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Neutrophilen-Gelatinase-assoziiertes Lipocalin

Verfasst von: T. Arndt
Neutrophilen-Gelatinase-assoziiertes Lipocalin
Synonym(e)
Lipocalin 2; lcn2; Siderocalin; Uterocalin; NGAL
Englischer Begriff
neutrophil gelatinase-associated lipocalin
Definition
NGAL ist ein an Gelatinase (Matrix-Metalloproteinase 9) gebundenes Polypeptid aus der Lipocalin-Familie mit hoher Affinität zu den Eisenion-bindenden Siderophoren von aeroben Bakterien und Pilzen.
Struktur
Polypeptid mit 178 Aminosäuren, eine trichter- oder kelchartige Struktur bildend, in deren Innerem lipophile Substanzen (Siderophoren der Mikroorganismen) gebunden und nach Verschluss der Trichteröffnung in das Innere von Zellen transportiert werden.
Molmasse
Ca. 25 kDa (Monomer), 45 kDa (Homodimer), 135 kDa (Heterodimer mit Metalloproteinase 9).
Funktion – Pathophysiologie
NGAL wurde erstmals aus neutrophilen Granulozyten des Bluts isoliert. Weitere Syntheseorte von NGAL sind Nieren-, Darm-, Leber- und Lungenepithelzellen. Lipocaline wie NGAL verfügen über die Fähigkeit, eine breite Palette von Molekülen zu binden. NGAL bindet insbesondere sog. Siderophoren. Dies sind von Mikroorganismen an die Umgebung exponierte und nach Bindung von Eisenionen wieder aufgenommene Molekülkomplexe. Indem NGAL des Säugerorganismus‘ Siderophoren bindet und dadurch dem Mikroorganismus entzieht, erleiden diese einen Eisenmangel, der zu Wachstums- und Vermehrungshemmung führt. NGAL ist nach diesem Modell ein Teil der Immunantwort des Säugerorganismus auf Infektionen.
Unter physiologischen Bedingungen wird NGAL in nur geringen Mengen produziert (Neutrophile vorwiegend Homodimer, wenig Monomer; Tubuluszellen vorwiegend Monomer, wenig Heterodimer). Zellschädigung führt zur Induktion der NGAL-Synthese und zu gesteigerter NGAL-Freisetzung. Im Blut zirkulierendes NGAL wird glomerulär filtriert und in den Nierentubuli effizient resorbiert. Es ist also nicht die Quelle des Urin-NGAL. Dieses soll aus einer verstärkten Synthese in und Freisetzung aus geschädigten distalen Tubuluszellen stammen (monomeres NGAL).
Untersuchungsmaterial – Entnahmebedingungen
EDTA-Vollblut oder -plasma (Triage-Schnelltest); Urin zeitnah 5 Minuten bei minimal 400 × g zentrifugieren (Information zu CMIA-Test).
Probenstabilität
EDTA-Blut: 24 Stunden, sonst abzentrifugieren und bei –22 °C einfrieren; Urin: 24 Stunden bei 22–30 °C und 7 Tage bei 2–8 °C; darüber hinaus: einfrieren.
Präanalytik
Keine besonderen Anforderungen.
Analytik
Fluoreszenzimmunoassay (Triage-Schnelltest; Blut, Plasma, Serum, Urin), Chemilumineszenz-Mikropartikel-Immunoassay (CMIA; Urin); ELISA (Enzyme-linked Immunosorbent Assay) und Western blot.
Konventionelle Einheit
ng/mL.
Internationale Einheit
μg/L.
Referenzbereich – Erwachsene
Stark testabhängig; Antikörper erfassen Mono- und Dimere unterschiedlich stark. Triage-Schnelltest: 150 ng/mL (Wert aktuell in klinischer Erprobung; Quelle: Alere GmbH).
CMIA: <132 ng/mL (95 %-Perzentile von Probanden mit Serum-Kreatinin-Konzentrationen zwischen 0,7 bis <1,5 mg/dL und einer Urinprotein/Urinkreatinin-Ratio <200 mg/g; n = 196) (Quelle: Abbott 2009).
Referenzbereich – Kinder
s. Erwachsene.
Indikation
Die akute Nierenschädigung (ältere Nomenklatur: akutes Nierenversagen) kann anhand der konventionellen Marker wie z. B. Kreatinin im Serum für eine effiziente Intervention nicht frühzeitig genug erkannt und in ihrer Ätiologie differenziert werden. Mögliche Einsatzgebiete für NGAL-Messungen sind:
  • Vorhersage akuter Nierenschädigungen bei Herzoperationen, Organtransplantationen, Kontrastmittelgaben, pädiatrischen Intensivpatienten
  • Diagnose und Prognose akuter Nierenschädigungen
  • Diagnose und Verlaufskontrolle chronischer Nierenerkrankungen
  • Wirksamkeits- und Sicherheitsprüfung von Medikamenten durch NGAL-Monitoring unter und ohne Medikation
Interpretation
  • Bei akuter Nierenschädigung im Plasma bis 100-fach, im Urin bis 10000-fach erhöht.
  • Die Vorhersagekraft bzgl. einer akuten Nierenschädigung, ausgedrückt als Fläche unter der Receiver-Operator-Characteristic-Kurve (ROC-Kurve), ist offenbar stark abhängig von der Indikation und der Studiengruppe. Sie betrug z. B. nach Herz-OP für Erwachsene 0,61 (oder 61 % Zutreffwahrscheinlichkeit), für Kinder dagegen 0,96. Eine mögliche Ursache ist die höhere Prävalenz chronischer Vorerkrankungen bei älteren Menschen.
  • Zeitpunkt und Ausmaß des NGAL-Anstieges sollen mit Ausmaß und Dauer der Nierenschädigung korrelieren.
  • NGAL ist auch ein positiver Reaktant der Akute-Phase-Reaktion, d. h., seine Plasmakonzentration steigt bei Infektionen und Entzündungen, außerdem bei Anämie und Tumorerkrankungen an.
Diagnostische Wertigkeit
Hauptkritikpunkte sind a) die Unfähigkeit bestehender NGAL-Testsysteme zur Abtrennung tubulärer monomerer NGAL von monomerer NGAL anderer Quellen (Myokard, Neutrophile, Fibroblasten) und die damit einhergehende mangelnde diagnostische Spezifität bzgl. akutem Nierenversagen z. B. unter Herz-OP, b) die variierende Spezifität der Tests bzgl. der verschiedenen NGAL-Strukturen und c) das Fehlen validierter Referenzbereiche und testunabhängiger klinischer Entscheidungsgrenzen. Eine abschließende Bewertung ist deshalb derzeit nicht möglich. Neben der u. g. Literatur finden sich mehrere Übersichten in der Zeitschrift Clinical Chemistry and Laboratory Medicine (2012; 50:Nummer 9).
Literatur
Abbott Architect NGAL Kundeninformation, Version Oktober 2009
Devarajan P (2010) Neutrophil gelatinase-associated lipocalin: a troponin-like biomarker for human acute kidney injury (Review). Nephrology 15:419–428CrossRefPubMed
Grande D et al (2009) Neutrophil gelatinase-associated lipocalin: a novel biomarker for the early diagnosis of acute kidney injury in the Emergency Department. Eur Rev Med Pharmacol Sci 13:197–200PubMed
Smith KD (2007) Iron metabolism at the host pathogen interface: lipocalin 2 and the pathogen-associated iroA gene cluster. Int J Biochem Cell Biol 39:1776–1780CrossRefPubMedPubMedCentral