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Klinische Neurologie
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Publiziert am: 27.12.2018

Motoneuronerkrankungen (außer ALS)

Verfasst von: Albert C. Ludolph
Das für das Verständnis der Pathogenese degenerativer Hirnerkrankungen so bedeutsame Prinzip der selektiven neuronalen Vulnerabilität wird dem Neurologen wohl bei kaum einer Erkrankungsgruppe so deutlich vor Augen geführt wie bei den Motoneuronerkrankungen. Basierend auf diesem topischen Prinzip lassen sich die Erkrankungen in den Typ der spastischen Spinalparalyse (Läsion der Betz-Zelle und der Pyramidenbahn), der spinalen Muskelatrophien (Läsion der motorischen Vorderhornzellen) und einer Kombination beider Läsionstypen – der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) – einteilen. Die Ursachen der Erkrankungen der Motoneurone sind weitgehend unbekannt, und das Verständnis ihrer genetischen Grundlagen, der Pathogenese und die Entwicklung von Behandlungsansätzen stehen am Anfang. Dabei wird zunehmend klar, dass die mit einem monogenetischen Erbgang assoziierten Varianten zwar einen wichtigen Modellcharakter haben, sie aber allein nicht wegweisend für die so dringend benötigten therapeutischen Ansätze sind. Es wird heute häufig vergessen, dass auch die entzündlich und toxisch bedingten Erkrankungen der gleichen Systeme aufgrund ihres Modellcharakters ebenfalls einen Zugang zur Ätiopathogenese des charakteristischen Musters selektiver Vulnerabilität bieten.
Das für das Verständnis der Pathogenese degenerativer Hirnerkrankungen so bedeutsame Prinzip der selektiven neuronalen Vulnerabilität wird dem Neurologen wohl bei kaum einer Erkrankungsgruppe so deutlich vor Augen geführt wie bei den Motoneuronerkrankungen. Basierend auf diesem topischen Prinzip lassen sich die Erkrankungen in den Typ der spastischen Spinalparalyse (Läsion der Betz-Zelle und der Pyramidenbahn), der spinalen Muskelatrophien (Läsion der motorischen Vorderhornzellen) und einer Kombination beider Läsionstypen – der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) – einteilen. Die Ursachen der Erkrankungen der Motoneurone sind weitgehend unbekannt, und das Verständnis ihrer genetischen Grundlagen, der Pathogenese und die Entwicklung von Behandlungsansätzen stehen am Anfang. Dabei wird zunehmend klar, dass die mit einem monogenetischen Erbgang assoziierten Varianten zwar einen wichtigen Modellcharakter haben, sie aber allein nicht wegweisend für die so dringend benötigten therapeutischen Ansätze sind. Es wird heute häufig vergessen, dass auch die entzündlich und toxisch bedingten Erkrankungen der gleichen Systeme aufgrund ihres Modellcharakters ebenfalls einen Zugang zur Ätiopathogenese des charakteristischen Musters selektiver Vulnerabilität bieten.

Spastische Spinalparalyse

Spastische Spinalparalysen können hereditär oder sporadisch auftreten. Das charakteristische gemeinsame Merkmal der Erkrankungen ist eine sich klinisch stereotyp manifestierende, langsam progrediente spastische Parese der unteren Extremitäten; diese Symptome sind das Resultat einer zentralen distalen Axonopathie des kortikospinalen Trakts; das gleiche Läsionsmuster weisen die Hinterstränge auf. Nicht selten finden sich jedoch auch akzessorische Symptome. Trotz der monomorphen Kernsymptomatik stellen die hereditären (erblichen) spastischen Paraplegien (HSP, Strümpell-Lorrain-Krankheit) eine genetisch heterogene Gruppe von Erkrankungen dar, bei denen autosomal-dominante, -rezessive und X-chromosomale Erbgänge beschrieben worden sind.
Klassifikation der spastischen Spinalparalysen
  • Erbliche (hereditäre) spastische Spinalparalyse
    • Autosomal-dominant
    • Autosomal-rezessiv
    • X-chromosomal
  • Sporadisch auftretende spastische Spinalparalyse
Das Krankheitsbild ist vor seinem genetischen Hintergrund erstmals im Jahre 1880 von Strümpell beschrieben worden (Strümpell 1880). Seit den Arbeiten von Harding (1981) werden reine und komplizierte („complex“, „complicated“) Varianten der Erkrankung unterschieden; dabei beziehen sich die Begriffe auf das Auftreten und das Fehlen akzessorischer Symptome. Der Kern der neuropathologischen Befunde besteht aus einer Degeneration der distalen Anteile des kortikospinalen Trakts sowie der distalen – zervikalen – Anteile des Tractus gracilis. Darüber hinaus wurde seltener über eine Affektion der spinozerebellären Trakte sowie eine Reduktion der Anzahl der Betz-Zellen im motorischen Kortex berichtet. Bei „komplizierten“ Formen der HSP geht das Vulnerabilitätsmuster selbst über diesen Kern hinaus. Es ist heute klar, dass das klinisch scheinbar so einfache und stereotype Kernsyndrom der spastischen Spinalparalyse einen komplexen genetischen und metabolischen Hintergrund hat. Der genetische Hintergrund, v. a. der rezessiven Form, erscheint so komplex, dass eine klinisch sinnvolle Einteilung nach genetischen Gesichtspunkten wohl eine Illusion bleiben wird, es sei denn, es ergeben sich auf dem Boden einer soliden Einteilung für den Patienten therapeutische Konsequenzen; dies ist aber heute nicht sehr wahrscheinlich (Depienne et al. 2007).
Kurz nachdem Charcot erstmals die ALS beschrieben hatte, postulierte Erb im Jahre 1875 die Existenz einer sporadisch auftretenden degenerativen Erkrankung des kortikospinalen Trakts, die ohne Beteiligung der Vorderhornzellen bleibt. Wenngleich in den folgenden Jahrzehnten die Existenz dieser Entität wiederholt angezweifelt und besonders herausgestellt wurde, dass die beschriebene Symptomatik häufig doch im Verlauf in eine ALS übergeht, so scheint die Existenz eines Syndroms der isolierten progredienten Pyramidenbahndegeneration ohne Sensibilitätsstörungen und zerebelläre oder kognitive Beeinträchtigungen heute sowohl klinisch als auch neuropathologisch gesichert. Im englischen Sprachgebrauch wird dieses Krankheitsbild unter dem Begriff primäre Lateralsklerose („primary lateral sclerosis“) zusammengefasst. Sie kann klinisch zuverlässig von der HSP abgegrenzt werden.
Häufigkeit und Vorkommen
Sowohl die primäre Lateralsklerose als auch die hereditäre spastische Paraparese sind selten. Nur wenige Patienten mit eindeutiger primärer Lateralsklerose ohne Übergang in eine amyotrophe Lateralsklerose sind beschrieben worden, wobei es umstritten bleibt, nach welchem Beobachtungszeitraum der Übergang in eine ALS ausgeschlossen werden kann. Die Häufigkeit des Auftretens der HSP variiert vor differenziellem genetischem Hintergrund. Dabei treten rezessive Formen (20–30 %) seltener als dominante (70–80 %) Formen der Erkrankung auf: Die Prävalenz der dominanten Varianten werden in Dänemark und Norwegen mit 0,8–12,1/100.000 angegeben, während ein rezessiver Erbgang nur bei 0,1 bzw. 1,9/100.000 Einwohner beobachtet wurde. Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter auftreten, Männer und Frauen sind sowohl bei rezessiven als auch bei dominanten Formen gleich häufig betroffen. Die Lebenserwartung ist bei der hereditären spastischen Paraparese normal.
Pathogenese und Genetik der autosomal-dominanten HSP-Formen
Die Ätiologie und Pathogenese der Erkrankungsgruppe sind derzeit weitgehend unbekannt. Die häufigsten Mutationen treten im Spastin-Gen (40 % aller Patienten) und im Atlastin-Gen (<10 %) auf. Bei Patienten, die Atlastin-Mutationen tragen, beginnt die Erkrankung bereits im Kindesalter. Darüber hinaus existiert heute eine zunehmende Zahl von Genen, die klinisch von geringer Bedeutung sind (Tab. 1). Die Erkrankung kann in der gleichen Familie in unterschiedlichem Lebensalter auftreten, was fälschlich zu der Annahme einer reduzierten Penetranz führen kann. Falls also eine klassische HSP vorliegt, sollte man zunächst nach SPG4-Mutationen suchen; allerdings erhält bei Patienten mit früherem Krankheitsbeginn SPG3A die Priorität, weil Mutationen in diesem Gen bei dieser Gruppe von Erkrankten die häufigsten sind.
Tab. 1
Autosomal-dominante Formen der hereditären spastischen Paraplegien (HSP)
Lokus
Gen oder Protein
Phänotypische Aspekte
Reine Formen
 
SPG3A
14q12–q21
Atlastin
Vorwiegend früher Beginn
SPG4
2p22
Spastin
 
SPG6
15q11.2–q12
NIPA1
Vorwiegend Beginn im Erwachsenenalter
SPG8
8q24
KIAA0196
Vorwiegend Beginn im Erwachsenenalter
SPG10
12q13
KIF5A
Vorwiegend früher Beginn
SPG12
19q13
Unbekannt
Vorwiegend früher Beginn
SPG13
2q24–q34
HSP60
Vorwiegend Beginn im Erwachsenenalter
SPG19
9q33–q34
Unbekannt
Vorwiegend Beginn im Erwachsenenalter
SPG31
2p12
REEP1
 
SPG33
10q24.2
ZFYVE27
 
SPG37
8p21.1–q13.3
Unbekannt
 
Komplexe Formen
 
SAX1
12p13
Unbekannt
Spastik und Ataxie
SPG9
10q23.3–q24.2
Unbekannt
Katarakt, motorische Neuropathie, kleine Körpergröße, skelettale Auffälligkeiten, gastroösophagealer Reflux
SPG17
11q12–q14
BSCL2/Seipin
Silver-Syndrom
SPG29
1p31–p21
 
Hörverlust, Pes cavus, neonatale Hyperbilirubinämie ohne Kernikterus, Hiatushernie
Klinik
Leitsymptome
Charakteristisches Leitsymptom der Erkrankung ist die spastische Paraparese mit gelegentlich auch spontan auftretendem positivem Babinski-Zeichen, Achilles- und Patellarsehnenkloni, gekreuzten Adduktorenreflexen und dem typischem Gangbild: Der Patient geht bei beidseits erhöhtem Tonus der Gastroknemii die Fußspitzen zirkumduzierend auf den Zehenspitzen mit einwärts gedrehten Knien (erhöhter Adduktorentonus, Abb. 1). Ein erstes Zeichen der Erkrankung kann das Aneinanderschlagen der Knie beim schnellen Laufen sein. Falls die Erkrankung früh beginnt, kommt es zu einer Verzögerung der motorischen Entwicklung; einige Kinder sind nicht in der Lage, laufen zu lernen. Bei solchen Patienten mit frühem Krankheitsbeginn kann im Verlauf des Lebens die Parese, mehr als die Spastik, in das Zentrum des klinischen Bilds treten. Bei Beginn im Adoleszentenalter geht der eigentlichen Entwicklung der Symptomatik häufig eine Periode voraus, die durch eine gewisse Ungeschicklichkeit beim Sport geprägt ist. Erst später entwickelt sich dann das Vollbild, und nicht selten sind die Patienten im Verlauf auf Gehhilfen oder sogar auf einen Rollstuhl angewiesen. In Einzelfällen treten bevorzugt im höheren Lebensalter auch spastische Beugekontrakturen auf. Ein Pes cavus gehört regelmäßig mit zum klinischen Bild. Die Bauchhautreflexe sind bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten normal. Gelegentlich, häufiger im späteren Verlauf der Erkrankung finden sich auch an den oberen Extremitäten gesteigerte Muskeleigenreflexe mit lebhaftem Knips- und Trömner-Reflex und ein positives Hoffmann-Zeichen, während eine spastische Tonuserhöhung der Arme eine rare Ausnahmeerscheinung darstellt. Eine Reduktion der Feinmotorik der Hand kann auftreten. Sehr selten sind Zeichen der Pseudobulbärparalyse, am ehesten wird noch ein gesteigerter Masseterreflex beobachtet. Mit großer Regelmäßigkeit findet sich neben der Paraspastik auch eine Störung der Tiefensensibilität, spezifisch des Vibrationsempfindens, die auf eine Läsion der Hinterstränge hindeutet und nicht selten das Gangbild im Sinne einer sensibel-ataktischen Komponente mit beeinträchtigt. Der imperative Harndrang gehört bei vielen Patienten mit zum Bild, wobei Inkontinenz nur in Ausnahmefällen beobachtet wird. Zu Beginn der Symptomatik kann eine gewisse Asymmetrie der Gesamtsymptomatik vorherrschen, die aber später meist verschwindet. In den betroffenen Familien treten immer wieder klinisch scheinbar asymptomatische Genträger auf, die erst bei sorgfältiger klinischer Untersuchung ebenfalls leichte Zeichen der Erkrankung aufweisen.
Akzessorische Symptome
Neben der charakteristischen klinischen Kernsymptomatik einer spastischen Paraparese sind akzessorische Symptome häufig (komplizierte Formen der HSP). Das klinische Erscheinungsbild dieser Symptomatik ist vielfältig, und ihr Auftreten ist nicht selten an eine spezifische Familie gebunden. Wohl am häufigsten ist eine Mitbeteiligung der Vorderhornzellen, wobei die resultierende Amyotrophie häufiger an den unteren als an den oberen Extremitäten beobachtet werden kann. Gelegentlich kann eine Neuropathie des N. opticus nachgewiesen werden, eine Retinopathie kann ebenfalls zum Bild gehören; extrapyramidale Syndrome, mentale Retardierung und Demenz werden in einigen Familien beobachtet. Eine über die Störung der Tiefensensibilität hinausgehende zerebelläre Ataxie wurde beschrieben; Hörstörungen und Temporallappenanfälle kommen in einzelnen Familien vor. Beschriebene Symptome außerhalb des Nervensystems sind kardiale Reizleitungsstörungen, Glaukome, hämatologische Auffälligkeiten sowie Haut- und Skelettveränderungen. Die Präsenz dieser akzessorischen Symptome sollte auch zu differenzialdiagnostischen Überlegungen Anlass geben; so muss die Präsenz einer Optikusatrophie neben der spastischen Paraparese auch an eine mitochondriale Erkrankung denken lassen.
In der Kernspintomografie fallen v. a. die häufigen Anomalien des Balkens auf, bei zwei Drittel der Patienten finden sich Veränderungen der weißen Substanz. Weniger als die Hälfte der Patienten zeigen Zeichen der Atrophie des Rückenmarks und des Gehirns (Hübers et al. 2016).
Verlauf
Die Erkrankung beginnt in der Regel in der Kindheit oder der zweiten Lebensdekade, kann aber auch im höheren Lebensalter symptomatisch werden, verläuft dann langsam progredient und kann seltener auch zur Immobilisation führen. Ausnahmen von diesem typischen Verlauf wurden aber auch beobachtet; so wurde berichtet, dass in einigen Familien die Erkrankung zwar früh beginnt, in späteren Lebensphasen aber keine Progression mehr auftritt. Die Arbeitsfähigkeit kann beeinträchtigt sein, aber die Lebenserwartung ist nicht reduziert. Dabei können in den gleichen Familien Patienten mit frühem und mit spätem Beginn der Symptomatik vorkommen; auch scheinbar asymptomatische Genträger treten auf.
Diagnostik
Die Diagnose stützt sich auf das hochgradig charakteristische klinische Bild einer langsam progredienten symmetrischen spastischen Paraparese zusammen mit einer typischen Familienanamnese.
Diagnose der hereditären spastischen Paraparese
  • Klassisches Syndrom der hereditären spastischen Paraparese
    • Spastische symmetrische Paraparese der Beine
    • Reflexsteigerung und positives Babinski-Zeichen
    • Positive Familienanamnese
    • Störung des Vibrationsempfindens
  • Mögliche Zusatzsymptome
    • Zentrale Blasenstörung
    • Schwäche und Reflexsteigerung an den Armen
Dabei kann bei einigen Individuen mit leicht ausgeprägter Symptomatik die wiederholte klinische Untersuchung wichtig werden, um durch Dokumentation der Progression eine spastische Diplegie aufgrund einer perinatalen Schädigung differenzialdiagnostisch auszuschließen.
Folgende Laboruntersuchungen können aus differenzialdiagnostischen Erwägungen durchgeführt werden:
Die abschließende klinische Diagnose sollte den Erbgang sowie die akzessorischen Syndrome miteinschließen.
Differenzialdiagnose
Insbesondere bei sporadisch auftretenden Erkrankungen oder nicht sicher nachvollziehbarer Familienanamnese wird die Diagnose spastische Spinalparalyse in erster Linie eine Ausschlussdiagnose sein.
Differenzialdiagnose der hereditären spastischen Spinalparalyse
Differenzialdiagnostisch beachtet werden müssen die Zerebralparesen, eine Kompression des Rückenmarks durch Tumoren oder Bandscheibenvorfälle, die Syringomyelie sowie die Neurolues und die Myelopathie bei B12-Mangel. Selten können MS oder NMOSD differenzialdiagnostische Probleme bereiten; die MRT, die Serum- und die Liquoruntersuchung sind entscheidend. Die HTLV-1-assoziierte tropische spastische Paraparese kann aufgrund der Anamnese vermutet und serologisch und durch Liquoruntersuchungen abgegrenzt werden. Interessanterweise bieten metabolisch-toxische Erkrankungen wie der vornehmlich in Ostafrika beobachtete Neurocassavaismus („Konzo“) und der in Äthiopien und dem indischen Subkontinent endemische menschliche Neurolathyrismus ein identisches klinisches Bild. Es ist daher eine interessante Frage, ob die heute wahrscheinlichen Ursachen dieser Erkrankungen in Relation zum molekularen Defekt bei der HSP stehen. Beim Neurocassavaismus wird ein Glykosid, das an das Glukosemolekül Cyanid gebunden ist, beim Neurolathyrismus die exzitatorische Aminosäure β-oxalyl-N-amino-L-Alanin (BOAA) verdächtigt. Sehr schwierig kann die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu den Folgen perinataler Hypoxie („spastische Diplegie“) werden, falls das klinische Syndrom bereits in den ersten Lebensjahren auftritt. Das Problem potenziert sich, wenn eine eindeutige Familienanamnese oder eine sichere Dokumentation der perinatalen Problematik fehlen.
Eine Abgrenzung hereditärer spastischer Paraparesen zu metabolischen Erkrankungen ist insbesondere bei einer positiven Familienanamnese und hier wiederum besonders bei Hinweisen auf einen rezessiven oder X-chromosomalen Erbgang eine Notwendigkeit (Depienne et al. 2007). Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die klinische Abgrenzung von der Dopa-empfindlichen Dystonie (Segawa-Syndrom), die im Initialstadium einer hereditären spastischen Paraparese ähneln kann. Die Erkrankung wird ebenfalls autosomal-dominant vererbt und wird therapeutisch überzeugend durch kleine Dosen von L-Dopa beeinflusst. Bei jeder unklaren Gangstörung oder Sturzneigung – insbesondere im Kindesalter – sollte diese Differenzialdiagnose beachtet werden. Es ist ebenfalls von erheblicher Bedeutung, differenzialdiagnostisch die X-chromosomal vererbte Adrenoleukodystrophie und ihre spinale Form, die Adrenomyeloneuropathie, zu beachten. Die wichtigste biochemische Auffälligkeit ist bei diesem Krankheitsbild die Akkumulation sehr langkettiger Fettsäuren in der weißen Substanz des ZNS, in der Nebennierenrinde und im Hoden, da der peroxisomale Abbau dieser Fettsäuren beeinträchtigt ist. Die Erkrankung kann daher durch den Nachweis erhöhter Spiegel langkettiger Fettsäuren im Plasma abgegrenzt werden; darüber hinaus können Untersuchungen in Fibroblasten oder Erythrozyten durchgeführt werden. Eine Erhöhung der Spiegel langkettiger Fettsäuren ist als definitiver diagnostischer Beweis zu werten. Nur 60 % der Patienten mit Adrenomyeloneuropathie weisen auch eine Nebennierenrindeninsuffizienz auf, bei 40 % lassen sich mit der Kernspintomografie Veränderungen der zerebralen weißen Substanz nachweisen. Auch – heterozygote – Frauen können das klinische Bild einer meist milden spastischen Paraparese entwickeln. Die Abgrenzung dieser Gruppe von Patienten mit Adrenomyeloneuropathien wird zunehmend wichtiger, da es sich mehr und mehr um eine beeinflussbare Erkrankung zu handeln scheint.
An das Vorliegen eines anderen – seltenen – metabolischen Defekts muss beim klinischen Bild einer spastischen Paraparese immer dann gedacht werden, wenn ein autosomal-rezessiver Erbgang vorzuliegen scheint, eher eine Tetraparese als eine Paraparese imponiert oder wenn das klassische klinische Bild durch eine mentale Retardierung oder demenzielle Entwicklung oder eine Ataxie kompliziert wird. Zu den differenzialdiagnostisch bedeutsamen Hilfsuntersuchungen können das MRT, die Untersuchung von somatosensorisch und motorisch evozierten Potenzialen sowie verschiedene biochemische Untersuchungen (langkettige Fettsäuren, Arylsulfatase, Galaktozerebrosidase, Laktat, Pyruvat, Lipoproteine, Vitamin E), in seltenen Fällen auch die Liquoruntersuchung und die spinale Angiografie (Durafistel) gehören. Die elektrophysiologischen Untersuchungen des peripheren Nervensystems ergeben in der Regel Normalbefunde. Die Ergebnisse der Untersuchung somatosensorisch evozierter Potenziale weisen auf die Präsenz einer zentralen distalen Axonopathie hin; so ist die Amplitude der kortikalen P-40-Antwort nach Tibialisstimulation bei normaler Latenz reduziert. Konsistent mit diesem Befund ist die insbesondere bei schwerer Betroffenen nachweisbare Reduktion der Amplitude der N 13 nach Medianusstimulation. Die Untersuchung der kortikospinalen Latenz nach magnetischer Kortexstimulation ergibt an den – klinisch ja meist nicht betroffenen oberen Extremitäten – in der Regel einen Normalbefund; an den unteren Extremitäten kann das Potenzial ausgefallen, seine Amplitude reduziert oder – in selteneren Fällen – die Latenz verlängert sein.
Therapie und Beratung
Die Therapie der spastischen Spinalparalyse betrifft vornehmlich die Hilfsmittelversorgung, aber auch eine krankengymnastische Behandlung kann einen deutlichen positiven Einfluss haben. Bei einigen Patienten wird man versuchen, Antispastika einzusetzen, wobei der Erfolg häufig unbefriedigend ist und durch die Möglichkeit einer Zunahme der Paresen limitiert wird. Ob bei schwer betroffenen Patienten die intrathekale Gabe von Baclofen einen therapeutischen Nutzen hat, ist aus Sicht des Autors anzuzweifeln. Die Grundlage der Therapie der Blasenstörung ist das Führen eines Miktionskalenders und die Regelung des Miktionsverhaltens (Blasentraining). Vor der genetischen Beratung wird die sorgfältige klinisch-neurologische Untersuchung auch des scheinbar asymptomatischen Familienmitglieds stehen müssen; es wird auf die häufig vollständige Penetranz der autosomal-dominanten Erkrankung hingewiesen werden, es wird aber auch erwähnt werden, dass der Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung, die Progression und die Ausprägung der Symptome (unter Einschluss der Blasenstörung) eine erhebliche interindividuelle Variabilität aufweisen können. Größere Schwierigkeiten treten bei der Beratung von Patienten auf, die aus Familien stammen, bei denen die Symptomatik erst nach dem Reproduktionsalter auftritt.

Spinale Muskelatrophien

Die progressiven spinalen Muskelatrophien sind eine klinisch heterogene Gruppe von Erkrankungen, die als Folge eines selektiven Untergangs motorischer Vorderhornzellen und der motorischen Kerngebiete des Hirnstamms auftreten. In diesem Abschnitt wird eine Einteilung nach traditionellen Kriterien vorgenommen, ohne dass auf Querverweise auf den derzeitigen Stand der genetischen Diagnostik verzichtet werden soll (Lefevbre et al. 1995; Zerres et al. 1993). Zur Funktion der Genprodukte ist derzeit wenig bekannt.
Klassifikation
Eine pragmatische Einteilung der wichtigsten Krankheitsbilder nach klinischen Kriterien wird in der folgenden Übersicht vorgenommen.
Einteilung der wichtigsten Formen der spinalen Muskelatrophien
1.
Proximale spinale Muskelatrophien
  • Spinale Muskelatrophie (SMA) I–IV (autosomal-rezessiv)
  • Juvenile adulte Form (autosomal-dominant)
 
2.
Distale spinale Muskelatrophien
  • Peroneale Muskelatrophie (autosomal-rezessiv)
  • Hereditäre motorische Neuropathie (autosomal-dominant)
 
3.
Formen mit speziellem Verteilungsmuster
  • Progressive Bulbärparalyse des Kindesalters (Fazio-Londe, autosomal-rezessiv)
  • Progressive Bulbärparalyse des Erwachsenenalters (autosomal-rezessiv)
  • Progressive Bulbärparalyse mit Taubheit (Violetto-van Laere, autosomal-rezessiv)
  • Skapuloperoneale Form (autosomal-dominant/autosomal-rezessiv)
  • Fazioskapulohumerale Form (autosomal-dominant)
  • Juvenile distale segmentale Form Typ Hirayama, sporadisch
 
4.
Sonderformen der spinalen Muskelatrophie
  • SMA mit Arthrogryposis congenita (autosomal-rezessiv)
  • Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy (X-chromosomal)
 
5.
Sporadische Form der spinalen Muskelatrophie
 
Es werden proximale spinale Muskelatrophien von den distalen Formen unterschieden (Osawa und Shisihikura 1991; Zerres et al. 1993). In die erste Gruppe gehört die akute infantile Form Werdnig-Hoffmann (SMA Typ 1), die chronisch infantile Form (SMA Typ 2, intermediärer Typ), die juvenile Form vom Typ Kugelberg-Welander (SMA Typ 3) und die adulte Form (Typ 4). Diese Erkrankungen zeigen einen autosomal-rezessiven Erbgang und müssen von den wesentlich selteneren Formen mit dominantem Erbgang unterschieden werden. Ein besonderes klinisches Verteilungsmuster zeigen die verschiedenen erblichen Formen der progressiven Bulbärparalysen sowie die juvenilen skapuloperonealen und fazioskapulohumeralen Formen. Auch der sporadisch auftretende distale Typ Hirayama gehört aufgrund des selektiven Befalls der distalen Armmuskulatur zu den Erkrankungen mit einem spezifischen Verteilungsmuster. Als wichtige Variante wird die neurogene Form der Arthrogryposis multiplex angesehen. Das Kennedy-Syndrom (spinobulbäre Muskelatrophie, SBMA) unterscheidet sich von den erstgenannten Erkrankungen aufgrund des X-chromosomalen Erbgangs.

Proximale spinale Muskelatrophien

Häufigkeit und Vorkommen
Die proximalen spinalen Muskelatrophien des Kindes- und Jugendalters sind Erkrankungen der Vorderhornzellen des Rückenmarks, die nur selten zusätzlich die bulbären Hirnnervenkerne oder den kortikospinalen Trakt erfassen. Die Erkrankung wurde erstmals im Jahre 1891 von dem Grazer Neurologen Guido Werdnig beschrieben (Werdnig 1891), der zweite Bericht geht auf das Jahr 1893 und den Heidelberger Neurologen Johann Hoffmann zurück (Hoffmann 1893). Kugelbergs und Welanders Beobachtungen folgten mehr als ein halbes Jahrhundert später in den Jahren 1954 und 1956. Die Inzidenz der rezessiv vererbten Formen der SMA liegt bei 1:10.000, eine Häufigkeit, die sie zur zweithäufigsten autosomal-rezessiv vererbten Erkrankung nach der zystischen Fibrose macht. Dabei ist die SMA Typ 1 (Werdnig-Hoffmann) die häufigste Variante. Die Heterozygotenfrequenz wird mit 1:50 eingeschätzt. Die autosomal-dominant vererbte Variante des Syndroms tritt bei weniger als 2 % der Erkrankten unter 10 Jahren auf.
Pathogenese und Genetik
Bei fast allen Patienten können Deletionen, sehr viel seltener Mutationen, auf Chromosom 5q aufgefunden werden, wobei homozygote Deletionen im „survival motor neuron gene“ (SMN-Gen) die wesentliche genetische Veränderung darstellen. Etwa 95 % der SMA-Typ-1- und -2-Patienten weisen Deletionen im SMN-Gen auf. Einzelheiten des pathogenetischen Zusammenspiels und die Funktion der Genprodukte sind weitgehend unbekannt; neuere Ergebnisse weisen interessanterweise darauf hin, dass ein erster Schädigungsschwerpunkt in einer Beeinträchtigung des axonalen Transports und der Synaptogenese liegt (Jablonka et al. 2004). Die genannten Deletionen treten bei den rezessiven Formen der Erkrankung auf, die von den wesentlich selteneren dominant vererbten Erkrankungen klinisch nicht unterschieden werden können.
Klinik
Die klinischen Varianten der Erkrankung (SMA Typ 1: Werdnig-Hoffmann, SMA Typ 2: intermediärer Typ, SMA Typ 3: Kugelberg-Welander) unterscheiden sich bezüglich Manifestationsalter und Progressionsrate (vgl. Zusammenfassung in Tab. 2).
Tab. 2
Verlaufsformen der autosomal-rezessiven SMA Typ 1–4. (Nach Zerres et al. 1993)
SMA-Form
Synonyme
Erkrankungsbeginn
Motorische Funktionen
Lebenserwartung
Typ 1
Akute infantile Form, Typ Werdnig-Hofmann
Pränatal – 6 Monate
Sitzen nie möglich
Tod normalerweise in den ersten Lebensjahren, selten Überleben bis ins Erwachsenenalter
Typ 2
Chronische infantile Form, intermediärer Typ
≤18 Monate
Sitzen wird erlernt, Gehen nie möglich
Deutlich eingeschränkt, jedoch Erreichen des Erwachsenenalters möglich
Typ 3
Juvenile Form, Typ Kugelberg-Welander
≤20.–30. Lebensjahr
Gehen möglich, später meist Einschränkung
Nur bei einem Teil der Patienten eingeschränkt, auch normal
Typ 4
Adulte Form
>30. Lebensjahr
Gehfähigkeit erst nach längerem Krankheitsverlauf eingeschränkt
Meist normale Lebenserwartung
Dabei kann die Einteilung nicht schematisch angewendet werden; es wird immer wieder Patienten geben, bei denen man die Zuordnung zu einer der vier diagnostischen Gruppen im Verlauf ändern muss. Dies impliziert auch, dass prognostische Aussagen nur mit großer Vorsicht und nur während einer kontinuierlichen Betreuung gemacht werden sollten.
Leitsymptome
SMA Typ 1
Bei der Werdnig-Hoffmann-Krankheit werden die ersten Symptome in Form eines Mangels oder Fehlens von Kindsbewegungen in den letzten 3 Monaten der Schwangerschaft bemerkt. Bei etwa 90 % der Kinder setzen die Paresen im 1. Lebensjahr ein. Die klassischen Symptome bestehen aus einer schweren generalisierten Muskelhypotonie und -schwäche, wobei der Schwerpunkt der Symptomatik an den proximalen unteren Extremitäten liegt. Die meisten Kinder sind nie in der Lage zu sitzen, zu stehen oder zu gehen. Die Muskeleigenreflexe sind nicht auslösbar, ein Tremor der Hände und Faszikulationen der Zungenmuskulatur gehören zum Bild. Das Zwerchfell und die von den okulären Hirnnerven versorgte Muskulatur bleiben in der Regel ausgespart; im Verlauf kommt es dann zu einem Befall der bulbären Muskulatur und der Atemmuskulatur, sodass die Mehrzahl der Patienten innerhalb von 2 Jahren stirbt. Bis zu 10 % der Patienten leben länger als 10 Jahre.
SMA Typ 2
Typ 2 der SMA unterscheidet sich von der Werdnig-Hoffmann-Krankheit dadurch, dass es nach frühem Beginn im Verlauf immer wieder zu Plateauphasen zu kommen scheint, während derer die Erkrankung nicht progredient verläuft. Bei einer zweiten Gruppe von Patienten beginnt die Erkrankung erst später und verläuft dann langsam progredient. Meist lernen die Kinder das Sitzen; das Stehen und Gehen hingegen wird nur von wenigen erreicht. Der Erkrankungsverlauf ist ähnlich wie bei der SMA1: Erst werden die proximalen Muskelgruppen der unteren Extremitäten und des Beckengürtels erfasst, und dann breitet sich die Erkrankung auf die distale Muskulatur sowie die Stamm- und Atemmuskulatur aus. Auch die hirnnervenversorgten Muskeln können erfasst werden, und Zungenfaszikulationen kommen vor. Kognitive Veränderungen treten hier wie bei allen SMA-Formen nicht auf. Wie bei der Werdnig-Hoffmann-Krankheit zeigen Elektromyografie und Muskelbiopsie Denervierungs- und Reinnervationsvorgänge; die Kreatinkinase ist bei einer Vielzahl der Kranken mit SMA Typ 2 erhöht (häufiger als bei Typ 1).
SMA Typ 3
Die spinale Muskelatrophie vom Typ Kugelberg-Welander verläuft deutlich weniger progredient als die Typen 1 und 2 und beginnt zwischen dem 1. und 30. Lebensjahr. Auch hier treten die ersten Symptome im Bereich des Beckengürtels und der Oberschenkelmuskulatur auf. Gehstörungen, Schwierigkeiten beim Aufrichten aus der Hocke und beim Treppensteigen sind typisch. Eine Pseudohypertrophie der Waden und eine lumbale Hyperlordose können mit zum Bild gehören. Später sind die Oberarm- und Schultermuskulatur und schließlich auch die Gesichts- und Halsmuskulatur einschließlich der Zunge mit betroffen. Auch hier sind die Muskeleigenreflexe fokal oder generalisiert abgeschwächt oder fehlen. Die Kreatinkinase ist noch häufiger erhöht als bei der SMA Typ 2, was zu Verwechslungen mit Muskeldystrophien führen kann. Die Lebenserwartung ist wesentlich vom Zeitpunkt der Erstmanifestation abhängig, beträgt im Durchschnitt etwa 50 Jahre, kann bei spätem Beginn aber auch normal sein. Bemerkenswert ist, dass im Gegensatz zur SMA Typ 1 und 2 bei der Kugelberg-Welander-Krankheit ein deutliches Überwiegen männlicher Erkrankter beobachtet wird. Dabei verschiebt sich das initiale Gleichgewicht nach der Pubertät zuungunsten männlicher Erkrankter, was Anlass zu Spekulationen hinsichtlich ätiopathogenetisch relevanter Kofaktoren ist.
SMA Typ 4
Die SMA Typ 4 ist eine gutartige Erkrankung mit Beginn im frühen Erwachsenenalter, bei der die Muskelschwäche auf die proximalen Extremitäten beschränkt ist und die Lebenserwartung nicht oder nur gering reduziert ist. Es ist bisher nicht gelungen, dieses Krankheitsbild eindeutig genetisch zu definieren und von anderen Motoneuronerkrankungen abzugrenzen. Hier sind in der Zukunft Überlegungen notwendig. Die diagnostischen Kriterien sind in der folgenden Übersicht dargestellt.
Diagnostische Kriterien proximaler spinaler Muskelatrophien. (Nach Zerres et al. 1993)
  • Muskelschwäche
    • Symmetrisch
    • Proximal > distal
    • Beine > Arme
    • Beteiligung der Rumpf- und Interkostalmuskulatur
    • Denervierung im EMG
    • Neurogene Veränderungen in der Muskelbiopsie
    • Faszikulationen
  • Ausschlusskriterien
    • ZNS-Beteiligung
    • Arthrogryposis
    • Beteiligung anderer Organe (z. B. Ohren und Augen)
    • Sensibilitätsstörungen
    • Augenmuskelbeteiligung
    • Deutliche Gesichtsmuskelbeteiligung
    • Kreatinphosphokinase(CK)-Erhöhung >10-fach der oberen Norm
Akzessorische Symptome
Die Übersicht zeigt auch, dass nach internationaler Konvention eine große Zahl von akzessorischen Symptomen als Ausschlusskriterium für die Diagnose einer SMA benutzt wird. So gehören die Erkrankungen, bei denen zusätzlich angeborene Herzfehler oder eine primär respiratorische Insuffizienz beobachtet werden, zu der Gruppe der Sonderformen der proximalen spinalen Muskelatrophien, die auch unter dem Begriff SMA-plus zusammengefasst werden. In die gleiche Gruppe gehören Erkrankungen, bei denen zusätzlich Strukturen des Groß- oder Kleinhirns, des Hirnstamms und des Rückenmarks mitbetroffen sind, oder die Erkrankungen, bei denen Veränderungen des Bindegewebsapparates (Arthrogryposis, kongenitale Frakturen) mit zum Gesamtsyndrom gehören. Es ist teils offensichtlich (Arthrogryposis), teils unklar, ob es sich bei den SMA-plus-Formen um eigenständige Krankheitsbilder handelt.
Diagnostik
Die klinischen und laborchemischen Kriterien für die Diagnose einer proximalen Form der SMA sind seitens des Internationalen SMA-Konsortiums definiert worden (s. Übersicht).
Die Definition des genetischen Defekts auf dem Chromosom 5 ist für die Diagnose entscheidend geworden, der Nachweis von Deletionen oder Mutationen an diesem Genort ist wichtiges klinisch-diagnostisches Kriterium. Die motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten sind bei allen Formen der SMA normal bis leicht reduziert, die sensiblen Nervenleitgeschwindigkeiten sind normal, während die Elektromyografie Denervierungspotenziale, einen neurogenen Umbau der Potenziale motorischer Einheiten sowie eine neurogene Lichtung bei maximaler Willkürinnervation zeigt. In der Muskelbiopsie finden sich Zeichen der Denervierungsatrophie, aber auch histochemische Hinweise auf Reinnervation treten auf. Die Kreatinkinase ist leicht- bis mäßiggradig erhöht, wobei das Ausmaß der Erhöhung bei den langsam progredienten Formen größer als bei der SMA Typ 1 ist. Dies kann bei den Erwachsenenformen zu Schwierigkeiten der differenzialdiagnostischen Abgrenzung gegenüber primären Muskelerkrankungen führen.
Differenzialdiagnose
Die differenzialdiagnostischen Erwägungen zu den proximalen autosomal-rezessiv vererbten Formen der SMA sind abhängig vom Alter, in dem das Syndrom auftritt. Die Differenzialdiagnose des „Floppy-Infant-Syndroms“ des Neugeborenen schließt schwere Formen der myotonen Dystrophie, die benignen kongenitalen Myopathien, die Fett- und Glykogenspeichermyopathien, eine kongenitale Myasthenie, aber auch die perinatale Hypoxie (auch als Zusatzfaktor) und zerebrale Malformationen mit ein. Bei Manifestation im Adoleszenten- und Erwachsenenalter ist eine sorgfältige differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber Muskeldystrophien, aber auch metabolischen Myopathien notwendig. Vor allem bei Auftreten akzessorischer ZNS-Symptome muss differenzialdiagnostisch ein Hexosaminidase-A-Mangel ausgeschlossen werden.
Therapie und Beratung
In den letzten Jahren ist in der pharmakologischen Therapie der spinalen Muskelatrophien ein entscheidender Durchbruch gelungen. Mithilfe von Antisense-Oligonukleotiden kann die Expression des Proteins SMN2, das eine praktisch identische Funktion wie das mutierte SMN1-Gen hat, gesteigert werden. Dies führt zu einer erheblichen Beeinflussung des Verlaufs; schon jetzt erreichen viele Werdnig-Hoffmann-Kinder nie für möglich gehaltene „motor milestones“ (Finkel et al. 2016, 2017), d. h., sie können sitzen und laufen. Es kann erhofft werden, dass eine präsymptomatische Behandlung nach Etablierung eines Neugeborenenscreenings einen noch besseren Effekt hat. Ob die Behandlung von Adoleszenten und Erwachsenen ausreichend effektiv ist, muss die Zukunft zeigen. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass kleine, aber für den Behinderten wesentliche positive Effekte möglich sind (Wurster und Ludolph 2018).
Entscheidend in der symptomatischen Therapie der proximalen spinalen Muskelatrophien ist die intensive krankengymnastische Behandlung mit dem Ziel der Vermeidung von Kontrakturen und Fehlstellungen, da sie zu einer weiteren Einschränkung der Bewegungsfähigkeit führen können. Sowohl passive als auch aktive Bewegungen können durchgeführt werden, wobei Krafttraining nicht befürwortet werden kann. Eine frühe Prävention der Skolioseentwicklung mit konservativen Methoden reduziert die Gefahr der frühzeitigen respiratorischen Insuffizienz, aber auch operative Eingriffe können indiziert sein. Eine Vielzahl von orthopädischen Hilfsmitteln (Orthesen, Kopfstützen) kann helfen, Funktionen zu erhalten und die Mobilität des Kranken zu verbessern. Insbesondere bei Trink- und Schluckschwäche ist die Frage der Sondenernährung zu diskutieren. Die Diskussion der möglichen Maßnahmen zur Unterstützung der respiratorischen Funktion (nichtinvasive Beatmungsformen, Heimbeatmung über Tracheostoma) muss auf dem Boden einer kontinuierlichen Patienten- und Verwandtenbetreuung und vor dem Hintergrund der Schwere des klinischen Bildes geführt werden.
Pränatale Diagnose
Der pränatalen Diagnose der SMA (alternativ dem Neugeborenenscreening) gehört die Zukunft, da eine präsymptomatische Behandlung sehr erfolgversprechend ist. Sie kann heute vor dem Hintergrund der bekannten Deletionen und Mutationen im SMN-Gen mit mehr als 99 %iger Sicherheit gestellt werden. Voraussetzung für diese hohe Zahl ist die Präsenz von Veränderungen in den betroffenen Familien. Die genetische Beratung sollte in Kooperation zwischen Neurologen und Genetikern durchgeführt werden, sie erfordert häufig auch die klinische und laborchemische Untersuchung anderer Familienmitglieder.

Distale spinale Muskelatrophien

Die distalen Formen der spinalen Muskelatrophien haben etwa einen 10 %igen Anteil an der Gesamtzahl der spinalen Muskelatrophien. Es treten sporadische Formen, autosomal-dominant und autosomal-rezessiv vererbte Formen auf. Alle diese Erkrankungen haben in der Regel einen gutartigen Verlauf, obgleich ihre nosologische Zuordnung nicht unumstritten und im Fluss ist. Prinzipiell müssen unterschieden werden
  • die spinalen Muskelatrophien vom Unterarmtyp,
  • die spinalen Muskelatrophien vom Peronealtyp.
Unterarmtyp
Die Erkrankungen vom Unterarmtyp beginnen in der Regel asymmetrisch an der kleinen Handmuskulatur und breiten sich dann langsam auf die benachbarte Muskulatur oder die entsprechende Muskulatur der Gegenseite aus. Im EMG finden sich neurogene Veränderungen der Potenziale motorischer Einheiten, meist auch positive scharfe Wellen und Denervierungspotenziale. Häufig zeigt die Erkrankung im Verlauf keine Progression mehr, die Lebenserwartung ist nicht reduziert. Eine differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber Wurzelkompressionssyndromen, lokalen Engpässen, metabolischen Myopathien, aber auch gegenüber dem fokalen Beginn einer amyotrophen Lateralsklerose ist notwendig.
Peronealtyp
Die peronealen Formen sind durch eine initiale Zehen- und Fußheberschwäche charakterisiert, die Patienten leiden an einem Hohlfuß und an einer Skoliose. Auch hier besteht nur eine milde Progressionstendenz. Die Differenzialdiagnose umfasst neuronale Varianten der hereditären motorischen und sensiblen Neuropathien (HMSN), die skapuloperonealen Formen der spinalen Muskelatrophien, aber auch hier eine beginnende amyotrophe Lateralsklerose. Hilfreich sind die Verlaufsbeobachtung und die Elektromyografie und -neurografie. Dabei schließen Veränderungen der sensiblen Leitgeschwindigkeit eine spinale Muskelatrophie aus. Ebenfalls hilfreich ist die Abgrenzung der HMSN-Formen durch molekulargenetische Diagnostik.

Spinale Muskelatrophien mit spezifischem Verteilungsmuster

Progressive Bulbärparalyse

Die progressive Bulbärparalyse des Kindesalters (Fazio-Londe-Syndrom) ist eine sehr seltene Erkrankung, die im Alter von 2–4 Jahren auftritt. Der Verlauf ist progredient, betroffen sind die kaudalen Hirnnerven, und im Mittelpunkt des Syndroms stehen Schwächen und Paresen der Kau- und mimischen Muskulatur, Dysarthrie und Dysphagie. Auch eine Ptose ist beschrieben worden, und die Kerngebiete des N. oculomotorius und des N. abducens scheinen auch befallen zu sein. Allerdings lassen die geringen Fallzahlen einige Fragen offen; so begann die Erkrankung bei der erstbeschriebenen Patientin im Alter von 18 Jahren, es ist unbekannt, wie häufig der angenommene autosomal-dominante Erbgang wirklich auftritt und inwieweit sporadische Bulbärparalysen des Kindesalters dieser Krankheitsgruppe hinzugerechnet worden sind. Verwandt scheint das ebenso seltene Vialetto-van-Laere-Syndrom zu sein, das einerseits klinische Ähnlichkeiten aufweist, sich andererseits durch seinen deutlich längeren Verlauf und durch eine Beteiligung des Hörnervs und des Labyrinths unterscheidet. Die beschriebenen Patienten mit Fazio-Londe-Syndrom starben innerhalb von 1–2 Jahren an der Erkrankung, während das Vialetto-van-Laere-Syndrom chronisch über Jahrzehnte verläuft.

Skapuloperoneale und verwandte Formen

Die seltene skapuloperoneale Form der spinalen Muskelatrophie wird autosomal-dominant vererbt, beginnt zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr mit einer Zehen- und Fußheberschwäche, um sich dann auf die Schultergürtelmuskulatur auszubreiten. Selten sind auch andere Muskelgruppen, insbesondere die proximale Muskulatur der unteren Extremitäten, im Verlauf betroffen. Die Muskeleigenreflexe sind schwach oder nicht auslösbar, und die Lebenserwartung ist nicht reduziert. Faszikulationen werden beobachtet. In der Literatur wird über schwierig zu interpretierende elektromyografische Befunde berichtet, die nicht immer eine Zuordnung zu einer neurogenen oder myogenen Läsion zulassen. Ob die fazioskapulohumeralen Formen der SMA eine eigenständige Entität darstellen oder dem skapuloperonealen Typ zuzuordnen sind, müssen Untersuchungen der Zukunft zeigen.
Der Typ Vulpian-Bernhard gehört heute in die Nähe der aggressiveren Formen der Motoneuronerkrankungen. Es handelt sich um eine Subform der ALS (Ludolph et al. 2015) und wird nach Henry Gowers auch als „flail arm syndrome“ bezeichnet (Hübers et al. 2016). Nach einem Beginn mit einem Schwerpunkt des Krankheitsprozesses im Bereich der Schultern ist praktisch immer eine Generalisierungstendenz zu beobachten allerdings ist die Lebenserwartung bei vielen Patienten mit etwa 10 Jahren besser als bei der ALS (siehe auch Kap. „Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)“. Sie wird häufig mit der sehr seltenen multifokalen motorischen Neuropathie (MMN) verwechselt und zu Unrecht mit Immunglobulinen behandelt (Hübers et al. 2016).

Distale segmentale Form (Typ Hirayama)

Der Typ Hirayama der spinalen Muskelatrophien (auch: benigne monomelische Amyotrophie) tritt v. a. bei jungen Männern sporadisch im Alter von 15–30 Jahren auf und ist durch eine asymmetrische Atrophie und Schwäche der kleinen Handmuskulatur charakterisiert (Hirayama 1991). Die meisten Patienten sind in Asien, insbesondere Ceylon und Japan gesehen worden, selten ist über familiäres Auftreten berichtet worden. In der Regel ist die Erkrankung zunächst über 2–3 Jahre langsam progredient, um dann zum Stillstand zu kommen. Die Patienten berichten über eine Kälteempfindlichkeit; Sensibilitätsstörungen oder Reflexanomalien treten nicht auf. Die Diagnose erfordert eine längerfristige Beobachtung des Patienten. Inwieweit diese distale Form der SMA von der im deutschen Sprachraum häufig diagnostizierten Duchenne-Aran-Erkrankung abgegrenzt werden kann, müssen zukünftige molekulare Untersuchungen zeigen. Eine gesonderte Einteilung ist derzeit berechtigt, da der Erstbeschreiber eine lokale Kompression des unteren Zervikalmarks als spezifische Pathogenese diskutiert; der Autor hat allerdings eine solche Kompression nie beobachten können.

Spinobulbäre Form der spinalen Muskelatrophie (Kennedy-Syndrom)

Das Kennedy-Syndrom gehört wie die Huntington-Krankheit oder die myotone Dystrophie zu den Trinukleotiderkrankungen. Ursache der Erkrankung ist ein verlängertes CAG-Trinukleotidrepeat auf dem X-Chromosom im Androgenrezeptor. Allerdings ist der kausale Zusammenhang zur selektiven Vulnerabilität von Motoneuronen unklar, da eine Ausschaltung des Androgenrezeptors nicht zu einer Vorderhornerkrankung, sondern zur testikulären Feminisierung führt. Daher muss der Mechanismus, der mit der Funktionsänderung des Genprodukts einhergeht, derzeit noch offen bleiben.
Aufgrund des X-chromosomalen Erbgangs sind Männer von der Erkrankung befallen. Der Beginn der Erkrankung ist Schwankungen unterworfen, in der Regel beginnt sie um das 20. Lebensjahr mit einer Gynäkomastie, belastungsabhängigen Muskelkrämpfen, Faszikulationen und einem Haltetremor. Ein bis zwei Dekaden später bemerkt der Patient dann die ersten Paresen, die bevorzugt die proximalen Extremitäten und die bulbäre Muskulatur betreffen. Die Entwicklung der Paresen verläuft dann langsam über Dekaden progredient, eine Dysarthrie oder Dysphagie kann hinzukommen. Die Lebenserwartung ist in der Regel nicht herabgesetzt. Die Mehrzahl der Patienten hat eine Gynäkomastie; ein Diabetes mellitus und eine Hodenatrophie sind nicht selten, und eine reduzierte Fertilität kann beobachtet werden. Neurophysiologische Untersuchungen können im EMG sowohl neurogene als auch myogene Veränderungen zeigen; die sensiblen Nervenaktionspotenziale fehlen. Die Kreatinkinase ist deutlich erhöht. Wie bei anderen Trinukleotiderkrankungen scheint es eine Korrelation zwischen Ausmaß der Trinukleotidverlängerung sowie Schwere und Beginn der klinischen Symptomatik zu geben (Rosenbohm et al. 2018). Es handelt sich um eine systemische Erkrankung, die nicht nur die Vorderhornzellen, sondern auch den Muskel, den Lipidstoffwechsel, den Hormonhaushalt und sogar das Herz („Brugada-Syndrom“) betrifft (Rosenbohm et al. 2018).

Arthrogryposis multiplex congenital

Erwähnenswert erscheint die kongenitale Form der Arthrogryposis multiplex, die durch Kontrakturen und Zeichen der Vorderhornerkrankung wie Hypotonie und Areflexie gekennzeichnet ist und in der Regel innerhalb von 3 Monaten letal verläuft. Das Gen für eine X-chromosomal vererbte Form dieser spinalen Muskelatrophie liegt auf Chromosom Xp11.3–q11.2.

Postpoliosyndrom

Nachdem in den 1950er-Jahren ein Impfstoff entwickelt und eingesetzt wurde, sind Neuerkrankungen von Poliomyelitis in den westlichen Industrienationen in kürzester Zeit verschwunden. Allerdings ist es noch nicht gelungen, die globale Eliminierung dieses Krankheitsbilds zu erreichen (Ludolph 2009). Die akute Poliomyelitis verläuft biphasisch: Nach einer ersten Phase mit Fieber, Kopfschmerzen und gastrointestinaler Symptomatik entwickeln sich einige Tage später aufgrund des Untergangs spinaler und bulbärer Motoneurone in wechselndem Ausmaß Paresen. In der Folgezeit wird dann eine leichte Besserung der Symptomatik, die auf Regenerationsvorgänge durch Aussprossen verbliebener motorischer Axone zurückgeführt wird, beobachtet. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten verbleibt das Krankheitsbild dann über Jahrzehnte in einem stationären Defektzustand. Anfang der 1970er-Jahre wurde erstmals berichtet, dass eine Anzahl von Poliomyelitispatienten im höherem Alter – Jahrzehnte nach der Erstsymptomatik – eine Verschlechterung ihrer Symptomatik beobachteten.
Heute müssen zwei Syndrome streng unterschieden werden (Munsat 1991; Halstead und Grimby 1995):
1.
 
2.
die progressive Muskelatrophie nach Polioinfektion („postpolio progressive muscular atrophy“).
 
Die erstgenannte Erkrankung ist häufig und scheint etwa 60–70 % aller Patienten zu befallen, die an Residuen einer akuten Kinderlähmung (Poliomyelitis) leiden. Die zweite Komplikation hingegen ist sehr selten und besteht klinisch aus einer langsamen, schmerzlosen Verschlechterung vorbestehender – meist schwerer – Paresen Jahrzehnte nach der Erstsymptomatik. Es wird kontrovers diskutiert, ob die Ursache der Erkrankung aus einem Alterungsprozess eines durch die Erkrankung maximal belasteten Pools von Motoneuronen besteht. Ein – nicht ausreichendes – Argument für das Bestehen dieser Erkrankung ist der Nachweis typischer (nicht niedrigamplitudiger) Fibrillationspotenziale im befallenen Muskel.
Die Symptomatik des weitaus häufigeren Postpoliosyndroms ist unspezifischer. Die Patienten klagen über – auch wenig lokalisierbare – Schmerzen, Schwächegefühl und Erschöpfbarkeit („Fatigue“).
Es scheint so, dass diese Gruppe von Symptomen etwa 70 % derjenigen Patienten befällt, die eine Polioinfektion überlebt haben. Um diese vergleichsweise unspezifische Symptomatik diagnostisch zu bewerten, sind einige systematische Schritte notwendig:
1.
Es muss versucht werden, zu belegen, dass der Patient tatsächlich an einer Poliomyelitis erkrankt war. Dies heißt, dass der Patient an einer fieberhaften Erkrankung mit Nackensteife oder einem lumbalen Schmerzsyndrom gelitten haben muss, die – wenn der Liquor untersucht wurde – mit einer milden Zellzahl- und Eiweißerhöhung im Liquor einhergegangen ist. Für die Diskussion der Diagnose eines Postpoliosyndroms ist es essenziell, dass im Rahmen einer solchen Erkrankung auch tatsächlich Paresen aufgetreten sind. Ist dies nicht der Fall gewesen (wie bei etwa 50–75 % aller Poliopatienten), kann die Diagnose Postpoliosyndrom nicht gestellt werden.
 
2.
Sind die genannten Beschwerden mit der Vorgeschichte einer paralytischen Poliomyelitis assoziiert, dann müssen häufig komplizierte differenzialdiagnostische Überlegungen angestellt werden. Diese beziehen sich v. a. auf drei Gruppen von Erkrankungen, die beim individuellen Patienten einen mehr oder weniger deutlichen Bezug zur Grunderkrankung aufweisen können:
  • Nervenkompressionssyndrome, die in allen Bereichen des peripheren Nervensystems auftreten können. Dabei muss sowohl an „traditionelle“ Engpasssyndrome wie das Sulcus-ulnaris-Syndrom, aber auch an mehr krankheitsspezifische Komplikationen wie eine Kompression des N. peroneus im Kniebereich beim Einsatz orthopädischer Hilfsmittel gedacht werden. Sekundäre Skoliosen können zu Wurzelreizsyndromen mit ihren typischen Ausfallsmustern führen.
  • Das sog. „Fatigue-Syndrom“. Bei Patienten, die in der Folge einer Polio an einer unspezifischen vermehrten Erschöpfbarkeit leiden, muss besonders an die folgenden Ursachen gedacht werden: Einerseits kann eine Depression, andererseits auch ein Schlafapnoesyndrom die Symptomatik verursachen. Bei Letzterem sind als zusätzliche Symptome Schlafstörungen, Schnarchen, morgendlicher Kopfschmerz und Abgeschlagenheit am Tage bis hin zu vermehrtem Tagesschlaf zu erfragen. Der nächtliche Gebrauch von Hypnotika kann die Symptomatik aus der Latenz heben.
  • Insbesondere wenn eine lokalisierte Schmerzsymptomatik besteht, muss auch an das Vorliegen orthopädischer Komplikationen gedacht werden. So führt die jahrzehntelange Instabilisierung des Kniegelenks durch Paresen benachbarter Muskelgruppen im Alter nicht selten zu einer vorzeitigen Gonarthrose mit der entsprechenden Schmerzsymptomatik; ähnliche Probleme können auch im Bereich anderer Gelenke, auch an der Wirbelsäule, auftreten. Für fast alle genannten Komplikationen, die im Rahmen eines Postpoliosyndroms auftreten können, ist ein Gewichtszuwachs im Rahmen der Immobilisierung ein zusätzlicher Risikofaktor.
 
Zusammengefasst ist das Auftreten von Spätschäden nach gesicherter paralytischer Polio keine Seltenheit; die häufig unspezifisch anmutenden Beschwerden sind jedoch nicht primär als schicksalhaft hinzunehmen, sondern bedürfen vielmehr einer sorgfältigen differenzialdiagnostischen Abklärung mit einem multidisziplinären Ansatz (Windebank et al. 1996).

Facharztfragen

1.
Welches ist der vorherrschende Erbgang bei einer HSP?
 
2.
Was ist die wichtigste Differenzialdiagnose der HSP und wie unterscheidet man beide Erkrankungen?
 
3.
Welches ist der diagnostische Goldstandard bei der SMA?
 
4.
Welches ist der lebensbegrenzende Faktor bei SMA-Patienten und wie kann man diesen behandeln?
 
Literatur
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