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Pseudocholinesterase

Verfasst von: A. M. Gressner und O. A. Gressner Fevery
Pseudocholinesterase
Synonym(e)
Cholinesterase II; Benzoylcholinesterase; S-Typ-Cholinesterasen; Serumcholinesterasen; EC 3.1.1.8; PCHE
Englischer Begriff
pseudocholinesterase; buturylcholinesterase; RBC (red blood cell)-cholinesterase
Definition
PCHE bilden eine Gruppe von substratunspezifischen, mit zahlreichen genetischen Varianten vorkommenden, funktionell noch weitgehend ungeklärten Acylcholin-Acylhydrolasen, die als Sekretionsenzyme der Leber diagnostisch als Kenngröße der Lebersynthesefunktion Bedeutung haben.
Synthese – Verteilung – Abbau – Elimination
Es werden 2 funktionell verwandte Enzyme in Geweben und Serum unterschieden:
  • Acetylcholinesterase (EC 3.1.1.7), auch als echte Cholinesterase oder Cholinesterase I bezeichnet, hydrolysiert als Acetylcholin-Acetylhydrolase hochspezifisch dieses Substrat an den Nervenendigungen (Synapsen), wo es für die Depolarisation notwendig ist. Dieses Enzym findet sich außer in Erythrozyten und Lungengewebe auch in Milz und Hirn.
  • Pseudocholinesterasen (EC 3.1.1.8), auch als s-Typ-Cholinesterasen, Serumcholinesterasen oder Cholinesterase II bezeichnet, gehören in eine Gruppe von substratunspezifischen, tetrameren (4 identische Untereinheiten) Acylcholin-Acylhydrolasen (Glykoproteine der α2-Globulinfraktion, Molmasse ca. 300 kDa) mit Vorkommen in Leber, Pankreas, Herz, Hirn und Serum. Ihre biologische Rolle ist noch unklar, vermutet wird eine Funktion im Lipid-(VLDL-) und Pharmakastoffwechsel. Als Substrate kommen neben Buturyl(thio)cholin, Propionylcholin, Benzoylcholin, Succinylcholin sowie Ester niederer und höherer Fettsäuren infrage. Das die Pseudocholinesterasen kodierende Gen auf Chromosom 3 kann in mehreren allelen Formen auftreten, sodass etwa 29 genetische Varianten existieren. Die Halbwertszeit der PCHE in der Zirkulation beträgt etwa 10 Tage.
Funktion – Pathophysiologie
Atypische PCHE haben eine, teilweise hochgradig verminderte Aktivität und sind gegenüber Inhibitoren wie Dibucain (Dibucain-Zahl) und Fluorid (Fluorid-Zahl) in unterschiedlicher Ausprägung resistent (s. folgende Tabelle). Das Vorhandensein des „silent gene“ ist verbunden mit der Abwesenheit messbarer PCHE-Aktivität. Klinisch relevante atypische Enzymvarianten finden sich bei ca. 4 % aller Individuen.
Atypische Gen-Allele des PCHE-Genotyps (normales Allel: Eu):
Allel
Eigenschaft
Molekularer Defekt
Dibucain-Zahl und PCHE-Aktivität
Ea
Dibucain-resistente Variante
Punktmutation
35 für EaEa
>36–75 für EuEa
Ef
Fluorid-resistente Variante
Punktmutation
36 für EfEf
>36 für EuEf
Es
Silent-Variante
Frameshift-Mutation, Stop-codon-Mutation
Keine PCHE-Aktivität bei EsEs Prävalenz: 1:105
Untersuchungsmaterial – Entnahmebedingungen
Serum, Heparin-, EDTA-Plasma.
Probenstabilität
Die Aktivität ist bis zu 1 Jahr bei −20 °C, 7 Tage bei 4–8 °C und etwa 6 Stunden bei Raumtemperatur stabil.
Analytik
Eine IFCC-Standardmethode ist nicht verfügbar. Gängige Methoden basieren auf der Hydrolyse synthetischer Thiocholinester, wobei in einer zweiten Reaktion das gebildete Thiocholin durch Reaktion mit dem chromogenen Disulfidreagenz DTNB (Elmans-Reagenz) zum gelbgefärbten TNB umgesetzt wird. Die Umsetzungsreaktion wird bei 405 nm kinetisch gemessen. Es handelt sich um eine sensitive, präzise (VK etwa 1,4 %) und gut mechanisierbare Methode. Bei Verwendung von Acetylthiocholin als Substrat werden Aktivitäten sowohl der Pseudocholinesterase als auch der echten Acetylcholinesterase gemessen, bei Gebrauch anderer Cholinester wird nur die PCHE erfasst. Demzufolge führt Hämolyse nur bei Verwendung von Acetylthiocholin als Substrat zu erhöhten PCHE-Aktivitäten.
Messreaktion https://media.springernature.com/b30/springer-static/image/chp%3A10.1007%2F978-3-662-49054-9_2585-1/MediaObjects/77759_0_De_2585-1_Figa_HTML.gif?as=jpg&s=1
Indikatorreaktion https://media.springernature.com/b30/springer-static/image/chp%3A10.1007%2F978-3-662-49054-9_2585-1/MediaObjects/77759_0_De_2585-1_Figb_HTML.gif?as=jpg&s=1
Referenzbereich – Frauen
Mit Buturylthiocholiniodid als Substrat, 37 °C: 4260–11250 U/L (71–187 μkat/L); Frauen in der Schwangerschaft: 3650–9120 U/L (61–152 μkat/L).
Referenzbereich – Männer
Mit Buturylthiocholiniodid als Substrat, 37 °C: 5320–12920 U/L (89–215 μkat/L).
Referenzbereich – Kinder
S. Männer.
Indikation
  • Verdacht auf Vergiftung mit Insektiziden vom Typ organischer Phosphorsäuren, wie Parathion, Sarin und Tetraethylpyrophosphat
  • Verlaufskontrolle der metabolischen Leistungsfähigkeit (Synthesekapazität) der Leber
  • Diagnose atypischer PCHE-Varianten (unter Anwendung der Dibucain- und/oder Fluorid-Zahl)
Interpretation
Bei den genannten Intoxikationen kommt es zu einer kompetitiven Inhibition, wobei neuromuskuläre Effekte bei einer Abnahme der Enzymaktivität um etwa 80 % zu erwarten sind. Nicht messbare PCHE-Aktivitäten verlangen Notfalltherapie mit Enzymreaktivatoren. Atypische Formen der PCHE sind durch deutlich reduzierte Aktivitäten, deren Ausmaß sehr unterschiedlich ist, gekennzeichnet und werden durch die erhöhte Resistenz gegenüber Inhibitoren wie Dibucain und Fluorid nachgewiesen (Dibucain-Zahl, Fluorid-Zahl). Ihre Erkennung ist präoperativ dann wichtig, wenn Muskelrelaxanzien vom Typ des Succinylcholins (Suxamethonium), das durch PCHE abgebaut wird, Verwendung finden. Atypische PCHE verursachen stark verlängerte Apnoephasen, die durch Substitution humaner PCHE therapierbar sind. In Abwesenheit atypischer PCHE-Varianten oder bekannter Enzyminhibitoren (z. B.Morphin, Phenothiazine) ist die PCHE-Aktivität ein sensitiver Indikator der Synthesekapazität der Leber, insbesondere dann, wenn bei der starken interindividuellen Streuung ein individualspezifischer Aktivitätsbereich bekannt ist. Verminderungen um 50 % und mehr treten z. B. bei schweren akuten und fortgeschrittenen chronischen Lebererkrankungen (Zirrhose, Tumoren) auf (s. folgende Tabelle).
Aktivitätsveränderungen der Pseudocholinesterase im Serum:
Hypocholinesterasämie
Hypercholinesterasämie
Hepatopathien
• Lebermalignome
• Stauungsleber
• Leberabszess
Dystrophie/Malnutrition
• Kwashiorkor
• Malabsorption
Cholinesteraseinhibitoren
• Physostigmin, Neostigmin, Cyclophosphamid, organische Phosphorsäureester
Atypische Cholinesterasen
• Niedrige Dibucain-Zahl (<76)
Gravidität (2. Trimenon bis 6 Wochen post partum)
Verschiedene Zustände
• Schwere Anämien
• Malignome
• Chronische Infekte, Entzündungen (z. B. Darm)
• Septikämie, Urämie
• Verbrennungen
• Diabetische Azidose
• Post operationem
• Antikonzeptiva, Monoaminooxidaseinhibitoren, Glukokortikoide, Cyclophosphamid u. a.
Proteinverlustsyndrom
• Exsudative Enteropathie
Unkomplizierte (alkoholische) Fettleber
Funktionelle Hyperbilirubinämie
Diabetes mellitus
Erhöhungen der PCHE-Aktivität sind klinisch von untergeordneter Bedeutung, treten bei vermehrter Proteinsynthese in der Leber und bei reiner Fettleber (Steatosis) auf (z. B. gesteigerte Synthese in der Leber infolge eines Proteinverlustes durch Niere und Darm). Da Albumin- und PCHE-Synthese in den Hepatozyten gekoppelt sind, kommt es bei Albuminverlust (z. B. nephrotisches Syndrom, exsudative Enteropathie) zu einer kompensatorisch erhöhten Albumin- und PCHE-Synthese, wobei angesichts der sehr hohen Molmasse PCHE im Gegensatz zu Albumin renal retiniert wird und im Blut akkumuliert.
Diagnostische Wertigkeit
Aufgrund der starken interindividuellen Variationen der PCHE-Aktivität ist eine einmalige PCHE-Bestimmung ohne Aussage für Syntheseleistung der Leber. In der Verlaufskontrolle reagiert das Enzym wegen seiner Halbwertszeit empfindlicher als Albumin, aber unempfindlicher als hepatogene Gerinnungsfaktoren, z. B. Thromboplastinzeit (Quick-Test) und Colombi-Index.
Literatur
Working group on enzymes (1992) Proposal of standard methods for the determination of enzyme catalytic concentrations in serum and plasma at 37 °C II. Cholinesterase (acylcholine acylhydrolase, EC 3.1.1.8). Eur J Clin Chem Clin Biochem 30:163–170