Skip to main content

Sterbehilfe

Verfasst von: Michael Coors
In der ärztlichen Praxis müssen alltäglich ethische Entscheidungen am Lebensende getroffen werden und führen immer wieder zu kontroversen ethischen Diskussionen. Die Situation in Deutschland ist dadurch bestimmt, dass wesentliche Fragen rechtlich klar geregelt sind. Der Artikel stellt die rechtlichen Bewertungen der Tötung auf Verlangen, der Hilfe zur Selbsttötung, der unter Umständen tödlichen Nebenwirkungen von Therapien am Lebensende und des Zulassens des Sterbens (Therapiebegrenzung) dar. Diese rechtlichen Regelungen beruhen auf einem ethisch gut begründeten, weitreichenden moralischen Konsens, der wesentlich auf der Abwägung von moralischen Fürsorgepflichten und der Pflicht, die Selbstbestimmung des Patienten zu berücksichtigen, beruht. Diese Abwägung ist gegenwärtig besonders strittig mit Blick auf die Hilfe zur Selbsttötung. Abschließend diskutiert der Artikel, inwieweit Sedierungen am Lebensende und die medizinische Unterstützung beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) von der strittigen Praxis der Hilfe zur Selbsttötung abzugrenzen sind.

Einleitung

Dass die Begleitung von Menschen beim Sterben zu den wesentlichen ärztlichen Aufgaben gehört, dürfte heute unstrittig sein (Bundesärztekammer 2011). Strittig ist hingegen immer wieder, wann eine Begleitung beim Sterben übergeht in rechtlich und ethisch problematische Formen der Hilfe zum Sterben. Die zentralen Fragen sind rechtlich durch eine Reihe von höchstrichterlichen Urteilen geklärt, ethisch bleiben bestimmte Praktiken allerdings umstritten. Im Folgenden werden zunächst unterschiedliche Kategorien der Sterbehilfe und die Rechtslage bezüglich dieser Kategorien dargestellt. Anschließend werden zentrale ethisch strittige Entscheidungen und Diskussionspunkte dargelegt, um abschließend auf 2 für die Praxis der medizinischen Versorgung besonders relevante Themen einzugehen.

Grundlegende Unterscheidungen

Immer noch verbreitet, aber als irreführend erkannt, ist die Unterscheidung von sogenannter „aktiver“ und sogenannter „passiverSterbehilfe. Der Nationale Ethikrat (2006) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Begriffe problematisch sind und sie durch alternative Begriffe ersetzt, die in die folgende, in Medizinethik und deutscher Rechtsprechung weitgehend akzeptierte Systematik einmünden (Tab. 1).
Tab. 1
Übersicht über Kategorien der Sterbehilfe
Kategorie
Beschreibung
Rechtslage in Deutschland
Tötung auf Verlangen
(früher: „aktive Sterbehilfe“)
Eine Person tötet eine andere Person auf deren Wunsch hin
Verboten (§ 216 StGB)
Hilfe zur Selbsttötung
(auch: assistierter Suizid)
Eine Person tötet sich selbst, und eine andere hilft ihr dabei (z. B. durch Beschaffung eines tödlichen Medikaments). Die Tatherrschaft bleibt beim Suizidenten
Zulässig, wenn es sich um einen selbstbestimmten Suizidwunsch handelt. Niemand kann zur Suizidhilfe verpflichtet werden (2 BVR 2347/15)
Therapien am Lebensende
(früher: „indirekte Sterbehilfe“)
Medikationen am Lebensende, meist Schmerzmedikationen, werden mit dem Ziel der Leidenslinderung eingesetzt, können aber eine lebensverkürzende Nebenwirkung haben
Zulässig, wenn der Patient über die Risiken aufgeklärt ist und zugestimmt hat (BGH 3 StR 79/96)
Sterbenlassen
(früher: „passive Sterbehilfe“)
Eine lebenserhaltende medizinische Maßnahme wird unterlassen, begrenzt oder beendet
Zulässig in Übereinstimmung mit dem Patientenwillen. Ein Patient darf nicht gegen seinen Willen behandelt werden (BGH 2 StR 454/09; § 1901a/b BGB)

Tötung auf Verlangen

Tötung auf Verlangen liegt vor, wenn eine Person eine andere auf deren selbstbestimmten Wunsch hin tötet. Sie ist in Deutschland, wie alle anderen Tötungshandlungen, verboten und nach § 216 StGB mit bis zu 5 Jahren Haft bewährt. In Europa ist sie unter bestimmten Bedingungen nur in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und seit 2021 auch in Spanien zulässig.

Hilfe zur Selbsttötung

Hilfe zur Selbsttötung ist in Deutschland ethisch hoch umstritten und die rechtliche Lage hat sich in den letzten Jahren mehrfach geändert.
Zuletzt wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Februar 2020 das in § 217 StGB geregelte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gekippt und dieser Paragraf für verfassungswidrig erklärt (Bundesverfassungsgericht 2020). Das Gericht erklärte in seinem Urteil nicht nur das auch schon zuvor unbestrittene Recht zum selbstbestimmten Suizid zum Ausdruck des Persönlichkeitsrechts, sondern auch das Recht, dafür Hilfe durch Dritte in Anspruch zu nehmen, sofern diese aus freien Stücken Hilfe anbieten. Es hielt zugleich fest, dass niemand dazu verpflichtet werden darf, Hilfe zur Selbsttötung zu leisten, und dass der Staat in engen Grenzen eine rechtliche Regelung im Sinne eines Schutzkonzeptes erlassen kann. Der Leidenszustand der suizidwilligen Person oder die zu erwartende Restlebensdauer dürfen dabei allerdings nicht als Kriterien für die Zulässigkeit der Suizidhilfe verwendet werden. Bis eine derartige Regelung in Kraft tritt, ist die Hilfe zur Selbsttötung in den durch das Bundesverfassungsgericht geregelten Grenzen (selbstbestimmte Entscheidung des Suizidenten) in Deutschland zulässig. Das bis vor kurzem bestehende berufsrechtliche Verbot zur Mitwirkung bei der Selbsttötung durch Ärztinnen und Ärzte hat der Bundesärztetag am 5. Mai 2021 in Folge des Bundesverfassungsgerichtsurteils aufgehoben. Einzelne Berufsordnungen der Landesärztekammern enthalten nach wie vor das alte Verbot. Es scheint allerdings nur eine Frage der Zeit bis sich dies ändert.

Therapien am Lebensende

Im Blick sind hier die unter Umständen tödlichen Risiken und Nebenwirkungen von Therapien am Lebensende. Der Umgang mit diesen wurde bereits 1996 durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes geklärt (Bundesgerichtshof 1996): Eine lebensverkürzende Nebenwirkung von z. B. Schmerzmedikation darf in Kauf genommen werden, wenn die Medikation mit dem Ziel der Leidenslinderung erfolgt und der Patient im Wissen um dieses Risiko in die Behandlung eingewilligt hat. Wird die Medikation hingegen mit dem Ziel der Tötung verabreicht, handelt es sich um eine strafbare Tötungshandlung. Für den Fall einer eventuellen gerichtlichen Beurteilung der Frage, ob der Tod eines Patienten Nebenwirkung einer Therapie am Lebensende oder Folge einer Tötungshandlung war, ist es in der Praxis wichtig, dass die Dosierung der leidenslindernden Medikationen gut nachvollziehbar dokumentiert wird, ebenso wie die Aufklärung und Einwilligung des Patienten oder ggf. seines rechtlichen Stellvertreters.

Sterbenlassen

Dieser Begriff oder auch die Rede vom Zulassen des Sterbens eines Patienten tritt an die Stelle des irreführenden Begriffs der „passiven Sterbehilfe“. Es geht um Situationen, in denen eine lebenserhaltende Therapie unterlassen, begrenzt oder beendet wird, sodass der Patient infolgedessen stirbt. Der Bundesgerichtshof hat 2010 festgehalten, dass das Begrenzen oder Beenden einer bereits begonnenen lebenserhaltenden Maßnahme rechtlich der Nichtaufnahme dieser Therapie gleichzustellen ist. Das ist grundsätzlich immer dann rechtlich zulässig, wenn bekannt ist, dass der Patient diesen Eingriff nicht wollte. Im konkret verhandelten Fall war dieser Wille als mutmaßlicher Wille der Patientin bekannt. Weiterhin hat der BGH festgehalten, dass es für die rechtliche Beurteilung unerheblich ist, ob das Beenden der lebenserhaltenden Maßnahme durch aktives Handeln oder Unterlassen geschieht.

Formen des Patientenwillens

Der für diese rechtlichen Regelungen wesentliche Patientenwille kann auf unterschiedliche Art und Weise bekannt werden. An erster Stelle steht immer der aktuell geäußerte, selbstbestimmte Wille einer Person.
Nur wenn eine Person diesen nicht äußern kann, gilt ein gegebenenfalls vorliegender schriftlich verfügter Wille (Patientenverfügung). Diese entfaltet eine verbindliche Wirkung für genau diejenigen Situationen, die in ihr beschrieben sind. Diese Notwendigkeit der Beschreibung der Situationen hat der Bundesgerichtshof 2017 nochmals betont. Ebenso muss eine Patientenverfügung (PV) klar beschreiben, welche Maßnahmen durch sie abgelehnt oder eingefordert werden: Der allgemeine Hinweis auf die Ablehnung „lebenserhaltender Maßnahmen“ reicht nicht aus (Bundesgerichtshof 2016).
Liegt kein verfügter Wille vor oder ist dieser nicht hinreichend klar formuliert, so ist danach zu fragen, ob der Wille des Patienten in Form von Behandlungswünschen bekannt ist (Bundesgerichtshof 2014). Behandlungswünsche „sind alle Äußerungen des Betroffenen, die Festlegungen für eine konkrete Lebens- und Behandlungssituation enthalten, aber den Anforderungen an eine Patientenverfügung nicht entsprechen“ (Simon 2015, S. 215).
Wenn auch keine Behandlungswünsche bekannt sind, muss nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten gefragt werden, der aufgrund früherer mündlicher und schriftlicher Äußerungen, sowie unter Berücksichtigung religiöser oder anderer weltanschaulicher Überzeugungen des Patienten zu erheben ist.
Die primäre Verantwortung für die Feststellung des Patientenwillens liegt, wenn der Patient selbst nicht mehr einwilligungsfähig ist, beim rechtlichen Stellvertreter (Betreuer oder Bevollmächtigter), der dazu Angehörige und Vertrauenspersonen anzuhören hat (§ 1901b BGB). Wenn sich auf keinem dieser Wege ein Wille des Patienten feststellen lässt, ist das Wohl des Patienten das oberste Behandlungsziel, sodass im Zweifelsfall die medizinisch indizierten Maßnahmen durchzuführen sind. Das gilt auch in akuten Notfallsituationen, in denen es nicht möglich ist, den Patientenwillen schnell und zuverlässig in Erfahrung zu bringen (Bundesärztekammer 2011: A347).

Ethische Aspekte: Fürsorgepflichten und Selbstbestimmung

Grundlagen

Diese rechtliche Systematik geht von einer grundsätzlichen Hilfeleistungspflicht des Arztes für kranke Patienten aus, die ihre Grenze aber im selbstbestimmten Willen des Patienten findet. Weil für die ärztliche Hilfe in die grundrechtlich geschützte körperliche Integrität der Person (Art 2. GG) eingegriffen werden muss (Bundesgerichtshof 2010), braucht ein medizinischer Eingriff neben der durch den behandelnden Arzt mit Blick auf ein bestimmtes Therapieziel zu stellenden Indikation (Lipp 2015) immer auch die Zustimmung des Patienten (Duttge 2013; Dörries 2015). Damit wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Abwehrrecht konzipiert: Selbstbestimmung bedeutet nicht, dass der Patient Anspruch auf ärztliche Unterstützung hat, wenn kein medizinisch zu vertretendes Therapieziel vorliegt. Aus berufsethischer Perspektive stellt sich darum die Frage nach den Zielen ärztlichen Handelns. Sie ist in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (Bundesärztekammer 2011) beantwortet:
„Aufgabe des Arztes ist es, unter Achtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen“ (Bundesärztekammer 2011: A 346).
Das Herbeiführen des Todes ist keine ärztliche Aufgabe und kann daher auch nicht von Patienten eingefordert werden. Das hat die Bundesärztekammer auch angesichts der nun geänderten Berufsordnung nochmals betont. Sie hält daran fest, dass Suizidhilfe keine Aufgabe des Arztes ist, auch wenn sie sie nicht mehr verbietet (Bundesärztkeammer 2021). Hingegen ist ein Arzt verpflichtet, die körperliche Integrität des Patienten zu respektieren, und muss darum, wenn der Patient dies so will, ein Sterben des Patienten zulassen.
In ethischer Perspektive drückt sich im Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten die Entscheidung aus, dass moralische Überzeugungen über eine gute Lebensführung der individuellen Beurteilung Einzelner zu überlassen sind und darum deutlich von moralischen Fragen danach, was für alle zu akzeptierende Regeln des richtigen Handelns sind, zu unterscheiden sind (Rawls 1995; Habermas 1991). Darum kann nur der Patient selbst dem behandelnden Arzt mitteilen, was das Gute ist, dass der Arzt ihm tun kann. Die damit sich stellende Frage nach dem Patientenwillen wäre allerdings nicht relevant, wenn nicht schon vorausgesetzt würde, dass es eine Pflicht des Arztes gibt, für das Wohl des Patienten zu sorgen. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten besteht darin, dass er allein bestimmen kann, was für ihn Wohl oder Schaden ist, und es begründet darum keinen Anspruch auf Hilfe über die begründbaren Fürsorgepflichten des Arztes hinaus.

Die Diskussion über die Hilfe zur Selbsttötung

Vor diesem Hintergrund stellt sich die ethische Diskussion über die Bewertung der Hilfe zur Selbsttötung in erster Linie als ein Konflikt von Fürsorgepflichten dar und weniger als eine Diskussion über den Status des Selbstbestimmungsrechts des Patienten (Schaber 2017). Denn strittig ist nicht, dass jeder das Recht hat, sein eigenes Leben durch einen Suizid zu beenden – vorausgesetzt er oder sie ist urteilsfähig. Die ethische Frage nach der Hilfe zur Selbsttötung unterscheidet sich von der ethischen Frage nach der Bewertung des Suizids dadurch, dass eine andere Person um Hilfe bei der Selbsttötung gebeten wird. Für diese Person stellt sich dann die Frage, ob sie dem anderen, der sich selbstbestimmt für einen Suizid entschieden hat, vor dem Hintergrund ihrer Sorgeverpflichtungen für diese Person dabei helfen kann oder darf.
Abzuwägen sind hier insbesondere die Pflichten des Lebensschutzes und des Wohltuns. Hält man die Pflicht zum Lebensschutz für kategorisch und nicht gegenüber anderen Pflichten abwägbar, so folgt daraus eine kategorische Ablehnung der Hilfe zur Selbsttötung (so z. B. die Position der katholischen Kirche). Hält man die Pflicht zum Lebensschutz zumindest für abwägbar gegenüber der Pflicht, dem Patienten Wohl zu tun, so folgt daraus ein moralisches Dilemma, wenn der Patient daran festhält, dass das einzige Wohl, das ihm noch getan werden kann, der eigene Tod ist (so z. B. die die Position der evangelischen Kirche in Deutschland). Gewichtet man hingegen die Pflicht, Wohl zu tun, in Verbindung mit dem Recht einer jeden Person, für sich selbst zu bestimmen, was ihr Wohl ist, deutlich höher als die Pflicht, Leben zu schützen, so folgt daraus eine Befürwortung der Hilfe zur Selbsttötung.
Ausschlaggebend kann in dieser Diskussionslage eine Berücksichtigung sozialethischer Argumente sein (Dabrock 2015; Coors 2017): Selbst wenn man es grundsätzlich für zulässig hält, anderen bei der Selbsttötung zu helfen, kann man mit Blick auf die Situation schwacher und kranker Menschen in einer ganz auf selbstbestimmte Lebensführung hin orientierten Gesellschaft begründet die Sorge haben, dass eine völlige Freigabe der Hilfe zur Selbsttötung dazu führen könnte, dass Menschen, die dem hohen Maßstab einer selbstbestimmten Lebensführung nicht mehr gerecht werden können, es irgendwann für selbstverständlich hielten, dass ihr Leben eine ungebührliche Last für die Gesellschaft sei und darum durch Suizid beendet werden müsse. Dafür, dass solch eine Situation eintreten könnte, spricht, dass unser selbstbestimmtes Entscheiden immer vor dem Hintergrund von sozial konfigurierten Handlungsoptionen geschieht, die immer auch schon mit einer sozial konfigurierten Bewertung bezüglich dessen einhergehen, was erwartetes Verhalten ist. Um eine Situation zu vermeiden, in der es für irgendeinen Menschen zur sozial erwarteten Option werden könnte, sich selbst zu töten, kann man es für angemessen erachten, Formen der Hilfe zur Selbsttötung zu verbieten, die diese zu einem Normalfall werden lassen. Das Bundesverfassungsgericht ist in seinem Urteil aus dem Februar 2020 dieser Auffassung nicht gefolgt. Das ändert allerdings nichts daran, dass man hier ethisch begründet anderer Auffassung sein kann.

Kontroverse Themen der klinischen Praxis

Abgrenzung der palliativen Sedierung gegenüber der Tötung auf Verlangen

Die EAPC (European Association for Palliative Care) definiert palliative Sedierung als den „überwachten Einsatz von Medikamenten mit dem Ziel einer verminderten oder aufgehobenen Bewusstseinslage (Bewusstlosigkeit), um die Symptomlast in anderweitig therapierefraktären Situationen in einer für Patienten, Angehörige und Mitarbeiter ethisch akzeptablen Weise zu reduzieren“ (Alt-Epping et al. 2010, S. 112). Die ethische Entscheidung, die Indikation auf therapierefraktäre Situationen zu beschränken, ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass eine tiefe, kontinuierliche Sedierung bis in den Tod in Kombination mit einer Beendigung oder einem Unterlassen künstlicher Ernährung und Flüssigkeitszufuhr auch als indirektes Mittel zum Herbeiführen des eigenen Todes eingesetzt werden kann. Hier besteht die Gefahr, dass die palliative Sedierung zur „slow euthanasia“ wird (Alt-Epping et al. 2016, S. 856). Um dies zu verhindern, wird die Indikation auf anderweitig therapierefraktäre Zustände beschränkt, so dass die kontinuierliche Sedierung bis in den Tod zu einer Ultima-Ratio-Maßnahme wird.
Die Empfehlungen zu Sedierungen am Lebensende der Arbeitsgruppe „Ethik am Lebensende“ in der Akademie für Ethik in der Medizin (Neitzke et al. 2010, S. 141) ziehen daraus den Schluss, dass eine tiefe, kontinuierliche Sedierung – außer in akuten Notfällen – voraussetzt, dass vorher der Versuch einer Leidenslinderung durch eine intermittierende oder eine kontinuierlich flache Sedierung unternommen wurde. Wenn dann aber die Entscheidung zu einer tiefen, kontinuierlichen Sedierung bis zum Tod getroffen wird, ist dies damit verbunden, von einem vorrangig kurativen auf ein vorrangig palliatives Therapieziel umzustellen. Ist das Therapieziel aber die Palliation, so sind auch künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr nicht mehr indiziert (Neitzke et al. 2010, S. 142).
Kontrovers diskutiert wird außerdem, welche Art von Leiden als Indikation für eine palliative Sedierung infrage kommt. Unstrittig ist, dass physisches therapierefraktäres Leiden Grund für eine palliative Sedierung sein kann. Ob und unter welchen Bedingungen auch psychiatrische (z. B. Angststörung) und psychische (z. B. existenzielle Angst) Leidenszustände einen hinreichenden Grund für eine palliative Sedierung bilden, bleibt umstritten. Neitzke et al. (2010) sprechen sich dafür aus, auch psychiatrisches und psychisches Leiden als echte Leiden anzuerkennen, verweisen aber darauf, dass in diesen Fällen die Feststellung eines therapierefraktären Zustands schwierig wird. Auf jedes weitere intersubjektiv nachvollziehbare Kriterium zur Identifizierung eines unerträglich schweren Leidens zu verzichten, würde bedeuten, dass eine palliative Sedierung immer dann indiziert wäre, wenn der Patient sein Leid subjektiv als schwerwiegend definiert (Bozzaro 2015; Alt-Epping et al. 2016). Faktisch wäre eine palliative Sedierung dann immer indiziert, wenn der Patient sie wünscht. Von daher scheint es angemessen, über die unzweifelhaft relevante, subjektive Seite des Leidens hinaus, intersubjektiv nachvollziehbare Kriterien wie einen therapierefraktären Zustand zu fordern, auch, wenn dies gerade bei psychiatrischen und psychischen Leiden erhebliche Interpretationsspielräume mit sich bringt.

Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) als Suizid?

Der FVNF wird definiert als „freie Entscheidung einer einwilligungsfähigen Person, Essen und Trinken einzustellen, um damit absichtlich den eigenen Tod herbeizuführen“ (Simon und Hoekstra 2015, S. 1100). Er ist damit von allen Situationen zu unterscheiden, in denen Patienten Essen und Trinken einstellen, weil sie keinen Bedarf an Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr mehr haben. Es geht beim FVNF um das gezielte, selbstbestimmte Herbeiführen des eigenen Todes durch den Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Vor diesem Hintergrund wird kontrovers diskutiert, ob es sich beim FVNF um eine Form von Suizid (Birnbacher 2015; Simon 2018) handelt oder um eine davon zu unterscheidende Praxis (Tolmein 2018; Alt-Epping 2018). Je nachdem kann eine medizinische Begleitung und Unterstützung von Patienten auf diesem Weg als Hilfe zur Selbsttötung (Birnbacher 2015) oder als palliative Begleitung eines sterbenden Patienten charakterisiert werden, ggf. auch als palliative Begleitung eines Patienten beim Suizid, ohne dass diese Begleitung selbst den Charakter der Suizidhilfe trägt (Simon 2015; Coors 2019). Die Bundesärztekammer (2017) hat in dieser Diskussion dafür plädiert, die medizinische und pflegerische Begleitung eines Menschen beim FVNF nicht als Hilfe zur Selbsttötung einzustufen, sondern sie als eine Form palliativer Sterbebegleitung anzusehen.
Literatur
Alt-Epping B (2018) Contra: Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ist keine Form des Suizids. Z Palliativmed 19:12–15CrossRef
Alt-Epping B, Nauck F, Radbruch L (2010) Sedierung in der Palliativmedizin – Leitlinie für den Einsatz sedierender Maßnahmen in der Palliativversorgung. Z Palliativmed 11:112–122CrossRef
Alt-Epping B, Schildmann E, Weixler D (2016) Palliative Sedierung und ihre ethischen Implikationen. Eine Übersicht. Onkologe 22:853–859CrossRef
Birnbacher D (2015) Ist Sterbefasten eine Form von Suizid? Ethik Med 27:315–324CrossRef
Bozzaro C (2015) Der Leidensbegriff im medizinischen Kontext: Ein Problemaufriss am Beispiel der tiefen palliativen Sedierung am Lebensende. Ethik Med 27:93–106CrossRef
Bundesärztekammer (2011) Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. DtschÄBl 108(7):A 346–A 348
Bundesärztekammer (2017) Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB): Hinweise und Erläuterungen für die ärztliche Praxis. Dtsch Ärztebl 114(7):A 334–A 336
Bundesärztkeammer (2021) Hinweise der Bundesärztekammer zum ärztlichen Umgang mit Suizidalität und Todeswünschen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu § 217 StGB. Dtsch Ärztebl 118(29–30):A 1428–A 1432
Bundesgerichtshof (1996) Urteil vom 15. November 1996 – 3 StR 79/96. https://​www.​hrr-strafrecht.​de/​hrr/​3/​96/​3-79-96.​php3. Zugegriffen am 13.11.2018
Bundesverfassungsgericht (2020) Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020. – 2 BvR 2347/15 -, Rn. 1–343. http://​www.​bverfg.​de/​e/​rs20200226_​2bvr234715.​html
Bundesverwaltungsgericht (2017) Urteil vom 02.03.2017 – BVerwG 3 C 19.15. https://​www.​bverwg.​de/​de/​020317U3C19.​15.​0. Zugegriffen am 13.11.2018
Coors M (2017) Die ethische Diskussion über Suizid, Suizidhilfe und Suizidprävention in Kirchen und Theologie: Perspektiven evangelischer Theologie. Suizidprophylaxe 44:129–138
Coors M (2019) Zur theologisch-ethischen Bewertung des Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit: Eine evangelische Perspektive. In: Coors M, Simon A, Alt-Epping B (Hrsg) Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Kohlhammer, Stuttgart (im Erscheinen)
Dabrock P (2015) Selbstbestimmungsalternativen zwischen ethischer Bewertung und rechtlicher Normierung: Ein Beitrag (nicht nur) zur Sterbehilfe-Diskussion. Z Evang Ethik 59:123–132
Dörries A (2015) Die medizinische Indikation: Begriffsbestimmung und Rahmenbedingungen. In: Dörris A, Lipp V (Hrsg) Medizinische Indikation: Ärztliche, ethische und rechtliche Perspektiven. Kohlhammer, Stuttgart, S 13–23
Duttge G (2013) Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit. In: Wiesemann C, Simon A (Hrsg) Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen – Praktische Anwendungen. Mentis, Münster, S 77–90
Fabio U di (2017) Erwerbserlaubnis letal wirkender Mittel zur Selbsttötung in existenziellen Notlagen: Rechtsgutachten zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017 – 3 C 19/15 – im Auftrag des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. https://​www.​bfarm.​de/​SharedDocs/​Downloads/​DE/​Service/​Presse/​Rechtsgutachten.​pdf;jsessionid=​399EEA50603892DE​1D954CF4ECA18390​.​2_​cid329?​_​_​blob=​publicationFile&​v=​2. Zugegriffen am 13.11.2018
Gaidzik P (2018) Strafgesetzbuch (StGB). In: Bergmann KO, Pauge B, Steinmeyer H-D (Hrsg) Gesamtes Medizinrecht (Nomos Kommentar), 3. Aufl. Nomos, Baden-Baden, S 1791–1844
Habermas J (1991) Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Lipp V (2015) Die medizinische Indikation aus medizinrechtlicher Sicht. In: Dörries A, Lipp V (Hrsg) Medizinsche Indikation: Ärztliche, ethische und rechtliche Perspektiven. Kohlhammer, Stuttgart, S 36–46
Nationaler Ethikrat (2006) Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende: Stellungnahme. Nationaler Ethikrat, Berlin
Neitzke G, Oehmichen F, Schliep HJ, Wördehoff D (2010) Sedierung am Lebensende: Empfehlungen der AG Ethik am Lebensende in der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM). Ethik Med 22:139–147CrossRef
Rawls J (1995) Political liberalism. Extended Edition. Cambridge University Press, New York
Schaber P (2017) Selbstbestimmter Wille und das Recht auf assistierten Suizid. Ethik Med 29:97–107CrossRef
Simon A (2015) Betreuungsrechtliche Genehmigung der stellvertretenden Einwilligung in den Behandlungsabbruch. Kommentar zum Beschluss des BGH vom 17.9.2014 aus Sicht eines klassischen Medizinethikers. medstra 4:214–217
Simon A (2018) Pro: Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit als Suizid? Z Palliativmed 19:10–11CrossRef
Simon A, Hoekstra NL (2015) Sterbefasten – Hilfe im oder Hilfe zum Sterben? Dtsch Med Wochenschr 140:1100–1102CrossRef
Tolmein O (2018) Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit und rechtliche Fragestellungen in der deutschen Debatte. Z Palliativmed 19:141–148CrossRef