Physiologie
Neben dem klassischen Kreislaufsystem Herz → Arterien → Kapillaren → Venen → Herz existiert der „Halbkreis“ der Lymphgefäße. Diese beginnen im Interstitium der Gewebe als initiale Lymphgefäße, welche sich über Präkollektoren und Kollektoren zu den großen Lymphstämmen vereinigen. Diese münden schlussendlich in die beiden Venenwinkel. In den Verlauf der Kollektoren und Stämme sind die Lymphknoten eingebaut.
Die wesentliche Aufgabe der Lymphgefäße ist der Abtransport der aus den Blutgefäßen nachgefüllten interstitiellen Flüssigkeit, die ca. 19 % der gesamten Flüssigkeitsmenge eines Körpers ausmacht.
Die klassische Frank Starling zugeschriebene Gleichung stammt gar nicht von diesem selbst; wenngleich Starling die wesentlichen Mechanismen in seiner bahnbrechenden Arbeit bereits beschrieben hat (Starling
1896). Die aus den Kapillaren im Gleichgewichtszustand filtrierte Flüssigkeitsmenge ist dabei abhängig von den Differenzen der hydrostatischen und kolloidosmotischen Drücke in der Kapillare und im Interstitium, der Filtrationsfläche und der H
2O-Permeabilität. Die kolloidosmotische Druckdifferenz wird zudem vom Reflexionskoeffizienten modifiziert, der im Wesentlichen einen organ-spezifischen Wert darstellt.
Die H
2O-Permeabilität und der Reflexionskoeffizient werden durch die Glykokalyx grundlegend beeinflusst (Levick und Michel
2010). Dadurch entsteht neben den intrakapillären und interstitiellen Räumen der sub-Glykokalyx Raum, der einen deutlich unterschiedlichen kolloidosmotischen Druck aufweist. Neben dem H
2O-Transport durch den interzellulären Spalt finden sich ein H
2O-Transport durch Aquaporine der Endothelzellen selbst und ein Plasmaproteintransport durch ein „großporiges System“ in Form von Vesikeln (Zytopempsis).
Fasst man alle Faktoren zusammen, ergibt sich, wie schon von Starling klar beschrieben, im Gleichgewichtszustand eine reine Filtration aus der Kapillare in das Interstitium; eine Resorption in die Kapillare kommt kurzfristig nur bei akuten Veränderungen statt, etwa bei Injektion von Flüssigkeit in das Interstitium (Brenner
2018).
Ausnahmen bilden hier die Darmschleimhaut während der H2O-Aufnahme aus dem Speisebrei, die peritubulären Kapillaren in der Niere und die Kapillaren in den Lymphknoten.
Die aus den Kapillaren in das Interstitium filtrierte Flüssigkeit muss durch das Interstitium zu den initialen Lymphgefäßen transportiert werden. Dieses Interstitium setzt sich neben den spezifischen Fasern des Gewebes vor allem aus
Glykosaminoglykanen und
Proteoglykanen zusammen. Glykosaminoglykane sind (sehr) große Moleküle aus Disaccharid-Untereinheiten. Dabei sitzen etwa Chondroitinsulfat-Einheiten rundbürstenartig an einem Core-Protein (etwa
Aggrecan), diese wiederum sind über Link-Proteine an einem (sehr) langen Hyaluronsäure-Molekül angeheftet (Tang et al.
1996). Diese Moleküle sind extrem hygroskopisch; sie können also eine große Menge H
2O nichtkovalent binden und somit in ein Gel verwandeln.
Durch ihre Größe können die
Proteoglykane – und auch die gewebespezifischen Fasern – nicht den gesamten Raum ausfüllen, es verbleiben interstitielle Spalträume, in denen das Wasser als Sol, also flüssig, verbleibt (Wiig und Swartz
2012). In diesen interstitiellen Spalträumen können die aus den Kapillaren stammenden und von den Zellen des Interstitiums produzierten Proteine relativ gut transportiert werden; allerdings limitieren die Größe der Räume und die sie umgebende – meist negative – elektrische Ladung diese Transportmöglichkeit. Diese interstitiellen Spalträume werden oftmals salopp als prälymphatische Kanäle bezeichnet (Asioli et al.
2008); dies ist insofern irreführend, weil nicht alle diese Spalträume tatsächlich Anschluss an ein initiales Lymphgefäß bekommen.
Die Aufnahme interstitieller Flüssigkeit in die initialen Lymphgefäße war Gegenstand zahlreicher Kontroversen, aber die Daten der letzten Jahrzehnte brachten mehr Klarheit, können die Frage jedoch nicht abschließend klären. Drei Mechanismen wurden vorgeschlagen: vesikulärer Transport, hydrostatische Druckgradienten und osmotische Druckgradienten (Wiig und Swartz
2012). Für den vesikulären Transportmechanismus bliebt an sich wenig Raum, obwohl neuere Berichte diese Hypothese infrage stellen könnten, zumindest für die initialen Lymphgefäße der Darmschleimhaut (Aukland und Reed
1993; Dixon et al.
2009; Miteva et al.
2010). Aktive Mechanismen des Flüssigkeitstransports über das Endothel initialer Lymphgefäße hinweg mögen unnötig erscheinen, verglichen mit dem passiven Transport, da die lymphendothelialen Zell-Zell-Übergänge sich überlappen und scheinbar extrem nachgiebig sind. Andererseits werden lymphatische Endothelzellen bei Dehnung extrem verdünnt, wodurch die relative Fläche für die interzelluläre Konvektion zu klein sein kann. Noch wichtiger ist, dass aktive Mechanismen eine rasche Kontrolle der Lymphbildung ermöglichen, ohne dabei die Integrität der Lymphgefäße zu verändern, etwa als Reaktion auf inflammatorische
Zytokine oder erhöhte interstitielle Flüssigkeitsvolumina (Wiig und Swartz
2012).
Druckmessungen zeigten bei Gesunden einen intravasalen Druck initialer Lymphgefäße von 533,28 ± 599,94 Pa (4,0 ± 4,5 mmHg) am Unterschenkel (Spiegel et al.
1992) und 1053,23 ± 453,29 Pa (7,9 ± 3,4 mmHg) am Fußrücken (Zaugg-Vesti et al.
1993), wobei durchaus auch negative Drücke auftreten können. Diese Zahlen sagen jedoch relativ wenig aus, da der entsprechende interstitielle hydrostatische Druck nicht bekannt ist. Generell wird angenommen, dass der interstitielle hydrostatische Druck um 0 Pa schwankt; die Zahlen reichen von negativen Drücken (−1066,56 Pa in der Lunge, −399,96 bis −266,64 Pa in der Subkutis) zu annähernd neutralen Drücken (0–266,64 Pa in Leber und Nieren) bis zu deutlich positiven Drücken im Gehirn (799,92 Pa) (Kurbel und Flam
2007). Messungen in der Haut liegen nur sporadisch vor, in der Haut des Rückens des fünften Fingers, gehalten auf Herzhöhe, betrug der Druck im Mittel −413,29 Pa (Wiig und Noddeland
1983). Dabei ergibt sich ein dreiteiliger Zusammenhang zwischen interstitiellem Druck und Volumen. Bei relativer Dehydratation, also sehr niedrigem Volumen, ergibt sich ein nahezu linearer Zusammenhang zwischen Volumen und Druck, d. h. bei zunehmendem Volumen steigt auch der Druck an. Erhöht sich nun das Volumen weiter (>50–100 % Zunahme vom Ausgangswert), steigt jedoch der Druck nicht weiter an; es ist ein Plateau erreicht. Erst wenn das Volumen noch weiter (>100 % Zunahme) ansteigt, steigt der Druck wieder weiter an (Wiig und Swartz
2012). Es ist daher anzunehmen, dass die intravasal gemessenen Werte im Normalfall durchaus den interstitiell gemessenen Werten entsprechen. Dies bedeutet, dass zwischen Interstitium und Lumen initialer Lymphgefäße kein oder nur ein minimaler hydrostatischer Druckgradient besteht, womöglich sogar ein von innen nach außen gerichteter Gradient. Damit fällt dieser Transportmechanismus eher gering aus (Elhay und Casley-Smith
1976). Berechnungen anderer Autoren legen jedoch nahe, dass ein Gradient von 12 Pa/mm ausreicht, um auch große Filtrate von den Kapillaren in die initialen Lymphgefäße zu bringen (Schmid-Schönbein
1990). Damit dieser hydrostatische Mechanismus funktioniert, ist es zudem notwendig, dass die initialen Lymphgefäße trotz des Druckgefälles nicht kollabieren; es scheint jedoch allgemein anerkannt zu sein, dass dies durch die Ankerfilamente gewährleistet wird (Aukland und Nicolaysen
1981; Aukland und Reed
1993; Reddy
1986). Insgesamt gilt jedoch auch für die Seite der initialen Lymphgefäße das Starling-Gleichgewicht. Die jeweiligen Parameter unterscheiden sich jedoch wesentlich von der Kapillar-Seite, sodass hier die Resultierende eine Netto-Ultra-Aufnahme der interstitiellen Flüssigkeit in das Lymphgefäßsystem darstellt (Brenner
2009).
Die
Lymphe selbst besteht aus verschiedenen Komponenten, die eine entsprechende „Last“ für den Abtransport bilden. Die Flüssigkeit bildet die Wasserlast, die Proteine die Eiweißlast, Zellen die Zelllast, langkettige
Fettsäuren und
Lipoproteine die Fettlast. Dazu kommen noch Fremdstoffe, wie z. B. injizierte Farbstoffe. Unter der Annahme annähernd normaler Kreislaufverhältnisse werden pro Tag über 3 m
3 Wasser durch die Blutgefäße gepumpt. Unter der weiteren Annahme einer 1 %igen Ultrafiltration werden gut 33 Liter aus den Kapillaren in die diversen Interstitien filtriert. Nach Passage von durchschnittlich vier Lymphknotenstationen, in denen jeweils etwa 50 % der durchströmenden Flüssigkeit in das venöse Subsystem resorbiert werden, gelangen die verbleibenden etwa 2 Liter über den Ductus thoracicus und den Ductus lymphaticus dexter in die jeweiligen Venenwinkel zwischen V. subclavia und V. jugularis interna.
Bei der Betrachtung des Lymphtransports sind drei Parameter wesentlich: die (maximale) Transportkapazität des Lymphgefäßsystems, die Summe der lymphpflichtigen Lasten (vor allem natürlich die Wasserlast) und das aktuelle Lymphzeitvolumen, also jenes Volumen, das zum aktuellen Zeitpunkt tatsächlich transportiert wird. Im Regelfall/Ruhezustand sind Lymphlast und Lymphzeitvolumen ident und liegen in etwa bei 20 % der Transportkapazität. Steigt nun kurzfristig die Lymphlast an, kann das Lymphsystem darauf reagieren und die Transportkapazität ebenfalls erhöhen. Die Bereitschaft des Lymphsystems, eine erhöhte Lymphlast zu transportieren ist jedoch enden wollend; nach einiger Zeit (Wochen – Monate – Jahre) ermüden die Lymphgefäße und die Transportkapazität sinkt wieder; die Folge ist ein Ödem. Ein Ödem ist natürlich auch dann die Folge, wenn die Lymphlast die maximale Transportkapazität übersteigt. Ein
Lymphödem ist zumeist die Folge, wenn aufgrund der Schädigung von Lymphgefäßen die maximale Transportkapazität unter die Lymphlast sinkt.