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Spirituelle und seelsorgliche Betreuung von Tumorkranken

Verfasst von: Eckhard Frick
„Spiritualität“ ist der übliche Breitbandbegriff für Ressourcen und für Probleme im Zusammenhang mit der Sinnfrage, der Identität, dem Transzendenzbezug und zwar im Hinblick sowohl auf religiöse Menschen als auch auf areligiöse. „Grenzsituationen“ (Karl Jaspers) sind zwar unausweichlich, wie sie jedoch gedeutet und bewältigt werden, hängt vom Individuum und dessen Umgebung ab. Seelsorgende kümmern sich um spirituelle Belange von Patienten aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation und der Sendung durch ihre Religionsgemeinschaft. Dadurch tragen sie zur Gesamtaufgabe „Spiritual Care“ bei. In einem weiten Sinn haben auch der Arztberuf und die anderen Gesundheitsberufe eine „seelsorgende“ Dimension. Ärzte sind die ersten Ansprechpartner von Tumorpatienten und anderen Kranken bei existenziell-spirituellen Fragen. Die spirituelle Basiskompetenz des Behandlungsteams besteht in der Sensibilität für Ressourcen, die das Coping erleichtern, und für Hindernisse, die es erschweren.

Definitions- und Zuständigkeitsfragen

„Spiritualität“ hat sich in der deutschsprachigen Medizin als Breitbandbegriff für Ressourcen, aber auch für Probleme im Zusammenhang mit der Sinnfrage, der Identität, des Transzendenzbezugs eingebürgert und zwar im Hinblick sowohl auf religiöse Menschen als auch auf areligiöse (Frick und Roser 2011). Gerade in der Onkologie ist der von dem Psychiater Karl Jaspers geprägte Begriff „Grenzsituation“ (Türcke 2018) hilfreich. Grenzsituationen (Geschichtlichkeit, Kampf, Schuld, Tod, Leiden) sind unabwendbar und endgültig. Wir können diese nicht verändern oder sie verlassen, wenn sie eingetreten sind. Jedoch können wir durch Vermeidung die Chance der „Existenzerhellung“ vorübergehen lassen, die durch Grenzsituationen eröffnet ist. Grenzsituationen „[…] sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen“ (Jaspers 1932, S. 203). Diese Wand grenzt unseren „immanenten“ Lebensbereich ab, macht auf das Dahinterliegende, „Jenseitige“ aufmerksam, das Jaspers Transzendenz nennt.
In Anlehnung an den angelsächsischen Sprachgebrauch wird häufig der Doppelausdruck R/S gebraucht, um deutlich zu machen: Der Bezug zu Grenze und Transzendenz kann im Rahmen einer Religion mit ihren Ritualen, Texten und Gemeinschaftsformen geäußert werden, aber auch durchaus säkular, z. B. in Meditationspraktiken, Weltanschauungen und subjektiven Krankheitstheorien. So formulieren die Anonymen Alkoholiker den dritten ihrer überkonfessionell verstandenen „Zwölf Schritte“ folgendermaßen: „Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir Ihn verstanden – anzuvertrauen.“
Mit einem aktuellen psychiatrisch-psychotherapeutischen Positionspapier (Utsch et al. 2017, S. 141) wird im Folgenden unter Religion
„[…] eine Gemeinschaft verstanden, die Traditionen, Rituale, Texte teilt (Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus u. a.). Religiosität meint über die institutionelle Religionszugehörigkeit hinaus eine persönliche Gestaltung und Lebenspraxis von Religion. Spiritualität wird in den Gesundheitswissenschaften allgemein als Containerbegriff verstanden, der die persönliche Suche nach dem Heiligen, nach Verbundenheit oder Selbsttranszendenz meint und ausdrücklich auch Weltanschauungen außerhalb der institutionalisierten Religionen mit einschließt. Existenziell werden (Grenz-)Erfahrungen genannt, die mit Sinn-Krisen einhergehen, insbesondere im Kontext von Krankheit und Tod“.
Innerhalb der christlichen Religionsgemeinschaften wird die Sorge um die spirituelle Orientierung und Entwicklung „Seelsorge“ (mit dem Fremdwort und im Englischen auch „Pastoral“ von lat. pastor: Hirte) genannt und mit einem ausdrücklichen haupt- oder ehrenamtlichen kirchlichen Auftrag verbunden. Der Seelsorge-Begriff wurde auch von Judentum und Islam übernommen. Prominente Ärzte haben die „seelsorgliche“ Dimension der Medizin hervorgehoben, z. B. Sigmund Freud („weltliche Seelsorge“) und Viktor Frankl („ärztliche Seelsorge“). Karl Jaspers hat dem vehement widersprochen:
„Ärztliche Heilung ist nicht das Bringen des Seelenheils. Die Vermengung von Arzt und Seelsorger muß die Aufgabe beider verwirren. Eine Modernität leer gewordener Menschen läuft vergeblich Heilserwartungen nach, die solche Psychotherapeuten erwecken. Das ärztlich Mögliche wird versäumt, das seelisch Begehrte nicht erreicht“ (Jaspers 1958/1999, S. 13).
Religion und Spiritualität können Teil des Problems sein (z. B. religiöse Vorbehalte gegenüber einer naturwissenschaftlich-reparativen Denkweise in der Medizin) oder Teil der Lösung (z. B. durch eine spirituell motivierte Verbesserung des Copings, s. unten) (Frick und Roser 2014/2018). Dies gilt auch für die Onkologie:
Religiosität und Spiritualität können im Kontext einer Krebserkrankung sowohl protektiven als auch belastenden Charakter haben. Zu den spirituellen und religiösen Problemen zählen der Verlust des Glaubens, Zweifel, Hoffnungslosigkeit und Sinnverlust sowie ausgeprägte Schuldgefühle, Ängste vor Verurteilung oder Bestrafung aufgrund religiöser Werte, Probleme der Krankheitsverarbeitung, Todesängste sowie ethische Konflikte im Krankenhaus (Leitlinienprogramm Onkologie 2014, S. 36).
Zusammenfassend: Die Begriffe „Religion“ und „Spiritualität“ werden teilweise als Gegensätze, teilweise als sich überschneidende Konstrukte gebraucht. Entscheidend für die Mobilisierung von Ressourcen ist der individuelle Sprachgebrauch des jeweiligen kranken Menschen.

Spiritualität als Dimension der Humanmedizin

Sowohl unter Medizinern als auch unter Theologen gibt es Stimmen, die wie Jaspers eine ungute Vermischung von Therapie und Seelsorge befürchten und beide Bereiche feinsäuberlich trennen möchten. Richtig ist, dass die freie Entfaltung der Spiritualität Schaden nimmt, wenn Spiritual Care als Reservetherapie missverstanden oder gar dem Patienten aufgedrängt wird. Andererseits ergeben sich trotz divergierender „Systemlogiken“ (Karle 2018) auch Chancen für eine Medizin, die sich der spirituellen Dimension öffnet, ohne diese zu instrumentalisieren:
Wo man mit Spiritualität – gleichgültig, welcher Art – Abweichung ins Lot bringen will, liegt eine Krankheitstheorie nahe, die die Ursache der Krankheit in unspiritueller Abweichung von Lot und Norm sieht. Kommt da nicht ein altes Muster hervor? Auf der einen Seite dieser Welt steht die Materie, der dumpfe Körper und seine Krankheit, und auf der anderen eine lichtere Geistesebene, die in manchen Vorstellungen sogar über transzendente Zugänge zu kosmischen Kraftquellen verfügt. Von hier aus soll nun der dumpfkranke Körper inspiriert werden. Wird hier nicht oft das Schicksalhafte, Kontingente und rätselhaft Dunkle der Erkrankungen ebenso wie das oft evidente und gewalttätige Einwirken von Noxen (zum Beispiel Rauchen, Abgase, Strahlungen) vernachlässigt durch eine Art Größenhoffnung wie: Das Spirituelle könnte das Materielle überwinden, wenn es nur effektiv und fit genug gemacht würde? (Theml 2000, S. 44).
Theml sagt hier als Onkologe Wegweisendes für eine bio-psycho-soziale und spirituelle Medizin („A biopsychosocial-spiritual model for the care of patients at the end of life“ 2002): Nicht das Materielle ist der Gegensatz zum Spirituellen, sondern ein unreflektiertes, getriebenes Lebensmodell, das sich im Funktionieren und Reparieren erschöpft. Gerade in der Medizin rücken die Materialität, die Zerbrechlichkeit des Menschen und seine Spiritualität nahe zueinander. Dies drückt sich in dem folgenden, von Emmanuel Levinas immer wieder zitierten Satz des litauischen Rabbiners Israel Salanter aus: „Die materiellen Bedürfnisse meines Nächsten sind spirituelle Bedürfnisse für mich“ (Levinas 1977, S. 20). Dieser Satz drückt die Spannung zwischen der materiellen Realität einerseits und der geistig-ethischen Dimension andererseits aus. Mit „spirituellem Bedürfnis“ ist eine unbedingte Verpflichtung gemeint, ein „Ruf“, der nicht von der materiellen Realität abgespalten werden darf.
Als Zwischenergebnis sei bezüglich des Verhältnisses zwischen Seelsorge einerseits und ärztlich-pflegerischem Spiritual Care andererseits festgehalten: Seelsorgende kümmern sich um spirituelle Belange von Patienten aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation und der Sendung durch ihre Religionsgemeinschaft. Dadurch tragen sie zur Gesamtaufgabe „Spiritual Care“ bei. In einem weiten Sinn haben auch der Arztberuf und die anderen Gesundheitsberufe eine im übertragenen Sinn „seelsorgende“ Dimension. Sie sind die ersten Ansprechpartner von Tumorpatienten und anderen Kranken bei existenziell-spirituellen Fragen. Die Patienten erwarten diesbezüglich von den Gesundheitsberufen nicht unbedingt Antworten, aber doch Präsenz und Resonanz, in manchen Fällen auch Weitervermittlung (die dann leichter ist, wenn Arzt oder Pflegeperson eine eigene „spirituelle Antenne“, ein „drittes Ohr“, entwickelt haben).

Bedürfnisse und Ressourcen

Die Erstdiagnose „Krebs“ und der damit in Zusammenhang stehende „Diagnoseschock“, möglicherweise anstehende Operationen oder Chemotherapie, besonders aber die Rezidivsituation werden von den Betroffenen häufig als Belastung erlebt, und zwar zusätzlich zu somatischen Problemen auch in psychischer, sozialer und spiritueller Hinsicht. Sowohl in diagnostischer als auch in therapeutischer Hinsicht ist die Progredienzangst von Patienten und Angehörigen ein zentraler Fokus (Rudolph et al. 2018).
Im Kontext der – oft von Angst, Depression und anderen emotionalen Belastungen begleiteten – Reflexionsprozesse (Wie geht mein Leben weiter? Was wird aus meinem Leben? Wie viel Zeit bleibt mir noch? …) kommt es häufig zu einer Auseinandersetzung mit der Frage nach Sinn und Bedeutung im Leben, nach dem, was trägt und Hoffnung gibt. Auch in einer eher säkular geprägten Gesellschaft nutzen Patienten mit Tumorerkrankungen Spiritualität/Religiosität als wichtige Ressource, um mit chronischer Krankheit umzugehen (Büssing et al. 2005). Diese beeinflusst die Art und Weise, wie ein Mensch mit seinem Leben und Leid umgeht; sie kann das Selbstwertgefühl unterstützen, dem Leben Sinn und Bedeutung sowie emotionalen Trost und Hoffnung geben (Thuné-Boyle et al. 2006). Der individuelle Glaube beeinflusst die Haltung und Einstellung zum Leben, kann zu innerem Frieden und einem Gefühl des Aufgehobenseins trotz der Erkrankung führen, was geringeren „Stress“ bedeutet und somit inneren Lösungsprozessen zuträglich ist.
Spirituelle Bedürfnisse werden im klinischen Kontext am ehesten in der palliativen Begleitung thematisiert. Hinsichtlich der spezifischen Bedürfnisse beschrieben „Seeking meaning and hope: self-reported spiritual and existential needs among an ethnically-diverse cancer patient population“ 1999), dass Tumorpatienten Hilfe bei der Bewältigung ihrer Ängste suchten sowie Hoffnung und spirituelle Ressourcen. Sie wünschten aber auch, mit jemandem über den Sinn des Lebens, Sterben und Tod und die Suche nach inneren Frieden sprechen zu können.
Untersucht man die Kategorien der in der Literatur beschriebenen spirituellen Bedürfnisse, so kann man vier miteinander verbundene Kerndimensionen differenzieren (Büssing und Koenig 2010):
  • Verbundenheit (Liebe, Zugehörigkeit, Partnerkommunikation, Entfremdung etc.)
  • Friede (innerer Friede, Hoffnung, Ausgeglichenheit, Vergebung, Disstress etc.)
  • Sinn/Bedeutung (Lebenssinn, Selbstverwirklichung etc.)
  • Transzendenz (spirituelle Ressourcen, Beziehung zu Gott/dem Heiligen, Beten etc.)
Diese lassen sich den Kategorien sozial, emotional, existenziell und religiös zuordnen und stellen einen konzeptionellen Bezugsrahmen für Forschung und Praxis dar.
Mit dem deutschsprachigen Spiritual Needs Screener (Büssing et al. 2022) lassen sich umschriebene psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse identifizieren. Untersuchungen an Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen oder Tumoren ergaben, dass weniger religiöse oder existenzielle Bedürfnisse im Vordergrund stehen als das Bedürfnis nach innerem Frieden und nach Weitergabe (von Lebenserfahrungen, Trost etc.) (Büssing et al. 2011). Signifikante Prädiktoren dieser Bedürfnisse waren eine eingeschränkte Lebenszufriedenheit, Depressivität sowie umschriebene Krankheitsinterpretationen (insbesondere „Wertvolles, an dem man wachsen kann“).
Die Erfüllung der artikulierten Bedürfnisse wird von den Patienten anscheinend mit der Erwartung einer Situationsverbesserung assoziiert. Die geäußerten Bedürfnisse sollten daher in ihrer Bedeutung für die Begleitung nicht unterschätzt und als „falsch“ oder „irrelevant“ abgetan werden, da sich hier der Wunsch nach Lösungsmöglichkeiten artikuliert, um mit der Krankheitssymptomatik und ihren Implikationen besser umgehen zu können. Die beschriebenen spirituellen Bedürfnisse sind, insbesondere vor dem Hintergrund signifikanter Zusammenhänge mit positiven Krankheitsbewertungen, auch Ausdruck möglicher kognitiv-emotionaler Lösungsansätze, die therapeutische Förderung verdienen (Büssing et al. 2013).
Die Berücksichtigung existenzieller/religiöser/spiritueller Bedürfnisse von Tumorpatienten ist wichtig,
  • um individuelle Unterstützungsmöglichkeiten durch das therapeutische Team, die Seelsorge und Angehörige zu erfassen,
  • um die Bedeutung der Suche nach einem Zugang zu Spiritualität bzw. eines Vertrauens in eine helfende („höhere“) Instanz (Transzendenz) einzuschätzen,
  • um eine areligiöse/glaubensunabhängige Reflexion der Lebensbezüge (Sinn und Bedeutung sowie Neuausrichtung) von nicht religiösen Patienten nicht zu vernachlässigen.

Coping

Coping (von engl. to cope: handeln, kämpfen mit, zurechtkommen mit) kann im Deutschen mit „Verarbeitung“ oder „Bewältigung“ übersetzt werden. Streng genommen handelt es sich um einen Bewältigungsversuch mit mehr oder minder gelungenem Bewältigungsergebnis. Coping ist also ein Prozess in mehreren Schritten angesichts einer neu auftretenden Belastung (z. B. Erkrankung, Verlustereignis, Naturkatastrophe). Das deutsche Wort „Bewältigung“ erinnert an „Gewalt“ und „Kraft“, die angesichts von Belastungen oft fehlt, vor allem zu Anfang. Wir sagen dann, dass wir angesichts der Belastung „in die Knie gehen“, dass sie „zu schwer für uns ist“, dass wir uns überfordert fühlen. Deshalb schließt Coping immer auch den Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit und der Verletzlichkeit anderer, mit der Suche nach den eigenen Ressourcen und den Ressourcen anderer ein. Kinder sind beispielsweise besonders vulnerabel, was Traumatisierungen angeht. In Situationen wie Krieg, Terrorismus und Vertreibung sind sie auf die Hilfe Erwachsener angewiesen, die häufig selbst überfordert sind und eine Unterstützung ihres Copings („Empowerment“) benötigen.
Coping ist die Bezeichnung für eine Vielzahl von Strategien und Verhaltensweisen der Auseinandersetzung mit Stressoren und belastenden Situationen. Eine die Vielfalt der Prozesse nicht hinreichend abbildende, sehr breite Coping-Dimension umfasst ein breites Spektrum von Verhaltensweisen mit den Extrempunkten Repression (Vermeidung) vs. Sensitization (Vigilanz).
Coping hat die Anpassung (Adaptation) an die durch Krankheit geänderte Lebenssituation zum Ziel. Dabei können zwei Ebenen unterschieden werden:
1.
Beherrschen oder Veränderung von Person-Umwelt-Bezügen, die Stress erzeugen (problemorientiertes Coping)
 
2.
Kontrolle von stressbegleitenden Emotionen (emotionsorientiertes Coping)
 
Um die Jahrtausendwende entstand der Vorschlag, das klassische Coping-Modell (Lazarus und Folkman 1984) in solchen Fällen durch ein spirituelles Modul („meaning based coping“, Folkman und Greer 2000) zu ergänzen, in denen das (problem- oder emotionsorientierte) Bewältigungsergebnis unvollständig bzw. nicht zufriedenstellend ausfällt.
Das integrative Coping-Modell (Abb. 1) betrachtet die spirituelle Krankheitsverarbeitung nicht als Lückenbüßer, sondern geht davon aus, das jegliche Coping-Anstrengung auch einen spirituellen Hintergrund hat, auch wenn dieser nicht ausdrücklich thematisiert wird.
Pargaments Unterscheidung zwischen „negativem“ und „positivem“ spirituellem Coping ist oft so verstanden worden, dass Aspekte wie Klage, Konflikt, Hadern mit Gott, dunkle Seiten des Gottesbildes zu einem ungünstigen Bewältigungsergebnis führen. Frick und Roser (2014/2018) selbst sehen das spirituelle Ringen um eine in der Krankheit gereifte Spiritualität differenzierter (Abb. 2).
Büssing et al. (2005) fanden mit Hilfe des SpREUK-Fragebogens („Spirituelle/Religiöse Einstellungen und Umgang mit Krankheit“ die in Abb. 3 dargestellten drei Faktoren der spirituellen Krankheitsverarbeitung.

Grundkompetenz in Spiritual Care

Die Metaanalyse von Best, Butow und Olver (2015) zeigt: Viele Patienten wünschen eine proaktive, wohlwollende Haltung von Ärzten zur Spiritualität, nicht als Konkurrenz zur klassischen Klinikseelsorge, sondern als Teil einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung. Die existenziellen und spirituellen Bedürfnisse der Patienten werden jedoch in der medizinischen Versorgung zumeist als „zu privat“ ausgeblendet oder bleiben mit dem Argument der ärztlichen Neutralität unberücksichtigt (Lee und Baumann 2013). So fühlten sich in einer US-amerikanischen Untersuchung bei Tumorpatienten 72 % in ihren spirituellen Bedürfnissen durch das medizinische System nicht bzw. nur minimal unterstützt – 47 % von ihnen fühlten sich aber auch nicht bzw. minimal durch eine Religionsgemeinschaft unterstützt (Balboni et al. 2007).
In einer eigenen Querschnittserhebung (Frick et al. 2019) bei 609 Ärzten, Pflegenden, anderen Gesundheitsberufen einschließlich der Seelsorge fanden wir eine sechsfaktorielle Struktur der Spiritual-Care-Kompetenz:
(1)
Proaktive spirituelle Unterstützung
 
(2)
Gesprächsführungs-/Wahrnehmungskompetenz
 
(3)
Austausch im Team
 
(4)
Vertiefung eigene Spiritualität
 
(5)
Dokumentationskompetenz
 
(6)
Wissen über andere Religionen
 
Die Personen der einzelnen Berufsgruppen wurden hinsichtlich ihrer selbsteingeschätzten „Berufsgruppenkompetenz“ für Spiritual Care befragt. 19 % der Ärzte meinten, ihre Berufsgruppe habe eine besondere spirituelle Kompetenz, 46 % der Pflegenden, 39 % der anderen Gesundheitsberufe und 93 % der Seelsorgenden (p<0,0001; Chi2). Der Aussage, dass ihre Berufsgruppe nicht für Spiritual Care zuständig sei, stimmten 38 % der Ärzte zu, 28 % der Pflegenden und 29 % der anderen Berufsgruppen, jedoch keiner der Seelsorgenden (p = 0,015; Chi2). Der zentrale Faktor „Proaktive spirituelle Unterstützung“ beeinflusst andere sowie den Themenbereich „Vertiefung eigene Spiritualität für Berufsalltag“. Der Zusammenhang zwischen „Austausch im Team“ mit „Proaktive spirituelle Unterstützung“ deutet an, dass ein Erfahrungsaustausch im Team zu einem proaktiven Engagement ermutigen könnte, was sich günstig auf die Berufszufriedenheit auszuwirken scheint.
Von besonderer praktischer Bedeutung ist die Fokussierung des säkular geprägten religiös-spirituellen Feldes in unserer entkonfessionalisierten Gesellschaft, für die eine Gleichzeitigkeit verschiedener Kombinationen von Religiosität (R) und Spiritualität (S) charakteristisch ist, sowohl auf der Ebene des Individuums als auch auf der Ebene von Gruppen und Organisationen und auch bezüglich der (mehr oder minder stark ausgeprägten) Passung zwischen Patienten und Behandlern: R+/S+, R+/S−, R−/S+, R−/S−. Wichtig für das Verständnis ist, dass R und S sich überschneiden können, von manchen Personen jedoch als sich ausschließende Konstrukte verstanden werden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn eines der beiden Konstrukte in der Selbstzuordnung negiert wird. So kann eine Person, die sich als „R−/S+“ beschreibt, aus der Sicht der empirischen Forschung durchaus als „religiös“ klassifiziert werden (Streib und Keller 2015), obwohl sie dies in ihrer Selbstzuordnung von sich weist.
Der Vielfalt aufseiten der spirituellen Patientenbedürfnisse entspricht eine kombinatorische Vielfalt in der praktischen Versorgungssituation, etwa wenn eine hochreligiöse Muslima (R+/S−) auf einen areligiösen/atheistischen Arzt (R−/S−) trifft oder ein alternativ-esoterisch orientierter, aber kirchenferner Patient (R−/S+) auf eine meditierende und religiös gebundene Pflegefachkraft (R+/S+). Um die Vernachlässigung religiöser und spiritueller Bedürfnisse durch Tabuisierung, Expertenmacht und fehlende Toleranz zu vermeiden, sollten spirituell-religiöse Orientierungen Aprioris und Vorlieben minimiert werden. In einer pluralistischen Gesellschaft und ihrer Gesundheitsversorgung ist das Prinzip der Toleranz eine notwendige Voraussetzung für Verständnis und Respekt. Das heißt allerdings nicht, dass der Arzt alle spirituellen Bedürfnisse erfüllen muss. In der konkreten Versorgungspraxis kommt es auf die Sensibilität von Medizin und Pflege für das spirituelle Coping an, sodass das Selbsthilfepotenzial und die Suche nach spiritueller Unterstützung gefördert werden.
In der bisherigen Forschung standen patientenseitige Wahrnehmungen spiritueller Probleme und Ressourcen im Vordergrund; die Therapeutensicht kam nur indirekt durch die Berücksichtigung des Behandlungs- und Coping-Prozesses in den Blick. Bei der Implementierung von Spiritual Care geht es um eine möglichst gute Passung der Patientenbedürfnisse einerseits und der Behandlersensibilität andererseits. Eine proaktive Haltung der Behandler im Sinne der S3-Richtlinie „Palliativmedizin“ dürfte nach unseren Ergebnissen am günstigen sein:
9.8. Konsensbasierte Empfehlung. EK. Dem emotionalen Erleben und den spirituellen Bedürfnissen sollen ausreichend Raum gegeben werden. Beides sollte gezielt angesprochen werden, auch wenn der Patient es nicht zum Ausdruck bringt.
Ärzte und andere Gesundheitsberufe können proaktiv „die Ampel auf Grün“ schalten, wenn sie initiativ und taktvoll nach Ressourcen fragen, die Kraft geben, nach Religion und Spiritualität, z. B. mithilfe des Anamneseschemas SPIR (Download bei http://www.spiritualcare.de).
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