuell entschieden und die zu erwartende Lebensqualität genau bedacht werden.
Siamesische Zwillinge werden äußerst selten gesehen und stellen eine der faszinierendsten Fehlbildungen des Menschen dar. Entsprechend groß ist auch das Interesse an ihnen, denn die fehlende Individualität der zusammen gewachsenen Menschen gibt Anlass für viele Überlegungen und Fantasievorstellungen. Der Schweregrad der Verwachsungen schwankt stark, sodass es kein „typisches“ Zwillingspaar gibt. Trennungen sind meistens möglich, jedoch können unter Umständen die Defekte nach einer Trennung so groß sein, dass es ethisch fraglich erscheint, eine derartige Operation durchzuführen. So muss jeder Fall individuell entschieden und die zu erwartende Lebensqualität genau bedacht werden.

Inzidenz und Verwachsungsformen

Siamesische Zwillinge kommen mit einer Häufigkeit von 1:70.000 bis 1:120.000 Geburten vor und stellen damit ein extrem seltenes Ereignis dar. Namensgeber dieser Fehlbildung ist das Zwillingspaar Chang und Eng, das im 19. Jahrhundert ein schottischer Kaufmann am Golf von Siam (heutiges Thailand) fand, in seinem Schiff nach Nordamerika mitnahm und auf Jahrmärkten ausstellte.
Eine intrauterine Diagnose ist möglich und führt wohl in der Regel zu einem Abbruch der Schwangerschaft, sodass die Inzidenz in den letzten Jahrzehnten noch weiter abgesunken ist.
Je nach Ort der Verschmelzung werden siamesische Zwillinge in folgende Typen eingeteilt (Abb. 1):
  • Kraniopagen
  • Thorakopagen
  • Xipho-Omphalopagen
  • Ischiopagen
  • Pygopagen
Dabei können Mischtypen bestehen, insbesondere bei Verschmelzungen im Bereich der vorderen Rumpfwand. Die Verschmelzungen können symmetrisch oder asymmetrisch (z. B. bei Ischiopagen) angelegt sein.
Embryologisch ist ursächlich wohl eine inkomplette Trennung bei einer Zwillingsentwicklung zu sehen, eine sekundäre Verschmelzung wird in heutiger Zeit als unwahrscheinlich beurteilt (Waldhausen 2005).

Diagnostik

In heutiger Zeit sollte bereits intrauterin die Diagnose von siamesischen Zwillingen erfolgen und damit eine Entscheidung ermöglichen, ob die Schwangerschaft fortgeführt oder abgebrochen wird. Entscheidend sind der Schweregrad der Verwachsung und die Möglichkeit einer Trennung mit akzeptabler Lebensqualität.
War früher eine rasche Trennung nach der Geburt mit nur beschränkter Diagnostik der eingeschlagene Weg, so wird heute die maximale Ausnutzung aller diagnostischen Möglichkeiten gefordert. Dies beginnt bereits intrauterin mit einer MRT-Untersuchung der Mutter. Zwar ist hier bei fehlenden Standardschnitten die Aussagekraft eingeschränkt, dennoch können auch in Verbindung mit den Ultraschalluntersuchungen gute Aussagen über die vorliegenden Verwachsungen getroffen werden. Vor der Trennung sollten die anatomischen Beziehungen innerhalb der Verschmelzungszone vollständig klar sein, damit entsprechende operative Strategien geplant werden können. Dabei geht es nicht allein um das Überleben der Kinder, sondern auch um das Ermöglichen einer akzeptablen Lebensqualität.
Neben Ultraschall und Computertomografie ist zentrale bildgebende Untersuchung die Kernspintomografie mit (so weit möglich) 3 D-Auswertung. Zur Vermeidung von Bewegungsunschärfen und Artefakten ist dies in Narkose durchzuführen. Dafür müssen, wie auch bei späteren operativen Eingriffen, zwei unabhängige Narkoseteams mit pädiatrischer bzw. neonatologischer Erfahrung zur Verfügung stehen.
Bei zu erwartenden Anomalien der ableitenden Harnwege (Ischiopagen) sind Kontrastmitteldarstellungen der Ureteren, Harnblase und Harnröhren notwendig (Abb. 2). Dies gilt gleichfalls bei Verwachsungen im Bereich des Intestinaltrakts, der dann über eine fraktionierte Kontrastmittelfüllung abgeklärt werden muss (Omphalopagen, Ischiopagen). Bei komplizierten Situationen sind die gefundenen Befunde in Zeichnungen umzusetzen, damit während der Trennungsoperation alle Mitarbeiter über die anatomischen Gegebenheiten informiert sind.

Trennungsoperationen

Trennungsoperationen sollten als elektive Eingriffe geplant werden, da die Überlebensrate dann mit insgesamt 80 % signifikant höher liegt als bei Notfalleingriffen (20 %, Spitz et al. 2003).
Notfalleingriffe sind nur dann indiziert, wenn der drohende Tod eines Zwillings das Leben des anderen Zwillings gefährdet oder weitere Fehlbildungen das Überleben eines oder beider Zwillinge bedrohen (z. B. Atresien, rupturgefährdete Omphalozele, Volvulus).
Elektiv hingegen sind ferner vorbereitende Operationen, die zu erwartende Probleme der Trennung minimieren sollen. Typisches Beispiel hierfür ist die Implantation von Hautexpandern in der Verwachsungszone, um den zu erwartenden Haut- und Weichteildefekt nach der Trennung überbrücken zu können (Abb. 3). Derartige Eingriffe sind seit Ende der 1980er-Jahre bei allen an unserer Klinik getrennten 4 Zwillingspaaren durchgeführt worden und haben wesentlich zu einem unproblematischen Wundverschluss beigetragen.
Auch die Anlage eine Anus praeter bei Ischiopagen kann vorbereitend sein, wenn eine Atresie vorliegt oder der bestehende Anus ein Hindernis bei der Trennungsoperation darstellt.
Die elektive Trennungsoperation sollte ab einem Alter von 3 Monaten vorgesehen werden, also nach dem ersten Trimenon, wenn sämtliche diagnostischen Untersuchungen abgeschlossen sind. Der Schweregrad des Eingriffs schwankt stark in Abhängigkeit von der Form der Verwachsungen und kann Operationszeiten bis >20 h erforderlich machen. Entsprechend ist eine Trennungsoperation ein Eingriff für ein sehr gut eingespieltes Team sämtlicher Fachbereiche und kann kein Ein-Mann-Unternehmen sein; insbesondere ist hier auch die Bedeutung zweier unabhängiger Anästhesieteams hervorzuheben.
Sekundäre Operationen werden einige Monate nach der Trennung durchgeführt und betreffen z. B. Korrekturen von Spaltbecken (symmetrische Ischiopagen), von Kielbrüsten (Xiphopagen) oder die Rückverlagerung eines Schutz-Anus-praeters bei Verwachsungen des Anogenitalbereichs bei Ischiopagen.
Die spätere Lebensqualität nach erfolgter Trennung ist bei Thorako-Xipho-Omphalopagen sicherlich am besten einzustufen, hingegen ist dies bei Ischiopagen häufig aufgrund der anogenitalen Verwachsungen nicht unproblematisch. Die schwierigsten Situationen stellen Kraniopagen dar, da deren Trennung oft mehr oder weniger schwere zerebrale Defekte nach sich zieht (Stone und Goodrich 2006).
So sollten vor einer Trennungsoperation auch ethische Überlegungen über Nutzen und Nachteile einer Trennungsoperation und mögliche konsekutive Verschlechterungen der Lebensqualität eines oder beider Zwillinge zugunsten einer persönlichen Autonomie angestellt werden (Lee et al. 2011; Savulescu und Persson 2016). Dabei sollte auch durchaus in Erwägung gezogen werden, eine Trennungsoperation abzulehnen.
Literatur
Lee M, Gosain AK, Becker D (2011) The bioethics of separating conjoined twins in plastic surgery. Plast Reconstr Surg 128:328e–334eCrossRefPubMed
Savulescu J, Persson I (2016) Conjoined twins: philosophical problems and ethical challenges. J Med Philos 41:41–55PubMed
Spitz L, Kiely EM (2003) Conjoined twins. JAMA 289:1307–1310CrossRefPubMed
Stone JL, Goodrich T (2006) The craniopagus malformation: classification and implications for surgical separation. Brain 129:1084–1095CrossRefPubMed
Waldhausen JHT (2005) Conjoined twins. In: Oldham KT, Colombani PM, Foglia RP, Skinner MA (Hrsg) Principles and practice of pediatric surgey. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia, S 1796–1804