Ätiologie und Pathophysiologie
Eine kognitive Dysfunktion
in Form von
Konzentrations-,
Gedächtnis- als auch
Wortfindungsstörungen findet sich bei Krebspatienten häufig (Cheung et al.
2012). Insbesondere Frauen nach Brustkrebserkrankung sind von der kognitiven Dysfunktion besonders betroffen. Erst in den letzten Jahren wurde dieser relevanten Funktionsstörung mehr Bedeutung beigemessen.
In Abhängigkeit von der Tumorentität ist von einer
Prävalenz der kognitiven Dysfunktion von 16–75 % auszugehen (Cheung et al.
2012). Nach einer Chemotherapie wird oft beobachtet, dass sich die kognitive Funktion verschlechtert und bei 15–45 % der Patienten auch langfristig vermindert bleibt (Schagen et al.
2006; Vardy et al.
2007; Wefel und Schagen
2012).
Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die kognitive Dysfunktion mit der
Antitumorbehandlung in Zusammenhang steht. Zwischen 1995 und 2012 wurden 53 Studien publiziert, die einen
Effekt der Chemotherapie auf die kognitive Dysfunktion nahelegen (Wefel und Schagen
2012).
Allerdings scheint die kognitive Dysfunktion bei Krebspatienten ein komplexes Problem zu sein. So konnte nachgewiesen werden, dass auch andere Faktoren wie Depression, Angst, die Krebsdiagnose und Fatigue eine Rolle spielen (Bender und Thelen
2013). Des Weiteren scheint sich auch eine subjektiv empfundene schlechte
Lebensqualität negativ auf die kognitive Funktion auszuwirken (Mehnert et al.
2007; Myers
2013). Zahlreiche Risikofaktoren konnten in den letzten Jahren evaluiert werden (Tab.
1) (Bender und Thelen
2013).
Tab. 1
Risikofaktoren für die Entwicklung einer kognitiven Dysfunktion bei Krebspatienten [aus Lange und Joly (
2017)]
• Ausbildungsjahre • Intelligenz • Alter • Geschlecht • Nebenerkrankungen - Neurologische - Psychische - Entwicklungsstörungen - Abhängigkeit - Frühere Krebserkrankung | • Depression • Angststörung | • Systemtherapie • Lokale Therapie • Dosis und Dauer der Therapie • Multimodale Therapie • ZNS-gängige Therapie | • Fatigue |
In einer großen Studie verglichen Janelsins et al. 581 Patientinnen mit nicht metastasiertem Brustkrebs, die chemotherapeutisch behandelt wurden, mit 364 altersadaptierten gesunden Probanden. Die Brustkrebspatientinnen berichteten signifikant häufiger über eine kognitive Dysfunktion im FACT-Cog-Score vor der Chemotherapie als auch 6 Monate danach im Vergleich zu der Kontrollgruppe. Außerdem waren die Symptome Angst und niedergeschlagene Stimmungslage bei den Krebspatientinnen signifikant mit der kognitiven Dysfunktion assoziiert. Im Gegensatz dazu hatte das Therapieregime, eine Hormon- oder
Strahlentherapie, keinen Einfluss auf den Nachweis einer kognitiven Dysfunktion im FACT-Cog-Score (Janelsins et al.
2017).
Eine weitere vergleichende Kohortenstudie mit 289 Patienten mit nicht metastasierten kolorektalen Karzinomen fand ebenfalls unter Verwendung einer computergestützten neuropsychologischen Testbatterie eine Rate an kognitiver Dysfunktion von 46 % ein Jahr nach Ende der Tumortherapie, ohne dass die Chemotherapie darauf einen negativen Einfluss gehabt hätte. Der Anteil der Patienten mit kognitiver Dysfunktion war statistisch signifikant höher in der Patientengruppe als in der Gruppe der gesunden Probanden mit nur 13 % (Vardy et al.
2015).
Diese Daten unterstützen unsere Ergebnisse aus der deutschlandweiten NeuroCog-FX-Studie, die 477 Patientinnen mit frühem oder lokal fortgeschrittenem Brustkrebs einschloss. Die Studienpatientinnen befanden sich in der onkologischen Rehabilitation und führten dort den NeuroCog-FX-Test durch. Anhand dieses Testes fanden wir eine Rate an kognitiver Dysfunktion von 41 %. Wir fanden allerdings keinen Hinweis auf eine Beeinflussung des kognitiven Leistungsniveaus durch die stattgehabte Chemotherapie, die
Strahlentherapie, endokrine Therapie oder den Nodalstatus. Demgegenüber korrelierte die kognitive Dysfunktion signifikant mit der Stimmung, der
Lebensqualität und den subjektiv erlebten kognitiven Leistungseinschränkungen der Patientinnen (Rick et al.
2018).
Bisher konnte die kognitive Dysfunktion nur anhand von umfangreichen neuropsychologischen Testbatterien zuverlässig objektiviert werden (Bender und Thelen
2013; Scherwath et al.
2008). Diese sehr zeitaufwendigen Verfahren eignen sich allerdings nicht für die klinische Routine und sind nur in Studien mit geringen Fallzahlen durchzuführen. Aus diesem Grund wurde in der oben genannten Studie der computerisierte
NeuroCog-FX-Test verwendet. Dieser ist ein rasch durchführbares, validiertes neuropsychologisches Screeninginstrument aus 4 Domänen und setzt sich aus 8 Untertests zusammen. Der NeuroCog-FX-Test untersucht insbesondere das Arbeitsgedächtnis, das verbale und figurale Gedächtnis, die Sprachfähigkeit sowie die Reaktionsfähigkeit (Hoppe et al.
2009).
Insbesondere die
posttraumatische Stresssituation nach der Diagnose Krebs kann sich individuell unterschiedlich auf die psychische Konstellation niederschlagen und auch kognitive Leistungseinbußen verursachen (Hermelink et al.
2017). Darüber hinaus könnte eine eingehende Aufklärung der Patienten über eine mögliche zytostatikainduzierte kognitive Dysfunktion die Entwicklung subjektiv erlebter Einschränkungen begünstigen (Schagen et al.
2012).
Auch ein
höheres Lebensalter scheint ein Risikofaktor für eine kognitive Dysfunktion bei Krebspatienten zu sei (Yamada et al.
2010). Jüngere Patientinnen (<65 Jahren) mit Brustkrebs entwickeln nach Chemotherapie aufgrund der noch geringeren Alterungsprozesse (längere Telomere) weniger häufig und erst im späteren Lebensalter eine kognitive Dysfunktion. Bei älteren Frauen (>65 Jahren) mit Brustkrebs wird signifikant früher (ab einem Monat nach Chemotherapie) eine kognitive Dysfunktion beobachtet (Ahles
2012).
In diesem Zusammenhang spielt auch die
kognitive Reserve, beeinflusst durch den Bildungsstand, die berufliche Tätigkeit und die Lebensweise eine Rolle. Ist die kognitive Reserve hoch, bildet sich weniger häufig eine kognitive Dysfunktion heraus als bei Patienten mit geringer kognitiver Reserve (Ahles
2012). Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass viele Studien kein Effekt der Chemotherapie oder anderer Therapien auf die kognitive Funktion fanden. Dies ist dadurch zu erklären, dass oftmals junge Patientinnen (mittleres Alter bei 40 Jahren) mit hoher kognitiver Reserve in diese Studien eingeschlossen wurden (Mehlsen et al.
2009).
Diagnostik
Bildgebende Methoden haben sich bis heute in der Diagnostik der kognitiven Dysfunktion außerhalb von Studien nicht etabliert. Dies liegt vor allem an den aufwendigen Verfahren, den sehr spezifischen und dezenten organischen Veränderungen und der damit verbundenen notwendigen Expertise des Untersuchers, diese Veränderungen auch erkennen zu können. In einer Studie aus dem Jahr 2012 konnte mittels MRT-Untersuchung des ZNS bei Patientinnen mit Brustkrebs gezeigt werden, dass die Intaktheit der weißen Substanz 3–4 Monate nach Ende der Chemotherapie abnimmt. Dieser Effekt war bei Patientinnen ohne Chemotherapie nicht zu beobachten. Auch eine Abnahme der grauen Substanz im Bereich des frontalen Kortex und Hypocampus, die für das Langzeit- und Kurzgedächtnisse zuständig ist, konnte beobachtet werden. Beide Effekte verringerten sich nach einem Jahr, waren aber auch nach über 9 Jahren noch anhaltend nachweisbar (Deprez et al.
2012). Darüber hinaus konnten mehrere Arbeitsgruppen anhand von bildgebenden Funktionsuntersuchungen, wie Funktions-(f)MRT und Funktions-(f)PET bei verschiedenen Tumorpatienten mit Chemotherapie eine verminderte Aktivität der Hirnleistung im Rahmen von kognitiven Aufgaben messen. Dies erfolgte im Vergleich zu Patienten ohne Chemotherapie und gesunden Probanden, bei denen diese negativen Effekte nicht nachweisbar waren (Ferguson et al.
2007; Kesler et al.
2011; De Ruiter et al.
2011).
Ein systematisches Screening kognitiver Störungen ist bislang nicht etabliert, obgleich für die Frage der beruflichen Wiedereingliederung eine schnelle und einfach durchzuführende Untersuchungsmethode zur Objektivierung kognitiver Funktionsstörungen wünschenswert wäre. Standardtestungen haben bisher in der Praxis keine breite Anwendung gefunden, da sie mit einem hohen Personal- und Zeitaufwand verbunden sind (2–3 Stunden pro Patient, Ausführung durch psychologische Psychotherapeuten, in der klinischen Praxis wegen Personalmangel häufig nicht möglich).
Zur vereinfachten Diagnostik kognitiver Funktionsstörungen können der d2-Test, der CogPack® und der weiter oben bereits beschriebene NeuroCog-FX-Test herangezogen werden. Der Mini-Mental-Test eignet sich nicht, um eine kognitive Dysfunktion bei Krebspatienten zu diagnostizieren, da dieser nur eine
Demenz ausschließen oder diagnostizieren kann (Scherwath et al.
2008; Hoppe et al.
2009).
Therapie
Die Behandlungsmöglichkeiten der kognitiven Dysfunktion sind insgesamt begrenzt (Chan et al.
2015). Nach wie vor existiert kein medikamentöser Ansatz zur Behandlung der kognitiven Dysfunktion. Ausschließlich das Psychostimulans
Donepezil zeigte bei Patienten mit
Hirntumoren nach Radiatio in einer Phase-III-Studie einen moderaten Effekt hinsichtlich der kognitiven Leistungsfähigkeit. Aus diesem Grund können derzeit medikamentöse therapeutische Ansätze außerhalb von klinischen Studien nicht empfohlen werden.
Im Rahmen der Behandlung der kognitiven Dysfunktion haben sich insbesondere
webbasierte bzw. computergestützte therapeutische Interventionen als vorteilhaft erwiesen. In einer großen Studie von 242 Patienten mit kognitiver Dysfunktion konnte ein signifikanter Vorteil für die webbasierte kognitive Therapie mit einem computergestützten Programm dokumentiert werden. Dieser positive Effekt war im Vergleich zu einer Kontrollgruppe auch noch nach 6 Monaten nachweisbar (Bray et al.
2017). Weitere webbasierte Trainingsprogramme erbrachten ebenfalls eine Verbesserung im Vergleich zu einer Kontrollgruppe im Hinblick auf die Wortfindung und das Kurzzeitgedächtnis (Kesler et al.
2013; Conklin et al.
2015; Damholdt et al.
2016; Mihuta et al.
2017).
Für die Wirksamkeit einer
psychoonkologischen oder
verhaltenstherapeutisch orientierten Therapie konnten bisher keine überzeugenden Daten vorgelegt werden. In einem Review aus dem Jahr 2014 konnte eine geringe Wirksamkeit einer psychologischen Intervention gesehen werden. Aus diesem Grund kann hier keine Empfehlung hinsichtlich einer psychotherapeutischen Behandlung ausgesprochen werden (Hines et al.
2014). Demgegenüber finden sich aber Hinweise für die Effektivität von Yoga (Vadiraja et al.
2009), für meditative Ansätze (Milbury et al.
2013), für Qigong (Oh et al.
2012) und für die Durchführung von Mindfullness-Based Stress Reduction (MBSR) (Johns et al.
2016). Körperliche Aktivitäten scheinen in präklinischen Modellen die kognitive Dysfunktion zu behandeln bzw. dieser vorbeugen zu können (Fardell et al.
2012). Einzig und allein eine kleine Studie mit älteren Krebspatienten, die an kognitiver Dysfunktion litten, konnte mittels eines Ergometertrainings eine verbesserte kognitive Funktion im Hinblick auf eine beschleunigte Reaktionsfähigkeit aufweisen (Miki et al.
2014). Dieser Effekt scheint insbesondere dann zum Tragen zu kommen, wenn seit der Tumortherapie noch nicht mehr als 2 Jahre vergangen sind (Hartman et al.
2018).