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Klinische Neurologie
Info
Verfasst von:
Johannes Wöhrle
Publiziert am: 01.08.2017

Elektroneurografische Techniken

Die Elektroneurografie ist die Untersuchung der Fortleitung der Nervenimpulse in peripheren motorischen und sensiblen Nerven. Zur aussagekräftigen Beurteilung des peripheren Nervensystems und der Muskeln muss sie in Kombination mit der Elektromyografie angewandt werden, da sowohl myogene als auch neurogene Störungen eine Veränderung der motorischen Neurografie bewirken.
Die Elektroneurografie ist die Untersuchung der Fortleitung der Nervenimpulse in peripheren motorischen und sensiblen Nerven. Zur aussagekräftigen Beurteilung des peripheren Nervensystems und der Muskeln muss sie in Kombination mit der Elektromyografie angewandt werden, da sowohl myogene als auch neurogene Störungen eine Veränderung der motorischen Neurografie bewirken.
Sämtliche elektroneurografischen Techniken basieren darauf, dass mit definierten Rechteckstromimpulsen periphere Nerven leicht über Oberflächen- oder Nadelelektroden gereizt werden können. Auf diesen Rechteckimpuls getriggert, kann dann ein evoziertes Summenpotenzial von einem Muskel (M-Antwort oder evoziertes Muskelaktionspotenzial [EMAP]) oder ein sensibles Nervenaktionspotenzial (SNAP) mittels Oberflächenelektroden registriert und bei definierten Reizpunkten und den zugehörigen Abstandsmessungen eine Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) errechnet werden.

Motorische Neurografie

Zur Registrierung der EMAP werden Oberflächenelektroden über dem Muskel derart angebracht, dass die differente Elektrode über der Endplattenregion und die indifferente Elektrode über der Sehne des Muskels liegt (Belly-Tendon-Montage). Auf diese Weise stellen sich die EMAP als initial negative, im Normalfall biphasische Potenziale dar. Wichtig für die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse ist eine supramaximale Nervenreizung, die an der nicht mehr ansteigenden M-Antwort bei schrittweiser Erhöhung des Reizstromes zu erkennen ist. Die unterschiedlichen Anordnungen für die am häufigsten untersuchten peripheren Nerven sind der Literatur zu entnehmen (z. B. Kimura 2001; Stöhr und Pfister 2014), in Abb. 1 ist beispielhaft die Montage für den N. medianus dargestellt.
Zwischen der differenten Ableiteelektrode und der Reizelektrode ist zur Patientensicherheit und störungsfreien Aufnahme eine Erdelektrode anzubringen. Nach Stimulation des zugehörigen Nervs, z. B. N. medianus distal in der Höhe der proximalen Handgelenksfalte, erhält man ein EMAP sowie ein weiteres nach Stimulation proximal in der Ellenbeuge. Als Parameter (Abb. 2) werden die distal-motorische Latenz (DML oder distale Latenz [dL]), die distale und proximale EMAP-Amplitude (Peak-to-peak oder negativer Peak), Dauer und Fläche (des negativen Peaks oder gesamten Potenzials) sowie die mit der proximalen Latenz aus der Strecke zwischen den Stimulationsorten und der Latenzdifferenz errechnete Nervenleitgeschwindigkeit bestimmt.
In der Latenz der M-Antwort ist nicht nur die Zeit für die Impulsleitung entlang des Nervs, sondern auch für die synaptische Übertragung und die Leitung entlang der Muskelfasern bis unter die Elektrode enthalten. Diese relativ variable Zeit rechnet sich durch die Subtraktion der Latenzen der Stimulationspunkte jeweils heraus, und die NLG wird für das zwischen den motorischen Stimulationspunkten liegende Nervensegment angegeben. Mehrere Faktoren können das Ergebnis der Messung beeinflussen (Tab. 3).
Tab. 1 gibt die Normwerte der motorischen Nervenleitungsstudien wieder.
Tab. 1
Normwerte für die motorische Nervenleitgeschwindigkeit (NLG). (Mod. nach Stöhr und Pfister 2014)
Nerv
Ableitemuskel
Distale Latenz (ms)
NLG (m/s)
Amplitude (mV)
Mittelwert
Oberer Grenzwert
Mittelwert
Unterer Grenzwert
Mittelwert
Unterer Grenzwert
N. medianus
M. abductor pollicis brevis
3,7
4,2
56,7
50,0
13,2
5,0
N. ulnaris
M. abductor digiti minimi
2,5
3,3
59,8
50,6
12,2
4,0
N. peronaeus
M. extensor digitorum brevis
3,7
4,8
49,5
41,7
10,1
4,0
N. tibialis
M. abductor hallucis
3,9
5,1
48,8
40,6
19,1
5,0

Sensible Neurografie

Von sensiblen oder gemischten Nerven wird mittels Oberflächenelektroden oder subkutanen nervennahen Nadelektroden bei orthodromer Technik nach Reizung des zugehörigen sensiblen Nervs (Reiztechnik wie für motorische Neurografie) ein SNAP abgeleitet. Dieses hat meist eine triphasische Konfiguration. Da prinzipiell jedes Axon in beide Richtungen leiten kann, ist es aber auch möglich, in antidromer Technik nach Reizung des gemischten Nervs vom sensiblen Endast ein Potenzial abzuleiten (Abb. 1 und 3). Die SNAP-Amplituden sind in der Regel bei antidromer Technik größer und somit leichter erhältlich; generell ist zur Verbesserung des Signal-Rausch-Abstandes für die Signale im Mikrovoltbereich eine Mittelung erforderlich. Im Gegensatz zur motorischen Neurografie kann direkt aus dem Abstand der Reiz- zur Ableiteelektrode und der Latenz des SNAP (vom Reizartefakt bis zum 1. positiven Gipfel) eine sensible Nervenleitgeschwindigkeit (SNLG) errechnet werden, da unter der Ableiteelektrode direkt das SNAP registriert wird. Häufig untersuchte Nerven werden in Tab. 2 aufgeführt.
Tab. 2
Antidrome sensible Neurografie, Normwerte mit Oberflächenelektroden. (Mod. nach Stöhr und Pfister 2014)
Nerv
Reizort/Ableiteort
NLG (m/s)
Amplitude (μV)
Mittelwert
Unterer Grenzwert
Mittelwert
Unterer Grenzwert
N. medianus
Handgelenk/Finger
54,2
46,9
13,7
6,9
N. ulnaris
Handgelenk/Finger
53,8
44,6
11,0
5,8
N. radialis, Ramus superficialis
Distaler Unterarm/radialer Handrücken
63,5
55,6
39,1
4,8
N. peronaeus superficialis
Distaler Unterschenkel/medialer Fußrücken
51,2
38,8
18,3
5,0
N. suralis (<40 Jahre)
Distaler Unterschenkel/lateraler Fußrand
52,5
41,3
20,9
4,9
N. suralis (>40 Jahre)
Distaler Unterschenkel/lateraler Fußrand
51,1
39,3
17,2
3,8
Viele äußere Größen haben einen Einfluss auf das Ergebnis sowohl der motorischen als auch sensiblen Neurografie. Sie werden in Tab. 3 dargestellt.
Tab. 3
Einflussgrößen auf die Neurografie
Einflussgröße
Effekt auf motorische oder sensible Neurografie
Innervationsanomalien
Motorische Neurografie: z. B. Martin-Gruber-Anastomose am Unterarm (Häufigkeit bei Gesunden je nach Ausmaß und Analysemethode bis 32 % , Amoiridis 1992)
Sehr selten für die sensible Neurografie relevant
Submaximale Reizung
Fälschlicherweise zu lange Latenzen bzw. erniedrigte Nervenleitgeschwindigkeiten oder zu kleine Amplituden
Geringe Abstände
Relativer Fehler bei Abstandsmessungen groß, daher NLG unzuverlässig
Alter
Allmähliche Zunahme der NLG bis auf Erwachsenenwerte im 3.–5. Lebensjahr
Abnahme der NLG und Amplituden jenseits des 60. Lebensjahres
Temperatur
Mit zunehmender Temperatur nimmt die Latenz, Amplitude, Dauer und Fläche von EMAP und SNAP ab, entsprechend steigt die NLG um ca. 2–2,4 m/s je Grad Celsius Erwärmung. Extremitätentemperatur sollte 34 C oder mehr betragen
Lokalisation der untersuchten Nervensegmente
Proximale Nervensegmente haben eine schnellere NLG als distale (NLG nimmt mit Größe des Axondurchmessers und dem Abstand zwischen den Ranvier-Schnürringen [saltatorische Erregungsleitung] zu).
Nach proximaler Stimulation ist das EMAP etwas niedriger als nach distaler Stimulation (<20 % Differenz) aufgrund der erhöhten zeitlichen Dispersion der Impulswelle. Entsprechendes gilt für die sensible Neurografie
EMAP evoziertes Muskelaktionspotenzial, NLG Nervenleitgeschwindigkeit, SNAP sensibles Nervenaktionspotenzial

F-Wellen und H-Reflex

F-Wellen
Nervenaxone sind prinzipiell in der Lage, einen Reizimpuls in beide Richtungen fortzuleiten. Auch bei der motorischen Neurografie läuft ein Nervenaktionspotenzial nicht nur auf den Ableitemuskel zu, sondern auch in antidromer Richtung zur motorischen Vorderhornzelle. Bei geeignet gewählter Kippgeschwindigkeit (obere Extremitäten 5 ms/div, untere Extremitäten 10 ms/div) und Verstärkung (200 μV/div) ist es möglich, eine sog. F-Welle (synonym: F-Antwort) abzuleiten (Abb. 4). „F“ steht für „foot“, da das Potenzial zunächst für die kleinen Fußmuskeln beschrieben wurde. Hierbei handelt es sich um eine spiegelreflektorische Antwort der motorischen Vorderhornzelle nach antidromer Erregung. Da immer ein Großteil der erreichten Vorderhornzellen refraktär ist, ist die Amplitude der F-Welle deutlich niedriger als die M-Antwort. Außerdem ist die Potenzialform bei wiederholter Auslösung variabel, da sich der Pool der erregbaren α-Motoneurone bei jedem Impuls ändert. Als Parameter der F-Welle werden in der Regel die kürzeste F-Latenz und die F-Persistenz (d. h. Häufigkeit der F-Wellen in einer Reizserie) verwendet, prinzipiell ist aber auch eine Betrachtung von mittlerer F-Latenz möglich. Die F-Amplitude ist von untergeordneter Bedeutung, da auch diese interindividuell sehr verschieden sein kann. Normwerte Tab. 4.
Tab. 4
F-Wellen-Normwerte. (Mod. nach Stöhr und Pfister 2014)
Nerv
Ableiteort/Reizort
Latenz (ms)
Maximale Seitendifferenz der Latenzen (ms)
Oberer Grenzwert
Bei Körpergröße (cm)
N. medianus
M. abductor pollicis brevis/Handgelenk
31
 
2,0
N. ulnaris
M. abductor digiti minimi/Handgelenk
31
 
2,0
N. peronaeus
M. extensor digitorum brevis/distaler Unterschenkel
52,7
147–160
 
56,9
163–175
 
61,2
178–193
 
N. tibialis
M. flexor hallucis brevis (M. abductor hallucis)/Malleolus medialis
54,5
147–160
 
58
163–175
 
63,6
178–193
 
Die Besonderheit des Verlaufs der F-Welle erklärt ihre Bedeutung in der elektrophysiologischen Diagnostik. Zum einen muss die Impulswelle fast zweimal über die gesamte Axonlänge (als antidrome Impulswelle und dann als F-Antwort-Impuls) laufen, und es können somit diffuse Axonläsionen oder segmentale Myelinisierungsstörungen besonders gut erfasst werden. Zum anderen stellt sie eine Methodik dar, mit der auch proximale Nervenabschnitte, wie z. B. die Spinalnerven, miterfasst werden, sodass bei normaler Nervenleitung im Bereich der leichter zugänglichen distalen Extremitätenabschnitte eine pathologische F-Welle dennoch eine Störung zeigen kann.
H-Reflex
Beim H-Reflex (Hoffmann-Reflex) handelt es sich im Gegensatz zur F-Welle um einen echten monosynaptischen Reflex, bei dem die afferente Impulswelle über Ia-Fasern zum Rückenmark gelangt, eine monosynaptische Umschaltung auf das α-Motoneuron erfolgt, woraufhin von dort eine efferente Impulswelle über die motorischen Axone zum Zielmuskel läuft. F-Antwort und H-Reflex sind jedoch prinzipiell verschieden auszulösen. Für die Stimulation einer F-Welle werden supramaximale Reize benötigt, während für einen H-Reflex nur submaximale Stimuli verwendet werden und sogar im Gegenteil supramaximale Stimuli den H-Reflex blockieren. H-Reflexe können besonders gut von bestimmten Muskeln wie dem M. triceps surae oder den Unterarmflexoren abgeleitet werden, sind aber im Gegensatz zu den F-Wellen von den meisten anderen Muskeln eines Gesunden nicht erhältlich. Die routinemäßige Anwendung ist daher im Wesentlichen auf die Ableitung vom M. triceps surae bei der Fragestellung S1-Läsion oder Polyneuropathie begrenzt. Die Amplitude des H-Reflexes ist von der Reizintensität abhängig und nimmt im Regelfall auf die Hälfte der maximalen M-Antwort bei geeigneter Reizstärke zu. Eine Latenzdifferenz von >2 ms zwischen den beiden Seiten oder ein Amplitudenunterschied von mehr als 50 % gelten als pathologisch. Die Latenz und Amplitude des H-Reflexes können mit leichter Vorspannung positiv beeinflusst werden. Sowohl F-Wellen als auch H-Reflex sind mit ihren Normwerten von der Extremitätenlänge und somit von der Körpergröße abhängig (obere Normgrenze H-Reflex-Latenz: 32 ms bei 147–160 cm bzw. 34,2 ms bei 163–193 cm Körpergröße).

Typische elektroneurografische und elektromyografische Befundkonstellationen

Im Folgenden sollen im Zusammenhang mit obigen Ausführungen einige typische elektroneurografische Befundkonstellationen zusammen mit den ergänzenden EMG-Befunden erläutert werden (Tab. 5 und 6).
Tab. 5
Befundkonstellationen bei fokalen Nervenläsionen
Schädigungstyp
Pathogenese
Motorische Neurografie
Sensible Neurografie
Akute Nervendurchtrennung
Fehlende Leitung über den Läsionsort hinweg, noch keine Waller-Degeneration
Distal der Läsion unauffällige NLG, dL, EMAP, proximal der Läsion kein Potenzial, fehlende F-Wellen
Distal der Läsion unauffällige NLG und SNAP, SEP kortikal und zervikal pathologisch
Fehlende Willküraktivität in der versorgten Muskulatur, Einstichaktivität vorhanden
>1 Woche nach kompletter akuter Nervendurchtrennung
Waller-Degeneration nach distal beendet, außerdem nach proximal erfolgt
Sowohl distal als auch proximal kein EMAP, keine F-Wellen
Kein SNAP, SEP fehlend
Keine Willküraktivität, erste pathologische Spontanaktivität in Form von FIB/PSW erst 3–5 Wochen nach Schädigung
>1 Woche nach inkompletter akuter Nervendurchtrennung
Waller-Degeneration nach distal beendet, außerdem nach proximal erfolgt, ein Teil der Axone bleibt erhalten
Reduzierte distale und proximale Amplitude, NLG normal oder leicht reduziert, F-Wellen-Latenz leicht verzögert oder normal, F-Persistenz reduziert
SNAP reduziert, NLG normal oder leicht reduziert, SEP pathologisch oder normal
Reduziertes Recruitment, Einzeloszillationen, erste pathologische Spontanaktivität in Form von FIB/PSW erst 3–5 Wochen nach Schädigung
Regenerationsphase nach akuter Nervendurchtrennung, z. B. nach 2–3 Monaten
Kollaterale Axonaussprossung von noch erhaltenen Axonen im Fall der Teilläsion, Neueinsprossung nachgewachsener Axone
Zunahme der EMAP-Amplitude und ggf. auch der NLG, F-Wellen-Persistenz gebessert
Zunahme der Amplitude des SNAP und ggf. der NLG
Rekrutierung noch reduziert, FIB/PSW noch vorhanden, PME z. T. vergrößert und polyphasisch; „nascent Potenzials“, d. h. kleine polyphasische Regenerationspotenziale
Akute Nervenkompression
Nur Myelinscheidenschädigung ohne axonale Degeneration
Wie bei akuter Nervendurchtrennung, evtl. auch Leitungsverzögerung des proximalen Potenzials über die Druckstelle hinweg
Wie bei akuter Nervendurchtrennung
Reduzierte Rekrutierung, evtl. fehlende Willküraktivität
Chronische Nervenkompression
Gemischtes Bild aus Demyelinisierung und Remyelinisierung
Fokale Erniedrigung der NLG im Segment der Läsion. Ggf. zusätzlich Reduktion der proximalen EMAP-Amplitude im Verhältnis zur distalen (partieller Leitungsblock) und Potenzialaufsplitterung. Bei längerem Bestehen variabler Axonuntergang, dann auch distale EMAP reduziert. F-Wellen pathologisch
Fokale Erniedrigung der NLG im Segment der Läsion. Ggf. zusätzlich Reduktion der proximalen SNAP-Amplitude im Verhältnis zur distalen (partieller Leitungsblock) und Potenzialaufsplitterung
Reduzierte Rekrutierung, partielle chronische Denervierung je nach Ausmaß des begleitenden Axonuntergangs
Wurzelläsion
Z. B. akute bis subakute Bandscheibenkompression
Je nach Stadium wie akute oder chronische Nervenkompression
SNAP bleibt in Amplitude und NLG unverändert, da immer der proximale Fortsatz der unipolaren Ganglienzelle betroffen ist! SEP evtl. pathologisch
Je nach Stadium wie bei akuter oder chronischer Nervenkompression
dL distale Latenz, EMAP evoziertes Muskelaktionspotenzial, FIB/PSW Fibrillationspotenziale/positive scharfe Wellen, NLG Nervenleitgeschwindigkeit, PME Potenziale motorischer Einheiten, SEP somatosensibel evozierte Potenziale, SNAP sensibles Nervenaktionspotenzial
Tab. 6
Befundkonstellationen bei peripheren Polyneuropathien (PNP)
Schädigungstyp
Pathogenese
Motorische Neurografie
Sensible Neurografie
Elektromyografie
Axonale PNP
Axonaler Untergang der Nervenendigungen, meist distal und an den Beinen am stärksten ausgeprägt
Reduzierte distale und proximale Amplitude, distale Latenz und NLG normal oder leicht reduziert, F-Wellen-Latenz leicht verzögert oder normal, F-Persistenz reduziert
SNAP reduzierte Amplitude, NLG normal oder leicht reduziert. SEP pathologisch oder normal
Reduzierte Rekrutierung, je nach Stadium partielle chronische Denervierung oder chronisch neurogener Umbau
Demyelinisie rende PNP
Segmentale Demyelinisierung u. U. mit fokaler Demyelinisierung
Verlängerte distale Latenz, erheblich reduzierte NLG, mäßig reduzierte Amplitude, u. U. Zeichen des partiellen fokalen Leitungsblocks
SNAP reduzierte Amplitude und aufgesplittert, NLG erheblich reduziert. SEP pathologisch
Reduzierte Rekrutierung, je nach sekundärem Axonuntergang partielle chronische Denervierung oder chronisch neurogener Umbau
NLG Nervenleitgeschwindigkeit, SNAP somatosensibel evozierte Potenziale, SEP somatosensibel evozierte Potenziale
Zur Interpretation der unterschiedlichen Befundkonstellationen ist ein möglichst genauer zeitlicher Verlauf der Nervenläsion extrem wichtig.

Repetitive Reizung

Die Reizweiterleitung vom Nerv auf den Muskel erfolgt üblicherweise mit einem großen Sicherheitsfaktor, dennoch gibt es Erkrankungen, bei denen eine Muskelschwäche aufgrund einer Störung der neuromuskulären Übertragung entsteht. Die Patienten zeigen eine abnorme Ermüdbarkeit der Muskulatur, ein sog. myasthenes Syndrom. Die neuromuskuläre Übertragungsstörung kann prä- oder postsynaptischen Ursprungs sein. Einen Überblick gibt die folgende Übersicht.
Neuromuskuläre Übertragungsstörungen
  • Präsynaptische Übertragungsstörungen (Freisetzungshemmung der Acetylcholinquanten)
  • Postsynaptische Übertragungsstörung (postsynaptische Störung der cholinergen Transmission)
Die elektrophysiologische Prüfung der neuromuskulären Übertragungsleistung erfolgt durch Belastung mit einer repetitiven Reizung. Bei einer Reizung mit 3 Hz besteht bei einem myasthenen Syndrom eine Amplituden- oder Flächenabnahme des mit Oberflächenelektroden abgeleiteten evozierten Muskelantwortpotenzials >10 % zwischen dem 1. und dem 5. Potenzial. Als Besonderheit zeigt ein Patient mit Lambert-Eaton-Syndrom bei höherfrequenter Reizung (20 oder 50 Hz) ein Inkrement von mindestens 100 % bei von vornherein kleiner Ausgangsamplitude. Die relativ schmerzhafte hochfrequente Reizung kann bei gut kooperativem Patienten umgangen werden, indem man das pathologische Inkrement nach maximaler Willkürinnervation des Ableitemuskels für 10 s Dauer bei einem einzelnen sofort darauffolgenden Reiz darstellt. Sowohl bei der Myasthenia gravis als auch dem Lambert-Eaton-Syndrom ist auf eine geeignete Auswahl der zu untersuchenden Muskeln zu achten. Prinzipiell gilt, dass man die klinisch am stärksten betroffenen Muskeln untersuchen soll, und die Ausbeute an pathologischen Befunden wird bei der Myasthenia gravis in proximalen Muskeln (Mm. trapezius, deltoideus oder Gesichtsmuskeln) und beim Lambert-Eaton-Syndrom in distalen Muskeln (Hand) am größten sein (Abb. 5 und Kap. „Myastenia gravis“).

Blinkreflex

Der Blinkreflex ist ein physiologischer Reflex der Gesichtsmuskulatur zum Schutz der Augen. Unter elektrophysiologischen Bedingungen lässt sich die Muskelaktivität dieses Reflexes mit einem elektrischen Reiz als kontrolliertem Trigger gut reproduzierbar aufzeichnen. Als Ableiteelektroden dienen über dem M. orbicularis oculi beidseits angebrachte Oberflächenelektroden, eine Erdelektrode wird auf der Stirn platziert und eine Oberflächenreizelektrode stimuliert den N. supraorbitalis mit der Kathode über dem Foramen supraorbitale. Der afferente Weg des Reflexes geht über den N. supraorbitalis und das Ganglion trigeminale zum Hirnstamm; der Nucleus facialis und der Stirnast des Nucleus facialis stellen den efferenten Reflexschenkel dar. Zum praktischen Vorgehen wird zunächst der N. facialis am Foramen stylomastoideum seitengetrennt stimuliert und die M-Antwort des M. orbicularis oculi aufgezeichnet. Danach erfolgt die Stimulation des N. supraorbitalis, wobei die Reizintensität so lange erhöht wird, bis die Amplituden maximal erscheinen. Die Kippgeschwindigkeit sollte hierfür 10 ms/div und die Verstärkung 200 μV/div betragen. Ipsilateral zum Reizort tritt nach etwa 10 ms eine R1-Antwort auf, welche nach etwa 35 ms von einer stärker variablen R2-Antwort meist größerer Amplitude und Dauer gefolgt wird. Kontralateral findet sich nur eine R2-Antwort (Abb. 6). Die Verschaltung auf Hirnstammebene ist nicht sicher bewiesen, man nimmt jedoch an, dass eine rostrale Verschaltung auf der Ebene des Pons über den Nucleus sensorius principalis n. trigemini auf den ipsilateralen Fazialiskern und eine zweite, kaudal gelegene Verschaltung über die laterale Medulla oblongata und von dort in zwei Projektionen sowohl zum ipsilateralen als auch kontralateralen Fazialiskern erfolgt. Da der Reflex über mehrere Synapsen verläuft, ist er nicht ganz konstant, sodass die kürzesten Latenzen von 10 Messungen verwendet werden sollten. Darüber hinaus muss auf einen ausreichenden zeitlichen Abstand (>30 s) zwischen den Stimuli geachtet werden (Normwerte Tab. 7).
Tab. 7
Normwerte des Blinkreflexes. (Nach Kimura 1975)
 
Latenz (ms)
Amplitude (mV)
Obere Normgrenze
Mittelwert ± SD
Mittelwert ± SD
R1
13,0
10,6 ± 0,8
0,38 ± 0,23
R2 ipsilateral
41,0
31,3 ± 3,33
0,53 ± 0,24
R2 kontralateral
43,0
31,6 ± 3,78
0,49 ± 0,24
R1-Latenzdifferenz
1,2
  
Differenz für R2 kontralateral-ipsilateral
5,0
  
Differenz für R2 einer Seite nach Stimulation ipsilateral und kontralateral
7,0
  
Bei Störungen des Reflexes gibt es zwei prinzipielle Muster: das der Trigeminusläsion (z. B. Neurinom) und das der Fazialisläsion (z. B. Bell-Parese). Bei beiden ist auf der betroffenen Seite die R1-Antwort verzögert oder fehlend, bei der Fazialisläsion ist nach Stimulation der Gegenseite auch die R2-Antwort auf der erkrankten Seite gestört, nicht jedoch die R2-Antwort auf der gesunden Seite. Bei der Trigeminusläsion findet sich eine gestörte R2-Antwort sowohl auf der erkrankten Seite als auch kontralateral. Ein pathologischer Blinkreflex kann auch bei subklinischen Störungen, z. B. im Rahmen eines Guillain-Barré-Syndroms oder bei diabetischer Neuropathie, und bei zentralen Läsionen, wie z. B. der multiplen Sklerose, auftreten. Beim Wallenberg-Syndrom, d. h. einer akuten Ischämie im Bereich der lateralen Medulla oblongata, bleibt typischerweise die R1-Komponente erhalten, während nach Stimulation auf der erkrankten Seite die R2-Antworten beidseits gestört und nach Stimulation auf der gesunden Seite beidseits normal sind. Die Bedeutung des Blinkreflexes für die Suche nach einer Hirnstammläsion ist durch die modernen bildgebenden Verfahren der MRT deutlich zurückgegangen.

Masseterreflex

Es gibt keine Standardmethode zur direkten Stimulation der motorischen Fasern des N. trigeminus; andererseits lassen sich EMAP vom M. masseter nach Auslösung des Masseterreflexes aufzeichnen. Der afferente Schenkel dieses Reflexbogens wird durch die sensiblen, dick myelinisierten Fasern der propriozeptiven Organe wie Muskelspindeln und Sehnenapparate der Kaumuskulatur dargestellt, die im Gegensatz zu den sensiblen Afferenzen des Blinkreflexes nicht den Zellkörper ihrer pseudounipolaren Ganglienzelle im Ganglion trigeminale, sondern im Hirnstamm im Nucleus tractus mesencephalici n. trigemini besitzen. Der efferente Schenkel des Reflexbogens ist durch den Nucleus motorius und die Radix motoria n. trigemini gegeben. Der Reflex kann mit einer differenten Oberflächenelektrode über dem M. masseter und einem Triggerhammer, welcher an das EMG-Gerät angeschlossen ist, aufgezeichnet werden. Die Latenz zeigt eine relativ große Variabilität (7,6 ms, SD ±1,6 ms, Normbereich 6,4–9,2 ms), jedoch ist eine Seitendifferenz bei unilateraler Läsion hilfreich (normales Mittel 0,07 ms, SD ±0,15 ms, Normbereich bis 0,5 ms) (Shahani und Parker 1979). Der Masseterreflex kann Anwendung finden bei der Abklärung von Gesichtsschmerzen, die im Falle eines Tumors der Schädelbasis dann auch mit einem einseitigen Verlust der Reflexantwort oder einer erheblichen Seitendifferenz einhergehen können. Bei einer idiopathischen bzw. durch vaskuläre Kompression im Wurzeleingangsbereich bedingten Trigeminusneuralgie ist ein Normalbefund zu erwarten. Der Reflex ist erhalten bei der paraneoplastischen subakuten sensorischen Neuronopathie, da offensichtlich hier die Lage der pseudounipolaren Ganglienzellen im ZNS im Gegensatz zu den Spinalganglien eine Rolle spielt (Auger 1998).

Facharztfragen

1.
Wie ist der zeitliche Verlauf der Waller-Degeneration nach akuter Nervenschädigung und welche elektroneurografischen und -myografischen Befunde sind zu erwarten?
 
2.
Wie lautet der typische Befund eines Blinkreflexes bei rechtsseitiger Medulla-oblongata-Läsion?
 
Literatur
Zitierte Literatur
Amoiridis G (1992) Median-ulnar nerve communications and anomalous innervation of the intrinsic hand muscles: an electrophysiological study. Muscle Nerve 15:576–579CrossRefPubMed
Auger RG (1998) Role of the masseter reflex in the assessment of subacute sensory neuropathy. Muscle Nerve 21:800–801CrossRefPubMed
Kimura J (1975) Electrically elicited blink reflex in diagnosis of multiple sclerosis. Review of 260 patients over a seven-year period. Brain 98:413–426CrossRefPubMed
Shahani BT, Parker SW (1979) Electrophysiological studies in patients with cerebello-pontine angle lesions. Neurology 29:582
Stöhr M, Pfister R (2014) Klinische Elektromyographie und Neurographie – Lehrbuch und Atlas, 6. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart
Stöhr M, Riffel B, Pfadenhauer K (1991) Neurophysiologische Untersuchungsmethoden in der Intensivmedizin. Springer, Berlin/Heidelberg/New York/TokioCrossRef
Weiterführende Literatur
Kimura J (1997) Facts, fallacies, and fancies of nerve conduction studies: twenty-first annual Edward H. Lambert lecture. Muscle Nerve 20:777–787CrossRefPubMed
Kimura J (2001) Electrodiagnosis in diseases of nerve and muscle: principles and practice, 3. Aufl. Oxford University Press, New York