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Blut-Hirn-Schranke-Funktionsteste

Verfasst von: T. O. Kleine
Blut-Hirn-Schranke-Funktionsteste
Synonym(e)
Blut-Hirn-Schranke (BHS); Blut-Liquor-Schranke (BLS); Blut-Nerven-Schranke (BNS); Liquor cerebrospinalis (CSF); Marburger Liquor-Modell
Englischer Begriff
blood-brain barrier (BBB); blood-CSF barrier (BCSFB); blood-nerve barrier (BNB); cerebrospinal fluid (CSF); Marburg CSF model
Definition
Das Zentralnervensystem (ZNS) von Erwachsenen wird abgegrenzt vom Körper durch Endothel-Blut-Hirn-Schranke (BHS) in 650 km Hirnkapillaren mit ca. 12 m2 Oberfläche, durch Blut-Liquor-Schranke (BLS) in Plexus-choroidei-Epithel und Blut-Nerven-Schranke (BNS) in endoneuronalen Endothelzellen von Axonen sowie durch Hirn-Liquor-Schranke (HLS). Arachnoid-Epithel verschließt die ZNS-Oberfläche komplett.
Beschreibung
Die Durchlässigkeit der ZNS-Schranken wird durch Mechanismen von mindestens 5 Transportwegen zur Versorgung und Sicherstellung von internem Milieu im ZNS kontrolliert:
  • Parazellulärer Weg 1: Blut → ZNS und ZNS → Blut interzellulär durch Zonulae occludentes mit limitierter Diffusion für Wasser und wasserlösliche Substanzen in BHS, BNS; durchlässiger für Proteine in BLS mit Molekularsieb
  • Transzellulärer Weg 2: Blut → ZNS und ZNS → Blut für lipophile Substanzen, O2, CO2 in BHS, BLS, BNS
  • Carrier-vermittelter Weg 3: Blut → ZNS und ZNS → Blut mit Proteintransporter in der Zellmembran für Elektrolyte, für D-Glukose (Liquor-Glukose), Monocarboxylate (Liquor-L-Laktat), Aminosäuren, Cholin, Purine, Vitamine u. a. in BHS, BNS (Weg 3 zum Transport von Medikamentkonjugaten geeignet)
  • Vesikulärer Transport-Weg 4:
    • Weg 4a: unspezifischer vesikulärer Transport für Proteine durch Zellen der BHS, BLS, BNS (normalerweise sehr gering)
    • Weg 4b: Rezeptor-spezifisch vermittelte Endozytose Blut → ZNS bzw. CSF für Transferrin (Liquor-Transferrin (Tf)), Insulin, Insulin-like Growth Factor, Vasopressin, Leptin u. a. in BHS, BLS, BNS
    • Weg 4c: adsorptiv-vermittelte Transzytose Blut → ZNS (CSF) mit Sialinsäure-/Phosphat-Rezeptoren in Kapillar-Zellmembran für Histone, kationisiertes Albumin durch BHS (geringe Kapazität; Weg 4c zum Transport von Medikament-Konjugaten geeignet)
  • Efflux-Pumpen von Weg 5: ATP-abhängige ABC-Tansporter ZNS → Blut (ABC-Transporter) können „multidrug resistance“ im ZNS hervorrufen:
    • ABCB1 (MDR1, P-Glykoprotein, PgP), luminal im BHS-Endothel lokalisiert, transportiert lipophile Moleküle, Steroide, β-Amyloid, Methotrexat, Phenytoin, β-Blocker, Vinblasin, Vincristin Blut→ ZNS; Cyclosporin A moduliert ABCB1
    • ABCC1 („multidrug resistance-associated proteins“, MRP), abluminal und basolateral im BHS-Endothel lokalisiert (MRP1), transportiert Blut → ZNS anionische Konjugate mit Glutathion, Sulfat und Glukuronsäure bzw. an der luminalen BHS-Zellmembran (MRP2) ZNS → Blut
    • ABCG (BCRP, „breast cancer-resistance protein“), luminal im BHS-Endothel lokalisiert, transportiert Blut → ZNS einige Steroide, Lipide, Medikamente
Struktur
Aufbau der ZNS-Schranken beim Menschen:
  • BHS-Endothel mit 2 Tight Junctions mit dichten Stranggeflechten mit geringer Diskontinuität, hohem transzellulären elektrischen Widerstand (TEW): kein Protein Leakage
  • BLS-Epithel im Chorioid-Plexus mit einer lumennahen Tight Junction mit wenigen Strängen, vielen Diskontinuitäten und geringen TEW erlaubt partielles Protein-Leakage durch Molekularsieb in umgekehrter Abhängigkeit von Molekülradius der Proteine Albumin (3,74 nm) >> IgG (5,18 nm) > IgA (5,58 nm) >> α2-Makroglobulin (9,35 nm) >> IgM (12,10 nm)
  • BLS im Arachnothel der äußeren Liquorräume mit einer Tight Junction; relativ hohe TEW, Protein-Leakage sehr gering
  • BNS der Axone mit 1–2 Tight Junction; relativ hohe TEW, Protein-Leakage sehr gering mit Unterschieden
  • HLS ohne Tight Junctions: weitgehend unbehinderter Austausch zwischen ZNS-Interstitialraum und CSF
Physiologischerweise verursacht das Fehlen von Tight Junctions in gefensterten Kapillaren von 6 zirkumventrikulären Organen (Liquor cerebrospinalis), supraoptischen und paraventrikulären Kernen im ZNS, im Rückenmark in sensorischen Ganglien, dorsalen Nervenwurzeln und hauptsächlich durch das Proteinmolekularsieb in 4 Choroid-Plexus-Epithelien den ventrikulären → lumbalen Proteingradienten (Liquor-Protein), der durch pulsative Liquordurchmischung, spinalen CSF-Abfluss und Lymphrückfluss aus Ductus thoracicus maßgeblich moduliert wird (Liquor cerebrospinalis). Der Proteingehalt im kortikalen Liquor wird durch Diffusion von Plasmaproteinen durch Löcher in der BHS in Hirnstamm, Hypothalamus und sensorischen Ganglien bzw. in kortikalen Sulci (Pinozytose in kortikalen Arteriolen) erhöht.
Pathophysiologie
Pathophysiologie bei parazellulärem Weg 1: Protein-Leakage der BHS mit Extravasation von H2O, NaCl und Proteinen in den Extrazellularraum der weißen Substanz verursacht Volumenzunahme zwischen Axonen (vasogenes Hirnödem). In der grauen Substanz der Hirnrinde verursachen Entzündungsvorgänge und Hypoxie neben Protein-Leakage irreversible Schädigungen von Neuronen mit Zellnekrose, Gliaschwellung und Apoptose.
Pathophysiologie des transzellulären Weges 2: Kapazitätsminderung durch Integritätsverluste von ZNS-Schranken wie bei Weg 1 beschrieben.
Pathophysiologie des Carrier-vermittelten Weges 3: Kapazitätsminderung durch
  • Verminderung der Energieproduktion der ZNS-Schrankenzellen,
  • Integritätsverluste der ZNS-Schranken durch Pathomechanismen wie bei Weg 1 beschrieben.
Pathophysiologie von Weg 4 – vesikulärer Transport: Normalerweise in BHS sehr gering, in BLS stärker ausgebildet.
Kapazitätsminderung durch
  • Verminderung der Energieproduktion der ZNS-Schrankenzellen,
  • Integritätsverluste der ZNS-Schranken durch Pathomechanismen wie bei Weg 1 beschrieben.
Kapazitätssteigerung durch
  • erhöhten Druck in Hirnkapillaren,
  • proinflammatorische Zytokine (Liquor-Interleukine).
Pathophysiologie von Weg 5 – Efflux-Pumpen: Kapazitätsminderung durch
  • Verminderung der Energieproduktion der ZNS-Schrankenzellen,
  • Integritätsverluste der ZNS-Schranken durch Pathomechanismen wie bei Weg 1 beschrieben,
  • Modulatoren der ABC-Transporter, z.B. Cyclosporin.
Untersuchungsmaterial
Analytik
Vgl. Einzelparameter für
Referenzbereich
Vgl. Einzelparameter für
Bewertung
Periphere Kenngrößen der BHS/BLS-Funktion wie Liquor-Protein, QAlbumin untersuchen Protein-Leakage Blut → ZNS bzw. Blut → CSF; Evaluierung von BLS-Funktionsstörung in SOP-Liquor, keine Differenzierung von BHS- von BLS-Funktionsstörung in Ventrikelliquor möglich; Evaluierung von BLS- (weniger BHS-) Funktionsstörung in Lumballiquor, wenn Protein-Leakadge durch spinale Löcher in der BHS bzw. durch spinalen Liquorabfluss und Lymphrückfluss berücksichtigt werden.
Eine Spezifizierung der BHS/BLS-Funktionsstörung nach Transportwegen 1–5 ist zurzeit global möglich, da nur bei einzelnen ZNS-Krankheiten untersucht. Funktionsstörungen von Transportwegen 3 und 4 interferieren mit solchen von Transportweg 1.
Zentrale Kenngrößen der BHS/BLS-Funktion wie S100b, NSE, GFAP bzw. monomeres Transthyretin untersuchen BHS-Funktion ZNS → Blut bzw. BLS-Funktion CSF → Blut; Voraussetzung sind ausreichende Kenngrößenkonzentrationen in ZNS → Blut bzw. in CSF → Blut und niedrige Basiswerte im peripheren Blut.
Literatur
Begley DJ, Brightman MW (2003) Structural and functional aspects of the blood-brain barrier. Prog Drug Res 61:42–78
Kleine TO (2015) Cellular immune surveillance of central nervous system bypasses blood-brain barrier and blood-cerebrospinal-fluid barrier: revealed with the New Marburg Cerebrospinal-Fluid Model in healthy humans. Cytometry A 87a:227–243CrossRef
Pandey PK, Sharma AK, Gupta U (2016) Blood brain barrier: an overview on strategies in drug delivery, realistic in vitro modeling and in vivo live tracking. Tissue Barriers 4:1CrossRef