Skip to main content
Klinische Neurologie
Info
Verfasst von:
Eckhard Möbius
Publiziert am: 08.02.2018

Blasenfunktionsstörungen in der Neurologie

Blasenfunktionsstörungen stellen insbesondere bei Erkrankungen des Rückenmarks ein wichtiges Symptom dar. Einfache diagnostische Maßnahmen wie Anamneseerhebung, klinische Untersuchung und Restharnbestimmung sind oft für eine Therapieplanung ausreichend. Urodynamische Messmethoden werden in Abhängigkeit von der neurologischen Grunderkrankung und der Behandlungsstrategie gezielt eingesetzt. Vorrangig ist immer eine kausale Therapie. So kann sich auch noch Jahre nach operativer Beseitigung einer Kaudakompression eine Blasenlähmung zurückbilden. Bei persistierender Blasenentleerungsstörung ist der intermittierende Selbstkatheterismus erforderlich. Eine wirksame pharmakologische Behandlung existiert nur für den hyperaktiven Detrusor.
Blasenfunktionsstörungen stellen insbesondere bei Erkrankungen des Rückenmarks ein wichtiges Symptom dar. Einfache diagnostische Maßnahmen wie Anamneseerhebung, klinische Untersuchung und Restharnbestimmung sind oft für eine Therapieplanung ausreichend. Urodynamische Messmethoden werden in Abhängigkeit von der neurologischen Grunderkrankung und der Behandlungsstrategie gezielt eingesetzt. Vorrangig ist immer eine kausale Therapie. So kann sich auch noch Jahre nach operativer Beseitigung einer Kaudakompression eine Blasenlähmung zurückbilden. Bei persistierender Blasenentleerungsstörung ist der intermittierende Selbstkatheterismus erforderlich. Eine wirksame pharmakologische Behandlung existiert nur für den hyperaktiven Detrusor.

Allgemeiner Teil

Häufigkeit und Vorkommen
Eine Vielzahl neurologischer Erkrankungen kann zu Blasenfunktionsstörungen führen. Dies gilt vor allem dann, wenn sie mit einer Rückenmarkschädigung assoziiert sind. Allein bei der multiplen Sklerose (MS) mit ca. 4000 Neuerkrankungen/Jahr in Deutschland treten im Krankheitsverlauf bei bis zu 80 % der Patienten Blasenstörungen auf, die sich überwiegend durch eine Beeinträchtigung der Speicherfunktion mit imperativem Harndrang, Pollakisurie und Dranginkontinenz manifestieren, bei spinalen Läsionen aber auch mit einer Störung der Harnentleerung kombiniert sein können. Auch wenn Blasenfunktionsstörungen bei Erkrankungen des Rückenmarks keineswegs obligat sind, muss eine mögliche Beteiligung des unteren Harntrakts ausgeschlossen werden, da diese anfangs asymptomatisch verlaufen kann. Nach traumatischen Querschnittsläsionen, deren Prävalenz beispielsweise in den USA bei 2,3/100.000 Einwohner liegt, ist eine Blasendysfunktion mit Gefährdung des oberen Harntrakts die Regel. Die wichtigsten Erkrankungen, die auf Rückenmarkebene zu einer Störung von Harnspeicherung und/oder -entleerung führen können, sind in der folgenden Übersicht aufgelistet.
Spinale Ursachen von Blasenfunktionsstörungen
  • Zervikale Spondylose (Myelopathie)
  • Trauma
  • Bandscheibenvorfall
  • Tumor
  • Vaskuläre Myelopathie (z. B. Spinalis-anterior-Syndrom, spinale Durafistel, AV-Malformation, Vaskulitis)
  • Kongenitale Fehlbildungen (z. B. Spina bifida, Tethered-Cord-Syndrom, Myelomeningozele)
  • Myelitis (z. B. Zoster segmentalis, Herpes simplex, humanes T-lymphotropes Virus 1 [HTLV-1], HIV, Poliomyelitis, Neurolues, Neuroborreliose, epiduraler Abszess)
  • Degenerative und heredodegenerative Myelopathie (z. B. amyotrophe Lateralsklerose [ALS], Multisystematrophie, Friedreich-Ataxie, spastische Paraparese)
  • Metabolische Myelopathie (z. B. Adrenomyeloneuropathie, funikuläreMyelose)
  • Iatrogene Myelopathie (z. B. nach Radiatio, Kordotomie)
Grundlagen, Ätiologie und Pathogenese
Wie eine PET-Studie, die 1997 von Blok et al. publiziert wurde, bei gesunden männlichen Probanden gezeigt hat, ist die zerebrale Kontrolle über Harnspeicherung und -entleerung bei Rechtshändern sowohl supra- als auch infratentoriell überwiegend rechtshirnig lokalisiert. Informationen über den Grad der Blasenfüllung werden über den N. pelvicus an Neurone des sog. sakralen Miktionszentrums im Lumbosakralmark vermittelt, das wiederum Signale an das periaquäduktale Grau im Mittelhirn sendet, eine Region, die für die Schmerzempfindung bekannt ist. Wenn die Blase so stark gefüllt ist, dass eine Miktion gewünscht wird, wird von höheren Hirnregionen, z. B. dem Gyrus frontalis superior (Abb. 1), kontrolliert, ob der richtige Zeitpunkt und Ort für die Blasenentleerung gegeben ist. Wenn dies der Fall ist, erlaubt das sog. emotional-motorische System, dass die mediale präoptische Region im rostralen Abschnitt des Hypothalamus direkt das pontine Miktionszentrum aktiviert und über absteigende Bahnen im Rückenmark das parasympathische Kerngebiet erregt, sodass eine Kontraktion des Blasenmuskels resultiert. Gleichzeitig wird das sympathische Nervensystem, das in der Füllungsphase aktiv war, gehemmt, und es folgt eine Öffnung des Blasenhalses. Die Relaxation der quergestreiften Schließ- und Beckenbodenmuskulatur wird auf Hirnstammebene reguliert, indem eine mehr lateral und ventral vom pontinen Miktionszentrum gelegene Region, die direkt auf das Pudenduskerngebiet (Onuf-Nukleus) projiziert und für die tonische Aktivität des quergestreiften Sphinkters in der Harnspeicherphase verantwortlich ist, gehemmt wird. Die Erschlaffung der Schließmuskulatur ermöglicht eine koordinierte Blasenentleerung, die bei intakten Afferenzen in der Harnröhre restharnfrei ist. Die Miktion beruht also auf einer Reflexaktivierung parasympathischer Efferenzen (N. pelvicus) zur Blase, auf der Abnahme hemmender sympathischer Aktivität (N. hypogastricus) und einer Aktivitätsminderung somatischer Efferenzen (N. pudendus) zur Schließmuskulatur, wobei sekundäre Reflexe, ausgelöst durch Harnfluss in der Urethra, den Miktionsreflex bahnen und eine vollständige Blasenentleerung begünstigen.
Detrusorhyperaktivität
Partielle Läsionen des Rückenmarks, die vornehmlich die Seitenstränge betreffen, über die wahrscheinlich die Detrusoraktivität moduliert wird, haben eine Enthemmung des Miktionsreflexes zur Folge, die nach der Nomenklatur der „International Continence Society“ als neurogene Detrusorhyperaktivität bezeichnet wird und je nach Ausprägung durch imperativen Harndrang, Pollakisurie und Harninkontinenz charakterisiert ist. Besonders häufige Ursachen sind zervikale Entmarkungen bei multipler Sklerose oder spondylotisch bedingte Myelopathien in Höhe des Halsmarks, die dazu führen, dass inhibitorische Einflüsse kortikaler und subkortikaler Hirnregionen, die über das pontine Miktionszentrum und absteigende Bahnsysteme die Detrusormotoneurone im Sakralmark kontrollieren, nicht mehr ausreichend wirksam werden. Da das Zusammenspiel zwischen Blase und Schließmuskulatur in der Regel nicht gestört ist, resultiert in der Regel keine signifikante Restharnbildung. Gleiches gilt für die wesentlich häufigere neurogene Detrusorhyperaktivität bei zerebraler Manifestation einer MS, vaskulären Erkrankungen des Gehirns, Nomaldruckhydrozephalus und anderen demenziellen Prozessen, wenn es zu einer Funktionsstörung kortikaler hemmender Bahnen gekommen ist.
Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
Eine zusätzliche Schädigung aszendierender Bahnen (Hinterstränge) des Rückenmarks, vor allem auf thorakaler Ebene, führt zu einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, die klinisch durch eine Drangsymptomatik mit oder ohne Inkontinenz, eine erschwerte Miktionseinleitung, unwillkürliche Unterbrechungen des Harnstrahls und fast immer durch eine vermehrte Restharnbildung charakterisiert ist. Sie findet sich besonders oft bei Patienten mit fortgeschrittener multipler Sklerose (dann in der Regel irreversibel) und bei traumatischen Querschnittsläsionen, wenn die spinale Schockphase abgeklungen ist, sowie bei spondylotischen Myelopathien. Seltenere Ursachen sind zervikale und thorakale Bandscheibenvorfälle, Querschnittsmyelitiden, epidurale und subdurale Hämatome und Abszesse, vorausgegangene Operationen von thorakal gelegenen Aortenaneurysmen, spinale arteriovenöse Malformationen und Durafisteln sowie Tumoren, Heredoataxien und Myelodysplasien. Bei all diesen Erkrankungen wird entweder durch eine mechanische, entzündliche oder ischämische Läsion des Myelons oder durch degenerative Mechanismen das Zusammenspiel zwischen Blase und quergestreiftem Harnröhrensphinkter insofern gestört, als entweder ein inadäquat vermehrter Sphinktertonus resultiert oder die zeitliche Abstimmung zwischen der Aktivität des Blasen- und Schließmuskels fehlt und damit der Blasenmuskel gegen einen vermehrten Widerstand arbeiten muss.
Detrusorhypo-/akontraktilität
Läsionen des Rückenmarks in Höhe der Konus-Kauda-Region können zu einer Beeinträchtigung der sensiblen und/oder motorischen Innervation der Blase führen mit der Folge einer Blasenmuskelschwäche (Detrusorhypokontraktilität) oder Blasenlähmung (Detrusorakontraktilität). Klinisch manifestiert sich die Detrusorschwäche durch einen erschwerten Miktionsbeginn mit Einsatz der Bauchpresse oder einen Harnverhalt. Neben einer Überlaufinkontinenz kann eine neurogene Stress- oder Belastungsinkontinenz infolge einer Sphinkterhypoaktivität resultieren, wenn der N. pudendus in Höhe oder unterhalb seiner Vorderhornzellen geschädigt wird. Häufigere Ursachen einer Läsion der Konus-Kauda-Region sind Traumata, mediale Bandscheibenvorfälle und Tumoren. Seltenere Ursachen sind angeborene lumbosakrale Fehlbildungen (Spina bifida, Meningomyelozele, Tethered-Cord-Syndrom), sakrale Myeloradikulitiden und spinale Durafisteln.
Auch die sog. spinale Schockphase nach einer traumatischen Querschnittsläsion des Rückenmarks auf zervikalem und thorakalem Niveau ist durch eine Detrusorakontraktilität charakterisiert, wenn unmittelbar im Anschluss an das Trauma eine schlaffe Lähmung und ein Reflexverlust unterhalb der Schädigung resultieren. Eine Detrusorakontraktilität besteht auch in der Frühphase eines Spinalis-anterior-Syndroms sowie bei Querschnittsmyelitiden auf suprasakraler spinaler Ebene. Die hierfür verantwortlichen Faktoren sind noch nicht bekannt; wahrscheinlich ist eine ausreichende Bahnung des Miktionsreflexes durch Großhirnaktivität und pontines Miktionszentrum nicht mehr gewährleistet.
Diagnostik
Eine Synopsis pragmatischer diagnostischer Maßnahmen bei neurogener Blasendysfunktion ist in Form eines Fließdiagramms in Abb. 2 dargestellt. Die einzelnen Untersuchungsschritte werden im Folgenden näher erläutert.
Klinische Diagnostik
Bei Patienten mit Erkrankungen des Rückenmarks ist eine gründliche Anamneseerhebung bezüglich der vegetativen Funktionen wichtig, wobei nicht nur nach einer möglichen Blasenstörung, sondern auch nach einer Beeinträchtigung sexueller Funktionen sowie der Darmtätigkeit gefragt werden muss. Auch gilt es, Vorerkrankungen wie Polyneuropathien, urologische und gynäkologische Behandlungen oder operative Eingriffe im kleinen Becken zu erfassen, die zu einem Mischbild unterschiedlicher neurogener Blasenstörungen führen können. Bei Patienten mit imperativem Harndrang, Pollakisurie und Dranginkontinenz ist ergänzend ein Miktionsprotokoll sinnvoll, das der Patient über einen Zeitraum von 48 h führen soll. Hierbei werden die zugeführte Flüssigkeitsmenge, der jeweilige Miktionszeitpunkt mit Harnmenge, Inkontinenzepisoden und eventuelle Begleitsymptome wie abnorm starker Drang oder Schmerzen bei der Miktion notiert.
Im Anschluss an den üblichen neurologischen Untersuchungsgang ist eine klinische uroneurologische Untersuchung erforderlich, bei der Tonus und Willkürinnervation des M. sphincter ani externus, sakrale oligo- und polysynaptische Reflexe wie Pudendoanal-, Bulbokavernosus- (S2–S4) und Analreflex (S4) sowie die Perianalsensibilität (S4–S5) geprüft werden. Die Beurteilung von Tonus und Willkürinnervation des M. sphincter ani externus erfolgt am einfachsten in Seitenlage des Patienten mit digitaler Untersuchung des Analkanals. In gleicher Position kann der Pudendoanalreflex, der bis auf den Erfolgsmuskel mit dem Bulbokavernosusreflex identisch ist, geprüft werden, indem entweder die Glans penis oder die Klitoris mit der freien Hand des Untersuchers komprimiert werden. Alternativ können Stichreize am Penisschaft oder in der Klitorisregion gesetzt werden, die im Falle einer positiven Reflexantwort zu einer prompten Kontraktion des M. sphincter ani externus führen.
Ein normaler oder erhöhter Tonus und eine reduzierte oder aufgehobene Willkürinnervation des M. sphincter ani externus sind bei erhaltenen sakralen Reflexen Indiz für eine Pyramidenbahnschädigung. Bei einer Konus-Kauda-Läsion sind Tonus und Willkürinnervation des M. sphincter ani externus reduziert oder aufgehoben, die sakralen Reflexe abgeschwächt oder erloschen und die Perianalsensibilität gestört. Zusätzlich besteht nahezu obligatorisch eine ein- oder beidseitige Parese der Zehenflexoren, da deren Innervation ebenso wie fast die gesamte viszeromotorische Aktivität zum kleinen Becken über die Nervenwurzel S3 geleitet wird.
Die klinische Diagnostik wird ergänzt durch eine Inspektion des Abdomens und des äußeren Genitales, eine rektale Untersuchung der Prostata und eine Labordiagnostik, die einen Urinstatus, eine mikrobielle Harnuntersuchung sowie die Bestimmung von Harnstoff und Kreatinin einschließt.
Ultraschalldiagnostik
Von herausragender Bedeutung für die Diagnostik und Therapiekontrolle bei neurogenen Blasenstörungen ist die Restharnsonografie, die routinemäßig bei Patienten mit Rückenmarkerkrankungen und möglichst wiederholt bei Nachweis eines vermehrten Residualvolumens erfolgen muss. Eine signifikante Restharnbildung liegt vor, wenn diese 15–20 % der Blasenkapazität überschreitet. Erhöhter Restharn deutet auf eine Blasenmuskelschwäche, eine Abflussbehinderung (Obstruktion) oder beides hin.
Bei allen Patienten mit Blasenentleerungsstörungen infolge einer spinalen Erkrankung ist zusätzlich eine Nierensonografie erforderlich, um mögliche Veränderungen des oberen Harntrakts (z. B. Hydronephrose), eine größere Konkrementbildung oder eine Ureterdilatation aufzudecken (s. auch Abb. 4).
Radiologische Diagnostik
Wenn sonografisch ein pathologischer Befund an den Nieren, eine Ureterdilatation oder eine Konkrementbildung nachgewiesen wird, sollten eine intravenöse Urografie oder eine MR-Urografie zur Beurteilung der Morphologie des oberen Harntrakts durchgeführt werden.
Bei Patienten mit Querschnittsläsionen ist nach Entwicklung einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, aber auch im Falle einer persistierenden Detrusorakontraktilität eine Miktionszysturethrografie zum Ausschluss eines vesikoureterorenalen Refluxes erforderlich, der bei unphysiologisch hohen intravesikalen Druckverhältnissen und rezidivierenden Harnwegsinfekten zu schweren irreversiblen Nierenparenchymläsionen führen kann. Die Miktionszysturethrografie ermöglicht auch die Lokalisation einer funktionellen oder mechanischen Obstruktion in Höhe des quergestreiften Sphinkters oder Blasenhalses und eine Beurteilung der Blasenmorphologie (s. auch Abb. 6). Ihre separate Durchführung erübrigt sich, wenn eine Videourodynamik (s. unten) geplant ist.
Neurophysiologische Diagnostik
Neurophysiologische Messungen der sakralen Reflexe, insbesondere des Bulbokavernosusreflexes, sowie die Ableitung pudendus-evozierter Potenziale haben zu einem besseren Verständnis der Physiologie des unteren Harntrakts beigetragen. Ihr klinischer Stellenwert ist gering, da ausschließlich dickmyelinisierte Fasern des somatischen N. pudendus untersucht werden, während sich die funktionell wesentlich bedeutsameren autonomen Nerven einer elektrophysiologischen Routinediagnostik entziehen. Auch sind selbst bei Gesunden Pudendus-SEP (somatosensibel evozierte Potenziale) nicht immer evozierbar. Von wesentlich größerem Wert ist dagegen die Nadelelektromyografie (EMG) des Beckenbodens, die z. B. im Fall einer persistierenden Blasenlähmung nach suprasakraler spinaler traumatischer Läsion eine okkulte Schädigung der Konus-Kauda-Region nachweisen hilft. Mittels konzentrischer Nadelelektroden wird bevorzugt der Analsphinkter untersucht und eine Analyse von möglichst 10 unterschiedlichen motorischen Einheiten durchgeführt. Indiz für eine Denervierung und einen chronisch neurogenen Umbau sind vermehrt polyphasische und verbreiterte (Potenzialdauer mehr als 10 ms) Potenziale. Eine wichtige Bedeutung kommt dem EMG auch zu, wenn es gilt, zwischen einer Multisystematrophie und einem idiopathischen Parkinson-Syndrom zu differenzieren. Bei der Multisystematrophie lassen sich, wenn sie mit einem progressiven autonomen Versagen assoziiert ist, aufgrund einer Degeneration der Pudendusmotoneurone im sog. Onuf-Nukleus chronisch neurogene Veränderungen nachweisen, die beim Parkinson-Syndrom fehlen.
Uroflowmetrie
Die Uroflowmetrie ist eine nichtinvasive Untersuchungsmethode, bei der der Harnfluss registriert wird. Der Patient wird gebeten, sobald er Harndrang verspürt, in einen Behälter zu urinieren, an dessen Basis sich entweder eine rotierende Scheibe, die durch den Harnstrahl abgebremst wird, oder eine elektronische Waage befindet. Der mittlere und maximale Harnfluss, das Miktionsvolumen und die Miktionsdauer werden registriert. Wichtiger noch als numerische Daten ist die Kurvenform, die aufgrund lokaler urologischer Probleme (Prostatahyperplasie, Harnröhrenstriktur) oder neurogener Störungen der Blasenentleerung pathologisch verändert sein kann (Abb. 3). Ein sog. Stakkato- oder Multispike-Flow ist verdächtig auf eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, während eine sägezahnförmige Flusskurve bei einer Detrusorakontraktilität mit passivem Entleerungsmodus durch Einsatz der Bauchpresse typisch ist. Eine deutlich verlängerte Miktionsphase mit protrahiertem Plateau und signifikant reduziertem mittlerem und maximalem Harnfluss ist charakteristisch für eine mechanische infravesikale Abflussbehinderung, z. B. infolge eines Prostataadenoms.
Zusammen mit der Restharnsonografie stellt die Uroflowmetrie eine wichtige Screeningmethode dar, die für die Therapieplanung ausreichen kann.
Zystometrie (Blasendruckmessung)
Die Zystometrie ist die klassische urodynamische Messmethode, bei der während kontinuierlicher Blasenfüllung der Druck registriert und eine Beurteilung des Druck-Volumen-Verhaltens der Blase ermöglicht wird. Um den eigentlichen Detrusordruck erfassen zu können, ist eine simultane Registrierung von intravesikalem und abdominellem Druck durch Einbringen von zwei Messkathetern erforderlich. Zur Messung des intravesikalen Drucks wird ein Katheter transurethral eingeführt und über diesen auch die Blase gefüllt; ein zweiter Messkatheter wird entweder intrarektal oder intravaginal appliziert, um den abdominellen Druck zu erfassen. Die elektronische Subtraktion ergibt dann den Detrusordruck. Die Zystometrie ermöglicht eine Beurteilung des Detrusorverhaltens in der Füllungs- und Entleerungsphase. Für eine Detrusorhyperaktivität typisch ist ein abrupter Anstieg des Detrusordrucks in der Füllungsphase, den der Patient willkürlich nicht unterdrücken kann und der gewöhnlich von Dranginkontinenz begleitet wird. Charakteristisch für die Detrusorakontraktilität ist das Fehlen jeglicher Detrusoraktivität in der Füllungs- und Entleerungsphase sowie der Einsatz der Bauchpresse während der Miktion mit simultanem Anstieg von intravesikalem und abdominellem Druck. Gelegentlich kann, und zwar insbesondere nach tiefen Querschnittsläsionen (Konus-Kauda-Region), die Dehnbarkeit der Blase abnehmen, was zu einem kontinuierlichen Anstieg des intravesikalen Drucks in der Füllungsphase führt, ohne dass nach Erreichen der maximalen Blasenkapazität aktive Detrusorkontraktionen auslösbar sind (sog. Low-Compliance-Blase, Abb. 5).
Zweckmäßigerweise wird die Zystometrie mit einer Uroflowmetrie und der kontinuierlichen Ableitung eines Beckenboden-EMG kombiniert, wobei ein Oberflächen-EMG vom M. sphincter ani externus in der Regel ausreicht. Ein abnorm hoher Miktionsdruck in der Entleerungsphase bei reduziertem maximalen Flow und multispike-förmiger Flowkurve beweist bei gleichzeitigem Nachweis eines nicht relaxierenden oder überaktiven Sphinkters eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie.
Die simultane Druck-Flow-EMG-Registrierung ist unerlässlich, wenn eine operative urologische Intervention (z. B. bei benigner Prostatahyperplasie) geplant oder im Hinblick auf die zugrunde liegende Erkrankung (Querschnittsläsion) ein erhöhtes Risiko für den oberen Harntrakt gegeben ist. Da die EMG-Ableitung technisch mitunter unbefriedigend ist, wozu Bewegungs- und Benetzungsartefakte beitragen, wird in großen urodynamischen Zentren zunehmend die Technik der sog. Videourodynamik eingesetzt, bei der synchron eine Druckmessung und eine Zysturethrografie durchgeführt werden. Die fluoroskopische Darstellung des unteren Harntrakts ermöglicht die röntgenologische Lokalisation einer infravesikalen Abflussbehinderung (Blasenhals oder quer gestreifter Sphinkter), eine Beurteilung der Blasenmorphologie (trabekuliert – nichttrabekuliert) und die Dokumentation eines vesikoureterorenalen Refluxes, sodass die separate Durchführung einer Miktionszysturethrografie entfällt.

Spezieller Teil

Detrusorhyperaktivität

Fast alle in der Übersicht am Anfang dieses Kapitels aufgeführten neurologischen Erkrankungen können zu partiellen spinalen Läsionen und einer isolierten Beeinträchtigung der Harnspeicherung, d. h. zu einer Detrusorhyperaktivität führen, wie sie auch bei zerebralen Erkrankungen wie Schlaganfällen, Parkinson-Syndrom und Normaldruckhydrozephalus infolge einer Schädigung suprapontiner inhibitorischer Bahnen resultiert. Bei der multiplen Sklerose kann sie im Krankheitsverlauf bei bis zu 80 % der Betroffenen auftreten, wenn Entmarkungen nicht nur zerebral, sondern auch im zervikalen oder thorakalen Myelon lokalisiert sind.
Klinik
Leitsymptome der Detrusorhyperaktivität sind Pollakisurie, Nykturie, imperativer Harndrang und Dranginkontinenz. Die Miktion ist restharnfrei.
Diagnostik
Die Anamnese einschließlich Miktionsprotokoll, die klinische Untersuchung und die sonografische Restharnmessung zum Ausschluss einer asymptomatischen Restharnbildung sind ausreichend, um die Verdachtsdiagnose einer Detrusorhyperaktivität zu stellen und eine Therapie einzuleiten. Eine Druck-Flow-EMG-Registrierung, ggf. in Kombination mit einer Urethrozystoskopie ist lediglich erforderlich, wenn Zweifel an der Diagnose bestehen und eine Therapieeskalation wie Botulinumtoxin-Injektionen oder operative urologische Interventionen geplant sind.
Therapie
Vor dem Einsatz medikamentöser oder gar operativer Behandlungsmaßnahmen sollte jeder Patient mit überaktiver Blase darüber aufgeklärt werden, dass er selbst zu einer Besserung der Problematik beitragen kann. Sinnvoll sind zum einen eine Ernährungsumstellung mit Vermeidung alkoholischer und kohlensäurehaltiger Getränke und ein weitgehender Verzicht auf scharfe Gewürze, Süßstoffe und Schokolade, zum anderen eine Gewichtsabnahme bei Übergewicht und regelmäßige sportliche Betätigung zur Entlastung und Kräftigung der Beckenbodenmuskulatur. Neben einer Änderung des Lebensstils ist ein Blasentraining mit allmählicher Ausdehnung des Miktionsintervalls angeraten. Sobald der Patient starken Harndrang verspürt, soll er sich hinsetzen oder stillstehen und tief einatmen, während gleichzeitig die Beckenbodenmuskulatur willkürlich angespannt wird. Dabei sollte sich der Patient den Drang wie eine Welle vorstellen, die ansteigt und ausrollt. Erst wenn der Drang abgeklungen ist, darf langsam die Toilette aufgesucht werden. Ziel dieser Verhaltenstherapie ist eine Ausdehnung des Miktionsintervalls auf 3–4 Stunden und eine Reduktion der Inkontinenzepisoden.
Eine signifikante Beeinflussung von Harndrang und Inkontinenz gelingt bei der Mehrzahl der Patienten aber erst durch den Einsatz von Medikamenten, die muskarinische Acetylcholinrezeptoren blockieren und als Antimuskarinaka oder Anticholinergika zusammengefasst werden. Ihre Wirkung beruht nicht nur auf einer Blockade von M2- und M3-Rezeptoren, sondern auch auf einer Blockade der sensiblen Impulse in der Blase. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Substanzgruppe gehören Oxybutynin, Tolterodin, Trospiumchlorid, Propiverin, Solifenacin und Darifenacin. Ihr Hauptvorteil besteht darin, dass sie vornehmlich die Speicherphase der Blase und nicht die Miktion beeinflussen, sodass die Blasenentleerung in aller Regel restharnfrei bleibt. Ihr großer Nachteil sind ihre anticholinergen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Tachykardie, Magenbeschwerden, Obstipation und Akkomodationsstörungen. Da außerdem im Gehirn Acetylcholin über den M1-Rezeptor kognitive Fähigkeiten wie Lernen und Aufmerksamkeit beeinflusst, muss mit dem Auftreten von Konzentrations- und Gedächtnisstörungen vor allem bei älteren Patienten gerechnet werden. Um dies zu vermeiden, geben wir dieser Patientengruppe bevorzugt Tolterodin, Darifenacin oder Trospiumchlorid, wobei Letzteres als quartäre Ammoniumbase nicht die Blut-Hirn-Schranke penetriert. Eine weitere sinnvolle Maßnahme zur Reduktion anticholinerger Nebenwirkungen stellt der Einsatz retardierter Präparate (z. B. Detrusitol retard, 1-mal 4 mg/Tag) oder eine transdermale Applikation dar, wie sie für Oxybutynin in Pflasterform verfügbar ist (Kentera-Pflaster). Bei der empfohlenen 2-mal wöchentlichen transdermalen Anwendung liegt beispielsweise das Auftreten von Mundtrockenheit im Placebo-Niveau.
Ein Urologikum mit einem anderen Therapieansatz namens Mirabegron, das 2014 zur Behandlung der überaktiven Blase eingeführt wurde und das sympathische Nervengeflecht in der Füllungsphase als β-3-Rezeptoragonist stimuliert, wurde 2015 wegen gescheiterter Preisverhandlungen von der Herstellerfirma wieder vom Markt genommen.
Cave
Viele Präparate zeigen ihre Wirkung erst nach 3–4 Wochen. Einer bedarfsweisen Medikation ist nicht immer Erfolg beschieden.
Als wichtigstes Second-Line-Medikament gilt, wenn eine Kombination von 2 verschiedenen Antimuskarinika über einen Zeitraum von 3 Monaten keinen ausreichenden Effekt gezeigt hat oder nicht vertragen wurde, Botulinumtoxin A, das bei Erwachsenen seit 2013 zur Behandlung der überaktiven Blase bei stabiler subzervikaler Rückenmarkschädigung oder multipler Sklerose zugelassen ist. Zur chemischen Denervierung des Blasenmuskels wird Botulinumtoxin A endoskopisch in Lokalanästhesie oder Kurznarkose in 20–40 Areale der Blasenwand injiziert. Kontinenz resultiert bei ca. 75 % der Patienten über durchschnittlich 7 Monate, allerdings auch eine so starke Dämpfung des Detrusors, dass ein intermittierender Selbstkatheterismus häufig erforderlich wird.
Wenn ein intermittierender Katheterismus vom Patienten nicht in Kauf genommen werden möchte oder wegen Übergewicht und mangelnder funktioneller Unabhängigkeit scheitert und somit Botulinumtoxin als Alternative zu Antimuskarinika nicht infrage kommt, kann man sich bei männlichen Patienten mit einem Kondomkatheter und Urinal behelfen. Ist dies nicht möglich, stellt wie bei weiblichen Patienten, die eine fortbestehende Inkontinenz nicht tolerieren wollen und Vorlagen oder Windeln nicht akzeptieren, die Implantation eines sakralen Neuromodulators eine Alternative dar. Davon ausgehend, dass Sphinkterkontraktionen die Detrusoraktivität hemmen, wird zunächst über eine perkutane Foramenelektrode eine temporäre elektrische Stimulation der Sakralwurzel S3 vorgenommen. Gelingt hierdurch eine Inhibition der Detrusorhyperaktivität, erfolgt die Implantation einer Dauerelektrode in einem der S3-Foramina.
Ist trotz der genannten Maßnahmen eine befriedigende Kontinenz nicht herzustellen, bleiben als Ultima Ratio die Möglichkeit einer operativen Vergrößerung der Blase (sog. Augmentation) oder eine suprapubische Blasendrainage, der grundsätzlich der Vorzug vor einem transurethralen Verweilkatheter gegeben werden sollte.

Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD)

Eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) resultiert nach Schädigung deszendierender und aszendierender Bahnen des Rückenmarks auf zervikalem oder thorakalem Niveau und ist fast immer mit einer Detrusorhyperaktivität assoziiert, sodass eine Kombination von Harnentleerungs- und -speicherstörung vorliegt. Sie stellt bei Patienten mit fortgeschrittener multipler Sklerose die häufigste Ursache einer Blasenentleerungsstörung dar und folgt bei ca. 90 % aller Patienten mit traumatischen Querschnittsläsionen, wenn sich die klinische Situation nach Abklingen der sog. Schockphase stabilisiert hat. Fast alle in der Übersicht am Anfang dieses Kapitels zusammengefassten Erkrankungen können zu suprasakralen spinalen Myelopathien und zu einer Dyssynergie des quergestreiften Harnröhrensphinkters führen. Nur bei der Neuroborreliose ist bislang eine DSD nicht beschrieben.
Klinik
Leitsymptom der DSD ist eine gestörte Miktion mit unwillkürlichen Unterbrechungen und Abschwächung des Harnstrahls (sog. Stakkato-Miktion) infolge gesteigerter sakraler Reflexaktivität mit unzureichender Öffnung der Harnröhre (funktionelle infravesikale Obstruktion). Ist die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie nur gering ausgeprägt, kann eine erschwerte Miktionseinleitung einziges Symptom bei fehlender oder nur geringer Restharnbildung sein. Im Allgemeinen sind die Residualvolumina leicht- bis mittelgradig erhöht. Für eine deutlich vermehrte Restharnbildung können zusätzlich insuffiziente Detrusorkontraktionen verantwortlich sein, wenn einsetzende Sphinkterspastik rekurrent die parasympathischen Motoneurone hemmt oder eine ausreichende supraspinale Bahnung des Miktionsreflexes nicht mehr gegeben ist. Häufiger triggert die Abflussbehinderung in Höhe des spastisch reagierenden quergestreiften Harnröhrensphinkters unwillkürliche Detrusorkontraktionen mit abnormem Druckanstieg, sodass Inkontinenz resultiert, wenn der Harnröhrenverschlussdruck überschritten wird oder der spastische Sphinkter unwillkürlich relaxiert. Bei ausgeprägten spinalen Läsionen fehlen Blasenfüllungs- und -entleerungsgefühl sowie normaler Harndrang. Ein vages Blasenfüllungsgefühl kann bei der spinalen Reflexblase erhalten sein und wird dann über intakt gebliebene sympathische Afferenzen vermittelt. Bei inkompletten spinalen Läsionen wie bei der MS können Symptome eines imperativen Harndrangs mit Pollakisurie und Dranginkontinenz ganz im Vordergrund stehen, die durch eine leichte oder mäßig vermehrte Restharnbildung mit Verringerung der effektiven Blasenkapazität gefördert werden.
Bei ca. 80 % der Tetraplegiker und Paraplegiker mit hohen Querschnittsläsionen, aber auch bei nichttraumatischen Myelopathien kann als Komplikation eine autonome Dysreflexie auftreten, mit deren klinischer Symptomatik jeder Neurologe vertraut sein sollte.
Sie stellt ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis dar und ist durch eine paroxysmale Hypertonie gekennzeichnet, die unbehandelt zu einer hypertensiven Enzephalopathie mit Krämpfen und Bewusstseinsstörungen sowie intrakraniellen Blutungen führen kann. Bei ca. 75 % der Betroffenen ist eine Dehnung der Blasenwand (z. B. durch Abklemmen oder Verstopfung eines Blasenkatheters), bei ca. 20 % eine schwere Obstipation auslösender Faktor. Andere Ursachen können diagnostische Eingriffe, Schmerzen durch Dekubitalulzera, Hitze- oder Kälteexposition oder gastrointestinale Erkrankungen bei Querschnittspatienten sein. Klinisch finden sich unterhalb der spinalen Läsion Blässe und eine Piloerektion, oberhalb der spinalen Schädigung führt der Blutdruckanstieg zu vermehrter Vagusaktivität mit Bradykardie, heftigen Kopfschmerzen und Gesichtsrötung.
Diagnostik
Bei Patienten mit möglicher Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie nach spinaler Schädigung sind eine gründliche klinische Untersuchung, wiederholte Restharnmessungen und eine Nierensonografie erforderlich. Die Restharnsonografie (falls möglich in Kombination mit einer Uroflowmetrie) kann für eine Verdachtsdiagnose und Therapieplanung ausreichen, wenn morphologische Veränderungen des oberen Harntrakts sowie rezidivierende fieberhafte Harnwegsinfekte fehlen. Bei allen Patienten mit vorausgegangener Querschnittsläsion ist eine Druck-Flow-EMG-Registrierung einschließlich Miktionszysturethrografie oder alternativ eine Videourodynamik erforderlich. Dies gilt auch für Patienten, bei denen operative urologische Maßnahmen vorgesehen sind. Mögliche Komplikationen einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie wie Pyelonephritiden, vesikoureterorenaler Reflux und autonome Dysreflexie bedürfen einer engen Kooperation zwischen Neurologen und Urologen. Dies gilt besonders, wenn der Verdacht auf eine zusätzliche mechanische Abflussbehinderung besteht.
Therapie
Die Behandlung der Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie wird im Wesentlichen durch die Art der zugrunde liegenden Erkrankung und die Klinik bestimmt.
MS-Patienten
Bei MS-Patienten, die zahlenmäßig im Patientengut einer neurologischen Klinik überwiegen, können Restharnmengen von 100–200 ml toleriert werden, wenn morphologische Veränderungen des oberen Harntrakts und rezidivierende fieberhafte Harnwegsinfekte fehlen. Das Risiko einer Nierenparenchymschädigung ist bei dieser Patientengruppe extrem gering. Komplikationen sind vielmehr durch den unkritischen Einsatz transurethraler Verweilkatheter und durch eine Urosepsis unter Immunsuppression zu erwarten. Vor allem bei weiblichen Patienten können einfache Maßnahmen wie eine längere Verweildauer auf der Toilette, die Vermeidung einer Obstipation und die Durchführung eines suprapubischen Beklopfens eine ausreichende Blasenentleerung und Besserung der Drangsymptomatik gewährleisten, zumal die relativ kurze weibliche Harnröhre dem sich kontrahierenden Blasenmuskel weniger Widerstand bietet als eine spastisch eingeengte männliche Harnröhre. Sonst gilt als Faustregel, dass bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie und Restharnmengen oberhalb von 100 ml mit einem intermittierenden Selbstkatheterismus begonnen werden sollte.
Medikamentöse Therapie
Eine wichtige Maßnahme, um die Blase von einem pathologischen Hochdruckreservoir wieder in ein Niedrigdruckreservoir umzuwandeln und Kontinenz herzustellen, ist nach Initiierung des intermittierenden Selbstkatheterismus die gleichzeitige Medikation mit Antimuskarinika oder eine Ruhigstellung des Detrusors mittels Botulinumtoxin.
Im Gegensatz zur pharmakologischen Dämpfung des Detrusors stehen wirksame orale Medikamente zur Beeinflussung der spastischen Schließmuskulatur nicht zur Verfügung. Antispastika wie Baclofen sind auch bei intrathekaler Applikation nicht ausreichend wirksam, können aber den intermittierenden Katheterismus durch Reduktion der Extremitätenspastik wesentlich erleichtern. α-Rezeptorenblocker werden häufig probatorisch eingesetzt, sind aber nur dann hilfreich, wenn aufgrund vermehrter noradrenerger Einflüsse eine zusätzliche Obstruktion in Höhe des Blasenhalses vorliegt.
Patienten mit Querschnittsläsionen
Bei bis zu 30 % der Patienten mit vorausgegangenen Querschnittsläsionen können effektive Detrusorkontraktionen durch suprapubisches Beklopfen oder perineale taktile Reize evoziert werden und eine ausreichende Blasenentleerung begünstigen, wenn die infravesikale Abflussbehinderung nicht zu ausgeprägt ist. Das Konzept eines Blasentrainings mittels Triggern ist aber nur noch bei Patienten mit einer hohen Tetraplegie und solchen, die einen Katheterismus verweigern, akzeptabel.
Die sicherste Maßnahme, um Kontinenz herzustellen und Schädigungen des oberen Harntrakts zu vermeiden, ist die Kombination einer pharmakologischen Dämpfung des hyperaktiven Detrusors mit der Durchführung des intermittierenden Selbstkatheterismus. Das Katheterisierungsintervall sollte so gewählt werden, dass die jeweils abgelassenen Harnmengen 400–500 ml nicht überschreiten.
Funktionelle Elektrostimulation
Eine Alternative für Patienten mit komplettem Querschnittssyndrom, das mehr als ein Jahr besteht, stellt die funktionelle Elektrostimulation der Sakralwurzeln nach vorheriger Hinterwurzeldurchtrennung S2–S4 dar. Zu bedenken ist, dass nach diesem Eingriff, der in einem spezialisierten Zentrum durchgeführt werden sollte, ein Verlust von Reflexerektionen in Kauf genommen werden muss und nicht immer eine restharnfreie Blasenentleerung erreicht wird.
Autonome Dysreflexie
Die Behandlung einer autonomen Dysreflexie besteht in der sofortigen Elimination der auslösenden Faktoren (z. B. Blasenentleerung, manuelle Ausräumung des Rektums) und Gabe einer rasch wirkenden antihypertensiven Medikation (z. B. Nifedipin, 10 mg oral oder Nitrolingual-Spray). Zur Prophylaxe ist, wenn eine autonome Dysreflexie ohne erkennbare Ursache rezidiviert, eine Langzeitmedikation mit einem selektiven α-Rezeptorenblocker (z. B. Terazosin) indiziert.

Detrusorhypo-/akontraktilität

Rückenmarkschädigungen in Höhe des Lumbosakralmarks oder der Kaudaregion führen zu einer primären Blasenlähmung (Detrusorhypokontraktilität oder Detrusorakontraktilität); Gleiches gilt für suprasakrale spinale Querschnittsläsionen in der Akutphase.
Klinik
Klinisch manifestiert sich die inkomplette oder komplette Detrusorlähmung durch einen erschwerten Miktionsbeginn mit Einsatz der Bauchpresse in der Entleerungsphase und fraktioniertem Harnstrahl oder durch einen Harnverhalt mit Überlaufinkontinenz. Ein akuter schmerzhafter Harnverhalt ohne Inkontinenz ist seltener, wird aber gelegentlich bei medialen Bandscheibenvorfällen und sakralen Myeloradikulitiden beobachtet. Eine neurogene Stress- oder Belastungsinkontinenz kann eintreten, wenn eine Läsion der Pudendusefferenzen in Höhe der Konus-Kauda-Region zu einer Sphinkterschwäche (Sphinkterhypoaktivität) geführt hat.
Diagnostik
Neben der klinischen Untersuchung sollten grundsätzlich eine Restharnbestimmung und Nierensonografie durchgeführt werden (Abb. 4). Nach tiefen traumatischen Querschnittslähmungen ist im Verlauf eine Druck-Flow-EMG-Registrierung erforderlich, um eine verminderte Blasendehnbarkeit (Low-Compliance-Blase) zu erkennen (Abb. 5). In der sog. Schockphase ist nach akuten Querschnittsläsionen eine urodynamische Diagnostik überflüssig. Persistiert nach primär suprasakraler spinaler Schädigung eine Detrusorakontraktilität, empfiehlt sich ein EMG des Analsphinkters, um eine klinisch okkulte Mitschädigung von Konus und Kauda nicht zu übersehen. Will ein Patient einen passiven Blasenentleerungsmodus beibehalten, ist eine Druck-Flow-EMG-Registrierung einschließlich Miktionszysturethrografie (alternativ Videourodynamik) unumgänglich, um morphologische Veränderungen der Blase (Trabekulation) oder einen vesikoureterorenalen Reflux auszuschließen (Abb. 6).
Therapie
Eine effektive uropharmakologische Behandlung der Blasenlähmung existiert nicht.
Therapieempfehlungen
  • Therapie der Wahl ist der intermittierende (Selbst-)Katheterismus. Dieser kann bei reversiblen neurologischen Erkrankungen beendet werden, sobald der Restharn weniger als 100 ml beträgt.
  • Entwickelt sich nach tiefen Querschnittsläsionen eine Low-Compliance-Blase, ist neben dem intermittierenden Katheterismus die Gabe von Antimuskarinika indiziert.
  • In der Phase der sog. Schockblase ist eine Harnableitung über einen suprapubischen Katheter auch zur besseren Flüssigkeitsbilanzierung sinnvoll. Hat ein chronischer Harnverhalt zu einer Überdehnung des Blasenmuskels geführt, kann eine Erholung seiner kontraktilen Elemente nach permanenter Harndrainage über einen suprapubischen Katheter resultieren.
  • Ist dies nach 3 Monaten nicht der Fall, sollte mit einem Selbstkatheterismus begonnen werden.
  • Ein passiver Blasenentleerungmodus mit Einsatz der Bauchpresse kann durch α-Blocker, die den Blasenhals weitstellen, begünstigt und von Patienten versucht werden, die einen Selbstkatheterismus nicht wünschen.
  • Zuvor muss aber eine komplette urodynamische Funktionsdiagnostik erfolgen, um zu hohe Miktionsdrücke und einen Reflux auszuschließen. Vom manuellen Ausdrücken der Blase mittels Crédé-Manöver ist generell abzuraten, da hierdurch ein Reflux in die Ureteren und Nieren gebahnt werden kann.
Sind alle Maßnahmen ohne Erfolg geblieben und lehnt der Patient einen sauberen intermittierenden Einmalkatheterismus ab, sind eine chronische Stimulation der Sakralwurzel S3 oder eine intravesikale Elektrotherapie zu überlegen. Die intravesikale Stimulation ist aber nur erfolgreich, wenn Afferenzen wenigstens teilweise intakt und motorische Efferenzen zum Detrusor noch vorhanden sind.
Besteht zusätzlich zur Blasenlähmung auch eine Parese des äußeren Harnröhrensphinkters (hypoaktiver Sphinkter), können ein Beckenbodentraining und ein Therapieversuch mit Duloxetin zur Steigerung des Sphinktertonus hilfreich sein. Als nächster Schritt können intraurethrale Kollagen-Injektionen versucht werden, bevor man die Implantation eines künstlichen Sphinkters oder eine Schlingensuspension erwägt.
Nachsorge
Nach Querschnittsläsionen ist in der Stabilisierungsphase und nach einem Jahr eine komplette Diagnostik mittels Druck-Flow-EMG-Registrierung einschließlich Miktionszysturethrografie oder Videourodynamik erforderlich. Dann sollten halbjährlich sonografisch Nieren- und Harntrakt sowie Laborwerte überprüft werden. Zeitlich terminierte Kontrolluntersuchungen sind bei unkompliziert verlaufenden Blasenfunktionsstörungen, wie dies für die Mehrzahl von MS-Betroffenen gilt, nicht erforderlich.
Die beste Infektprophylaxe wird durch eine restharnfreie Blasenentleerung und eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr (mindestens 2 l täglich) gewährleistet. Die Effektivität einer medikamentösen Ansäuerung des Harns ist zweifelhaft. Grundsätzlich bedarf eine asymptomatische Bakteriurie, wenn sie unter Durchführung eines intermittierenden Katheterismus auftritt, keiner antibiotischen Behandlung. Eine niedrig dosierte antimikrobielle Prophylaxe kann dann indiziert sein, wenn rekurrente fieberhafte Harnwegsinfekte in Kombination mit einem vesikoureterorenalen Reflux den Krankheitsverlauf komplizieren.

Facharztfragen

1.
Welche zentralen Nebenwirkungen von Antimuskarinika sind vor allem bei älteren Patienten zu beachten?
 
2.
Welche lebensbedrohliche Komplikation kann bei Patienten mit hohen Querschnittslähmungen auftreten?
 
3.
Welche Maßnahmen sind bei einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sinnvoll, um den oberen Harntrakt vor irreversiblen Schäden zu schützen?
 
Literatur
Zitierte Literatur
Blok BFM, Willemsen ATM, Holstege G (1997) A PET study on brain control of micturition in humans. Brain 120:111–121CrossRefPubMed
Weiterführende Literatur
Blaivas J, Chancellor M (1996) Atlas of urodynamics. Williams & Wilkins, Baltimore
Brindley GS, Rushton DN (1990) Long-term follow-up of patients with sacral anterior root stimulator implants. Paraplegia 28:469–475PubMed
Chancellor MB, Erhard MJ, Rivas DA (1993) Clinical effect of alpha-1 antagonism by terazosin on external and internal urinary sphincter function. J Am Paraplegia Soc 16:207–214CrossRefPubMed
Fowler CJ (1996) Investigation of the neurogenic bladder. J Neurol Neurosurg Psychiatry 60:6–13CrossRefPubMedPubMedCentral
Goepel M, Steinwachs KC (2007) Wie beeinflussen Medikamente zur Therapie der Harninkontinenz die Gehirnfunktion bei älteren Menschen? Urologe 46:387–392CrossRefPubMed
Gool JD van, de Jong TP, Boemers TM (1991) Einfluss des intermittierenden Katheterismus auf Harnwegsinfekte und Inkontinenz bei Kindern mit Spina bifida. Monatsschr Kinderheilkd 139:592–596
Groat WC de, Kawatani M, Hisamatsu T et al (1990) Mechanisms underlying the recovery of urinary bladder function following spinal cord injury. J Auton Nerv Syst 30:71–77
Hentzen C, Verrando A, Haddad R et al (2016) Urinary self-catheterization for the elderly: predictors for the success of the learning gesture. Ann Phys Rehabil Med 59:e103CrossRef
Kalsi V, Gonzales G, Popat R, Apostolidis A, Elneil S, Dasgupta P, Fowler CJ (2007) Botulinum injections for the treatment of bladder symptoms of multiple sclerosis. Ann Neurol 62:452–457CrossRefPubMed
Krassioukov A, Warburton DE, Teasell R, Eng JJ (2009) A systematic review of the management of autonomic dysreflexia after spinal cord injury. Arch Phys Med Rehabil 90:682–695CrossRefPubMedPubMedCentral
Madersbacher H (1990) The various types of neurogenic bladder dysfunction: an update of current therapeutic concepts. Paraplegia 28:217–229PubMed
Möbius E (1993) Spasticity of the lower urinary tract: therapeutic strategies. In: Thilmann AF, Burke D, Rymer Z (Hrsg) Spasticity: mechanisms and management. Springer, Berlin/Heidelberg/New York/Tokyo, S 363–371CrossRef
Sakakibara R, Hattori T, Tojo M, Yamanishi T, Yasuda K, Hirayama K (1995) The location of the paths subserving micturition: studies in patients with cervical myelopathy. J Auton Nerv Syst 55:165–168CrossRefPubMed
Schurch B (2000) Neurogene Blasenfunktionsstörungen. Schweiz Med Wochenschr 130:1618–1626PubMed
Torrens M, Morrison JFB (1987) The physiology of the lower urinary tract. Springer, LondonCrossRef