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Advance Care Planning in der Onkologie. Ein Beitrag aus klinisch-ethischer Perspektive

Verfasst von: Jan Schildmann und Tanja Krones
Bei der Behandlung von an Krebs erkrankten Patienten in der letzten Lebensphase ist der Patientenwille auch in Situationen, in denen der Patient selbst nicht mehr seinen Willen äußern kann, maßgebliche Grundlage für ärztliches Handeln. In der klinischen Praxis ist die Feststellung des Patientenwillens selbst bei Vorliegen einer Patientenverfügung häufig schwierig. Die Gründe hierfür liegen einerseits darin, dass bei der Erstellung von Patientenverfügungen häufig Informationen, die für die Anwendbarkeit der Patientenverfügung wichtig sind, fehlen. Andererseits bestehen auf der Ebene der Umsetzung häufig organisatorische Schwierigkeiten. Advance Care Planning (ACP) umfasst einen kontinuierlichen Erstellungs- und Umsetzungsprozess, der den bekannten Herausforderungen Rechnung trägt und neben Patienten und deren Stellvertretern auch Ärzte und Vertreter weiterer Gesundheitsberufe einbezieht. In diesem Beitrag wird das Konzept ACP sowie Auswirkungen auf die Patientenversorgung unter Berücksichtigung der Charakteristika der Versorgung von an Krebs erkrankten Menschen vorgestellt und aus klinisch-ethischer Perspektive diskutiert.

Einleitung

Advance Care Planning 1 (ACP) umfasst einen kontinuierlichen Erstellungs- und Umsetzungsprozess für Vorausverfügungen, die sich auf eine Entscheidungssituation bezüglich der medizinischen Versorgung beziehen, in der Patienten nicht selbstbestimmungsfähig sind. In den Prozess involviert sind zentrale Bezugspersonen und Vertreter unterschiedlicher Gesundheitsprofessionen, beispielsweise Hausärzte, Gesundheits- und Krankenpfleger, Rettungssanitäter und Notärzte bis hin zu Spezialisten im stationären Bereich (Coors et al. 2015; Hammes und Rooney 1998; U.S. Department of Health and Human Services 2008).
Gegenstand dieses Kapitels ist die Darstellung und Analyse von ACP unter besonderer Berücksichtigung der Charakteristika bei der Behandlung von an Krebs erkrankten Patienten.2 In einem ersten Abschnitt werden 2 typische Fallsituationen aus der Hämatologie und Onkologie zur Entscheidungsfindung bei fehlender Einwilligungsfähigkeit vorgestellt. Unter Bezugnahme auf die Fallbeispiele werden im Anschluss zunächst typische Herausforderungen bei der Erstellung und Interpretation von Patientenverfügungen benannt. Daran anschließend erfolgt die Darstellung von ACP als prozessorientierte Intervention mit dem Ziel einer verbesserten Dokumentation des Patientenwillens für Behandlungssituationen, in denen der Patient nicht mehr selbst entscheiden kann. Den Abschluss bildet eine kritische Würdigung von ACP unter Berücksichtigung vorliegender Evaluationsstudien und klinisch-ethischer Herausforderungen im Kontext der Versorgung von an Krebs erkrankten Menschen.

Entscheidungsfindung bei fehlender Einwilligungsfähigkeit – 2 Fallbeispiele

Fall 1: Keine adäquate Notfallplanung

Eine 28-jährige Patientin mit einer metastasierten Brustkrebserkrankung wird seit mehreren Jahren in einer Abteilung eines Krankenhauses ambulant behandelt. Seit 3 Monaten sind Knochenmetastasen bekannt. Vor etwa 2 Wochen wurde die Patientin wegen Schmerzen und zunehmender Schwäche stationär aufgenommen. Die Patientin hat ein enges Verhältnis zu den Eltern, die immer wieder betonen, dass „alles getan werden soll“. Über konkrete Maßnahmen wurde nie gesprochen. Am frühen Morgen beginnt die Patientin, mit zuletzt geringen Thrombozytenwerten, akut und massiv aus Mund und Nase zu bluten und bricht kurz darauf zusammen. Die diensthabende Ärztin löst den Alarm zur Einleitung von Wiederbelebungsmaßnahmen aus. Eine Stunde später verstirbt die Patientin nach Gabe von mehreren Blutkonserven und erfolglosen Versuchen zur Wiederbelebung.

Fall 2: Komplikationen nach Operation

Bei Frau Maier, 74 Jahre, erfolgte aufgrund eines Darmverschlusses eine Operation mit Entfernung eines Teils des Darms. In der Histologie zeigt sich ein kolorektales Karzinom, in der Ausbreitungsdiagnostik ergaben sich keine Anhaltspunkte für eine Metastasierung. Im Anschluss an die Operation kam es zu einer Komplikation, da eine der Operationsnähte insuffizient war, sodass erneut operiert und ein künstlicher Darmausgang angelegt werden musste. Im weiteren Verlauf entwickelte die Patientin eine Sepsis sowie eine disseminierte Gerinnungsstörung. Inzwischen ist die Patientin unter den intensivmedizinischen Maßnahmen stabil, allerdings zeigt eine Computertomografie des Schädels mehrere Einblutungen im Gehirn. Nach wiederholter bildgebend und Beurteilung durch mehrere erfahrene Neurologen ist davon auszugehen, dass die Patientin bleibende kognitive Schäden behalten wird. In der Mehrheit vergleichbarer Fälle konnten Patienten auch bei einem ansonsten günstigen Behandlungsverlauf nicht mehr mit ihrer Umgebung kommunizieren, allerdings ist die Aussagekraft der Prognose aufgrund des vergleichsweise kurzen Zeitraums beschränkt. Der 80-jährige Ehemann berichtet in den Gesprächen immer wieder, dass seine Ehefrau bis zum Zeitpunkt der Operation fit gewesen sei. Er verweist auf eine Patientenverfügung, in der dokumentiert ist, dass Maßnahmen, die lediglich den Sterbeprozess verlängern, unterlassen werden sollen.

Herausforderungen bei der Erstellung und Umsetzung von vorausverfügten Willensbekundungen

Beiden oben dargestellten Situationen gemeinsam ist, dass die betroffene Patientin nicht selbst entscheiden kann. Darüber hinaus geht es um Entscheidungen von großer Tragweite für das Patientenwohl. Unterschiede bestehen hinsichtlich der Dringlichkeit, mit der die Entscheidungen getroffen werden müssen, sowie bezüglich der zur Verfügung stehenden Informationen zum erwarteten medizinischen Verlauf. In beiden Fällen liegen keine ausreichenden Informationen über die Präferenzen und Werthaltungen der Patienten vor. Während im ersten Fall keine Patientenverfügung vorliegt, ist die Patientenverfügung im zweiten Fallbeispiel nicht anwendbar, weil sie sich, wie häufig der Fall, nicht auf die vorliegende klinische Situation anwenden lässt.
Der rechtliche Stellenwert von Patientenverfügungen in Deutschland wurde sowohl im Rahmen höchstrichterlicher Rechtsprechung als auch durch das 3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts gestärkt (Übersicht: Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2013). Demnach ist eine Patientenverfügung, die von einem volljährigen Patienten schriftlich verfasst wurde, rechtlich verbindlich für Situationen, in denen Patienten nicht mehr selbstbestimmungsfähig sind und in denen die Inhalte der Patientenverfügung auf die aktuelle Situation angewendet werden können. Wichtig für die Anwendbarkeit der Patientenverfügung ist neben einer Formulierung von Therapiezielen (z. B. in Bezug auf den als akzeptabel erachteten Grad kognitiver Einschränkungen) entsprechend der aktuellen Rechtsprechung (Vergleiche Beschluss des XII. Zivilsenats vom 06.07.2016 – XII ZB 61/16) auch die Konkretisierung von Behandlungssituationen beziehungsweise ärztlichen Maßnahmen.
Die Herausforderungen, die entstehen, wenn vorausverfügten Willensbekundungen in der Praxis Rechnung getragen werden soll, können einerseits dem Prozess der Erstellung von Patientenverfügungen zugeordnet werden. Andererseits gibt es Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Patientenverfügungen. Ein konkretes Problem bei der Erstellung von Patientenverfügungen ist die Komplexität der Entscheidungssituationen und die hierfür relevanten Fachinformationen. So relativieren Patienten nicht selten einen zuvor in einer selbstständig verfassten Patientenverfügung dokumentierten Wunsch eines Verzichts auf jegliche intensivmedizinische Maßnahmen, wenn sie in einem Gespräch darüber informiert werden, dass es Krankheitssituationen gibt, in denen die kurzfristige Durchführung einer intensivmedizinischen Maßnahme, wie beispielsweise der Beatmung, zu einer Wiederherstellung des aktuellen Gesundheitszustands führen kann. Probleme hinsichtlich der Umsetzung von Patientenverfügungen liegen unter anderem darin begründet, dass sich das Behandlungsteam gerade in akuten Situationen nicht in der Lage sieht, die übliche Dokumentation in Patientenverfügungen zu prüfen. Weiterhin kommt erschwerend hinzu, dass im hocharbeitsteiligen Gesundheitssystem häufig verschiedene Ärzte und weitere Berufsgruppen beteiligt sind, die sich im Rahmen kurzer Kontakte mit dem Patienten nur schwer ein angemessenes Bild von der Validität einer Patientenverfügung verschaffen können (Übersicht: in der Schmitten et al. 2014). Die folgende Übersicht fasst einige Gründe für die begrenzte Anwendbarkeit von Patientenverfügungen in der klinischen Praxis zusammen.
Häufige Limitationen von Patientenverfügungen
  • Fehlende inhaltliche Konsistenz (verschiedene Formulare können widersprüchliche Angaben enthalten)
  • Nicht mit den Vorsorgebevollmächtigten besprochen
  • Nicht basierend auf besten medizinischen Informationen (z. B. über Prognose bei Reanimation)
  • Nicht auf die aktuelle Situation zugeschnitten/aktualisiert
  • Nicht anwendbar in Notfallsituationen
  • Bei Krankenhauseinweisung oder Verlegung nicht übermittelt
Die oben beschriebenen Limitationen wurden in den USA bereits im Zusammenhang mit der Analyse der Auswirkungen des 1991 in Kraft gesetzten Patient Self-Determination Act (PSDA)3 beschrieben. Zusammenfassend legen die Ergebnisse empirischer Untersuchungen (Übersicht: Fagerlin und Schneider 2004), aber auch konzeptionelle Überlegungen, etwa mit Blick auf die Beschaffenheit und Möglichkeiten der Umsetzung sogenannter „komplexer Interventionen“, nahe, dass eine Patientenverfügungen, die vom Patienten ohne Austausch mit Angehörigen und Vertretern der Gesundheitsberufe abgefasst werden, in vielen Fällen nicht ausreichen, die Entscheidungsfindungsprozesse in Situationen fehlender Einwilligungsfähigkeit wirksam zu beeinflussen.

Advance Care Planning – Konzept und Implementierung in der Praxis

Im Rahmen von ACP wird auf der Prozessebene versucht, durch eine qualifizierte Begleitung die Erstellung von Vorausverfügungen so zu verbessern, dass Präferenzen und Werthaltungen von Patienten in Bezug auf typische in der klinischen Praxis auftretende Behandlungssituationen valide zum Ausdruck kommen. Auf einer systemischen Ebene wird durch die Einbeziehung unterschiedlicher Stakeholder (z. B. Hausärzte, Rettungsdienst) und den Aufbau von Strukturen (z. B. Zugriff auf Patientenverfügung, Qualitätssicherung) versucht, die Umsetzung des Patientenwillens, der in Patientenverfügung dokumentiert ist, zu verbessern.
In den letzten beiden Dekaden haben sich zunächst in den USA (z. B. Respecting choices©; Hammes und Rooney 1998) und wenig später in Australien (Respecting patient choices©; http://www.advancecareplanning.org.au) erste Projekte zur Umsetzung von ACP etabliert. Gemeinsam ist den Initiativen, die inzwischen auch an einzelnen Orten beziehungsweise Regionen im deutschsprachigen Raum zu finden sind (in der Schmitten et al. 2014; Krones 2015), die Prämisse, dass eine präferenzsensitive Gesundheitsversorgung in Situationen fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit eines gemeinschaftlich gestalteten Prozesses der gesundheitlichen Vorausplanung erfordert.
Patientenverfügungen richten sich an verschiedene Behandlungsteams beziehungsweise Vertreter der für die Behandlung und Pflege des Patienten zuständigen Gesundheitsberufe und Professionen. Damit sie wirksam umgesetzt werden können, müssen sie auf die jeweilige klinische Situation möglichst gut zugeschnitten und allen Akteuren bekannt sein. ACP, als interdisziplinär und interprofessionell gestalteter Prozess einer gesundheitlichen Vorausplanung, erfolgt angepasst an die jeweilige Situation (z. B. gesunder älterer Patient, chronisch kranker Patient, Patient in der letzten Lebensphase). Patienten werden zu definierten Zeitpunkten im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung auf die Möglichkeit einer schriftlichen Vorausplanung angesprochen und bei Interesse darin unterstützt, ihre Wünsche in Bezug auf die zukünftige gesundheitliche Versorgung zu dokumentieren. In Gesprächen, die arbeitsteilig von Ärzten und in ACP ausgebildete Gesundheitsfachpersonen („Advance Care Planning Facilitatos“, Praxisassistenten, Sozialarbeiter, Pflegefachkräfte) angeboten und durchgeführt werden, werden Werte und Wünsche des Patienten ausführlich erhoben, auf die gesundheitliche Situation angepasst besprochen und für mögliche Notfall- und Krisensituationen vorausgeplant. Wo gewünscht und möglich, werden Angehörige des Patienten im Rahmen des ACP-Prozesses eingebunden.
Häufig wird für 3 klinische Situationen, in denen Patienten möglicherweise nicht selbstbestimmungsfähig sind, vorausgeplant:
  • für den Notfall (siehe Fallbeispiel 1 in Abschn. 2.1),
  • für den Zustand länger dauernder fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit mit unsicherer Prognose (siehe Fallbeispiel 2 in Abschn. 2.2) und
  • für den Zustand sicherer dauerhafter fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit (z. B. bei Demenzerkrankungen).
Gemeinsam mit dem Patienten werden mögliche klinische Situationen vorbesprochen und, im Einklang mit den Wertvorstellungen und Präferenzen des Patienten, zentrale Therapieziele formuliert (z. B. Lebenserhalt unter Anwendung aller möglichen Maßnahmen, Lebenserhalt unter Ausschluss von bestimmten Maßnahmen oder bestmögliche Palliation). Zentrale Aufgabe der zuständigen gesprächsführenden Ärzte und ACP-Berater ist es, einen validen Plan gemeinsam zu entwickeln und auch vorauszuplanen. Will ein Patient zum Beispiel in einer Krisensituation nicht mehr in das Krankenhaus, hat aber, wie in Fallbeispiel 1 illustriert, beispielsweise ein Blutungsrisiko, muss möglichst genau festgelegt werden, was in der Situation einer Blutung getan wird. Dazu zählt die Bereitstellung von Notfallmedikamenten zuhause und Instruktionen für Patient und Bezugspersonen.
Angelehnt an die oben erwähnten Projekte in den USA und Australien sowie in enger Zusammenarbeit mit dem deutschen Projekt „beizeiten Begleiten“ (in der Schmitten et al. 2014) wurde in einem interdisziplinären Projekt am Universitätsspital Zürich ein Notfallplan (kurz ÄNO, Ärztliche Anordnung für den Notfall; Abb. 1) entwickelt. Dieser wird, wie die Patientenverfügung insgesamt, auf der Grundlage von bis zu 3 Gesprächen mit geschulten ACP-Facilitators in Rückbindung zum behandelnden Arzt erstellt. In den USA entspricht dieser Plan der sogenannten POLST-Form (Physician order for life sustaining treatment form, http://www.polst.org, Hickman et al. 2009). Das Ziel ist es, dass sich, analog zu anderen internationalen ACP-Projekten, ein solcher Plan für die ganze Region durchsetzt, auf den Notärzte und Rettungssanitäter auch in Notfallsituationen vertrauen, da dessen Logik und der dahinterstehende Qualitätsprozess bekannt ist.
Ziel der vorstehend ausgeführten Elemente des ACP-Prozesses hinsichtlich der Erstellung von Vorausverfügungen (u. a. strukturierte Gespräche, Dokumentation von Präferenzen für klinisch relevante Entscheidungssituationen) und der systemischen Umsetzung (u. a. regionale Einbeziehung der relevanten Berufsgruppen zur Abstimmung von Dokumenten und Gewährleistung des Informationsflusses an Schnittstellen) ist es, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Behandlung des Patienten auch im Falle der fehlenden Selbstbestimmungsfähigkeit entsprechend seiner Präferenzen und Wertvorstellungen erfolgt.

Advance Care Planning in der Onkologie – Evaluationsstudien und Herausforderungen aus klinisch-ethischer Perspektive

Die Auswirkungen von ACP auf die Versorgung in der letzten Lebensphase ist Gegenstand einer zunehmenden Anzahl von empirischen Untersuchungen (Butler et al. 2014; Houben et al. 2014). Im Rahmen einer systematischen Übersichtsarbeit für die Leitlinie der Deutschen Leitliniengruppe S3-Palliativmedizin des Leitlinienprogramms Onkologie (https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/palliativmedizin/) wurden mehrere randomisiert kontrollierte Studien sowie Kohortenstudien ausgewertet. In der Zusammenschau deuten die ausgewerteten Studien daraufhin, dass ACP bei an Krebs erkrankten Patienten mit verbessertem psychischen Befinden, verbesserter Lebensqualität, weniger unerfülltem Informationsbedarf, einer höheren Chance präferenzorientierter medizinischer Versorgung, weniger intensiven medizinischen Maßnahmen in der letzten Lebensphase sowie besseren Kenntnissen hinsichtlich der Erfolgswahrscheinlichkeit von Wiederbelebungsmaßnahmen assoziiert ist (https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/palliativmedizin/).
Einschränkend muss allerdings berücksichtigt werden, dass bei mehreren der aktuell vorliegenden Studien methodische Limitationen (u. a. kleine Fallzahl, vorzeitige Beendigung der Studie, unklare Zielkriterien) zu konstatieren sind. Weiterhin ist zu erwähnen, dass ACP in den Studien unterschiedlich definiert und operationalisiert wird. Die Unterschiede beziehen sich unter anderem auf die Inhalte und den Grad der Standardisierung der Gespräche mit den Patienten und die Qualifikation der Gesprächsbegleiter. Weiterhin unterscheiden sich die eingesetzten Hilfsmittel zur Gestaltung der Entscheidungsfindung und zur Dokumentation zwischen den verschiedenen ACP-Interventionen. Auch die Zuordnung der Aufgaben der am ACP-Prozess beteiligten Berufsgruppen lässt sich auf der Grundlage der vorliegenden wissenschaftlichen und populären Publikationen nur teilweise rekonstruieren. Weiterhin zeigte der im November 2020 publizierte Europäische ACTION-Trials (Korfage et al. 2020) kein positives Ergebnis für den Effekt von ACP auf das von den Studienverantwortlichen gewählte primäre Zielkriterium Lebensqualität.
Positive, aber auch mögliche negative Auswirkungen von ACP sollten im Rahmen weiterer, qualitativ hochwertiger Untersuchungen, geprüft werden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Übertragung von Endpunkten aus der klinischen Forschung für die Bewertung der Effektivität von ACP nur begrenzt sinnvoll ist. Ein Grund hierfür ist, dass der Inhalt der ACP-Dokumente heterogen ist. Während ein Teil der Patienten in bestimmten Situationen eine palliativmedizinische Behandlung wünscht, gibt es auch Patienten, die jedwede indizierte Maßnahme, die eine mögliche Lebenszeitverlängerung bietet, wünschen. Analog, beispielsweise zur Evaluation der klinischen Ethikberatung, muss unter klinischen und ethischen Gesichtspunkten geprüft werden, welche Endpunkte und Evaluationsmethoden der Intervention ACP und ihren Zielsetzungen angemessen sind (Schildmann et al. 2013).
In Bezug auf die weitere Implementierung und professionelle Gestaltung von ACP für die Versorgung von an Krebs erkrankten Menschen können aus klinisch-ethischer Perspektive folgende Entwicklungsmöglichkeiten identifiziert werden: Zunächst muss sowohl konzeptionell als auch bei der Umsetzung differenziert werden, durch welche Unterstützungsangebote und Prozesselemente im Rahmen von ACP in der Onkologie eine verbesserte Umsetzung der Präferenzen von an Krebs erkrankten Patienten erreicht werden kann. Hier ist zu bedenken, dass ein ACP-Prozess, der im Kontext einer Tumorerkrankung initiiert wird, den – auch in Abhängigkeit von Erkrankungsstadium und Behandlungsmöglichkeiten (z. B. metastasiertes Pankreaskarzinom versus akuter myeloischer Leukämie mit günstiger chromosomaler Veränderung) – unterschiedlich ausgeprägten Erwartungen von Patienten sowie den unterschiedlichen medizinischen Möglichkeiten und absehbaren Verläufen Rechnung tragen sollte.
Auf einer grundsätzlicheren Ebene sollte bedacht werden, dass trotz der bekannten Herausforderungen Patientenverfügungen selbstverständlich auch dann gelten, wenn sie nicht im Rahmen von ACP verfasst werden. Patienten können auf der Grundlage ihres Rechts auf Selbstbestimmung eine Beratung im Rahmen von ACP ebenso ablehnen wie die Formulierung von Vorausverfügungen. Grundlage für die Behandlung im Falle der fehlenden Einwilligungsfähigkeit ist dann der mutmaßliche Patientenwille. Weiterhin muss kritisch reflektiert werden, dass der Austausch zwischen Patienten und Vertretern verschiedener Gesundheitsprofessionen im Rahmen eines ACP-Prozesses immer auch das Risiko von unzulässigen Beeinflussungen birgt. Dies gilt nicht zuletzt angesichts des Befunds qualitativer wie auch quantitativer Studien, die darauf hindeuten, dass ärztliche Werthaltungen bei Therapieentscheidungen in der letzten Lebensphase einen nicht unerheblichen Einfluss haben (Schildmann et al. 2011, 2012). Es ist daher von großer Bedeutung, dass Ärzte und ACP-Berater im Rahmen von Fortbildungen Grundlagen einer wertebezogenen Kommunikation kennen.
Schließlich stellt sich im Kontext des ACP-Prozesses auch die Frage nach der bestmöglichen Informationsgrundlage für vorausverfügte gesundheitsbezogene Entscheidungen. Erste Ansätze, in denen auch für die Situation medizinischer Entscheidungen bei fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit, sogenannte evidenzbasierte Entscheidungshilfen („decision aids“), verwendet werden (Butler et al. 2014), sollten im Rahmen von Machbarkeits- und Effektivitätsstudien getestet werden, um eine bestmögliche Informationsgrundlage für Patienten und Angehörige sicherzustellen.

Fazit für die Praxis

  • Einer Patientenverfügung muss bei fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit bei Behandlungsentscheidungen Rechnung getragen werden.
  • In der klinischen Praxis bestehen häufig Schwierigkeiten, den Patientenwillen auf der Grundlage von Patientenverfügungen auf die konkrete klinische Entscheidungssituation anzuwenden.
  • Advance Care Planning umfasst einen kontinuierlichen Planungs- und Umsetzungsprozess unter Einbeziehung von Patienten, Angehörigen und Vertretern unterschiedlicher Gesundheitsberufe, mit dessen Hilfe die Umsetzung des Patientenwillens in Situationen fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit verbessert werden soll.
  • Klinische Studien deuten darauf hin, dass ACP die medizinische Versorgung im Sinne einer an die Wünsche von Patienten angepasste Behandlung verbessert.
  • Die Bearbeitung konzeptioneller Fragestellungen zu ACP, Fortbildungen zur Umsetzung sowie die Messung der Effektivität von ACP mithlfe angemessener Endpunkte sind Schwerpunkte laufender Forschungsvorhaben.
Fußnoten
1
Für „Advance Care Planning“ (ACP) werden im deutschsprachigen Raum derzeit verschiedene Begriffe verwendet. Die Deutschsprachige Interdisziplinäre Vereinigung zu Behandlung im Voraus Planen (DiV-BVP) e.V. verwendet den Begriff „Behandlung im Voraus Planen“ (BVP).
 
2
Im vorliegenden Beitrag wird aus Gründen der gebotenen Kürze und Lesbarkeit zur Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Gruppen die männliche Form verwendet. Gemeint sind stets beide Geschlechter, hier z. B. Patientinnen und Patienten.
 
3
Der PSDA sieht vor, dass Patienten bei Aufnahme in Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen über Patientenverfügungen und die Möglichkeit gesundheitsbezogener Vorausverfügungen informiert werden und weiterhin dokumentiert wird, ob eine Patientenverfügung vorliegt.
 
Literatur
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