Skip to main content

Reaktive Sauerstoffspecies

Verfasst von: H. Fiedler
Reaktive Sauerstoffspezies
Synonym(e)
ROS
Englischer Begriff
reactive oxygen species (ROS); oxidative stress-related molecules
Definition
Reaktive Sauerstoffspecies (ROS) sind hochaktive Sauerstoffabkömmlinge, die durch Ein-, Zwei- oder Drei-Elektronen-Reduktionen aus Sauerstoff (O2) entstehen. Dazu gehören sowohl Radikale, wie Super(Hyper)oxidanion (·O2) und Hydroxylradikal (·OH), als auch molekulare Oxidanzien, wie Wasserstoffperoxid (H2O2) und Hypochloritanion (OCl) sowie Singulettsauerstoff (1O2) und Ozon (O3). (Tab. 1). Der Begriff umfasst singuläre chemische Einheiten mit spezifischer Kinetik der Bildung und Zerstörung, verschiedenen Eigenschaften (Haltbarkeit, Löslichkeit, Diffusion) und Wirksamkeit in unterschiedlichen Zellen und Organellen. Gleiches gilt für die Reaktionen mit Antioxidantien und vice versa: Ein ROS-Molekül wird entfernt, ein anderes nicht, oder ein Antioxidans wird sogar zum Oxidans. Daraus ergeben sich noch zu lösende Schwierigkeiten (und Überraschungen) in Forschung, Analytik und Interpretation.
Tab. 1
Reaktive Sauerstoffspecies
Sauerstoffspecies
Symbol
Bemerkung
Radikale
Superoxidanion
Hyperoxidanion
Dioxid(1)
·O2
Ein-Elektronen-Reduktion, Bildung bei Autoxidation
Vorläufer der ·OH-Bildung
Enzymatisch reguliert, Dismutation zu H2O2,
Hydroxylradikal
·OH
Drei-Elektronen-Reduktion, Fenton-Reaktion, Zerfall von Peroxynitrit
Extrem aggressiv, aber instabil
Halbwertszeit 10−9 s, Redoxpotenzial +2300 mV
Hydroperoxylradikal
HOO·
Redoxpotenzial +1000 mV, im Gleichgewicht mit Superoxid, Initiator der Lipidoxidation
Alkoxylradikal
Peroxylradikal
RO·
ROO·
Lipidperoxidation durch Radikaladdition oder H-Abstraktion (s. Text)
Nichtradikale
Wasserstoffperoxid
H2O2
Bildung durch Dismutation von ·O2, membrangängig, frei diffusibel
Halbwertszeit 10−3 s (konzentrationsabhängig)
Hydroperoxid
ROOH
Produkt der Radikalreaktion mit Lipiden und Nukleotidbasen
Ozon
O3
Bildung exogen oder durch oxidativen Burst, bildet freie Radikale
Reagiert mit Doppelbindungen und Steroiden
Singulettsauerstoff
1O2
Photochemische Bildung (Methylenblau, Porphyrine) und durch H2O2 + NaOCl (oxidativer Burst)
Oxidiert Lipide, Nachweis mit Laserspektroskopie
Halbwertszeit 10−6 s, Redoxpotenzial +2000 mV
Hypochloritanion
OCl
Oxidativer Burst mit Meloperoxidase und Laktoperoxidase
Redoxpotenzial +2000 mV
ROS haben bei oxidativem Stress (Stress, oxidativer) und zahlreichen Erkrankungen sowie im Alter und Tod wesentliche pathophysiologische Bedeutungen. Es bestehen wechselseitige Beziehungen mit reaktiven Stickstoffspezies (Reaktive Sauerstoffspecies), sodass oxidativer und nitrosativer Stress (Stress, nitrosativer) oft nicht zu unterscheiden sind. Weitere Interaktionen werden mit reaktiven Schwefelspezies gefunden.
Andererseits sind physiologische Konzentrationen von ROS als Messenger eingebunden in das sog. „redox signaling“ mit redoxsensitiven Proteinen, wie Phosphatasen, Mitogen-aktivierten Proteinkinasen und Transkriptionsfaktoren. So reguliert H2O2 die neuronale Dopaminsekretion durch ATP-sensitive Kaliumkanäle, Angiogenese, zerebralen Blutfluss, synaptische Plastizität und Gedächtnis oder induziert Metastasierung und chronische Entzündungen. ROS sind auch produktiv und regulativ beteiligt an posttranslationalen Proteinmodifizierungen (Modifikation, posttranslationale), besonders an Carbamylierungen („reactive carbonyl species“).
Beschreibung
Endogene reaktive Sauerstoffspecies werden intrazellulär an Zellmembranen, in Mitochondrien, Peroxisomen und im endoplasmatischen Retikulum (ER) vorwiegend durch NADPH-Oxidase-Komplexe (NOX1-4 und „dual oxidase 1“ und „2“) gebildet. Mutationen der NADPH-Oxidase-Gene verursachen mehrere chronische Granuloma-Krankheiten (CDG) und das neutrophile Immundefizienzsyndrom. In der Atemkette werden in den Komplexen I und III etwa 0,5–2,5 % des O2 nicht zu Wasser, sondern nur zum Superoxidradikal (·O2) reduziert, das bei physiologischem pH als Anion vorliegt. Die mitochondriale ROS-Emission ist vom Redoxstatus (NADH/NAD+ und GSH/GSSG) abhängig. Ein exzessiver Einfluss von mitochondrialem Glutathion und Thioredoxin-Reduktasen (s. Thioredoxin) oder Hypoxie mit erhöhtem NADH/NAD wird auch als reduktiver Stress bezeichnet. Bei maximalem Sauerstoffverbrauch und ATP-Synthese sinkt die ROS-Produktion auf ein Minimum, während gestresste Mitochondrien verstärkt ROS bilden (Cortassa et al. 2014). Entkopplungen der mitochondrialen Elektronentransportkette (Entkopplungsproteine) und der NO-Synthetase steigern die Produktion von ROS. Bei der oxidativen Proteinfaltung im ER durch die Proteindisulfid-Isomerase werden die entstandenen SH-Gruppen mittels des FAD-abhängigen Ero1p-Proteins reoxidiert und dabei ROS produziert (Endoplasmatischer Retikulumstress). An Mitochondrienmembranen wird durch Hyperglykämie der Elektronentransport verzögert und die Bildung von Superoxid begünstigt sowie die Expression von antioxidativen Enzymen reduziert. Xanthinoxidase (Xanthin) bildet neben den primären Oxidationsprodukten auch Superoxidanionen und Wasserstoffperoxid. Superoxidanionen und weitere ROS entstehen auch durch Autoxidation mithilfe von Chinonen, Flavinen und Übergangsmetallen (beispielsweise durch Cytochrom-P450-Reduktase) sowie durch Glykoxidation von Proteinen (Advanced glycation end products) und Lipiden (ALE). In Granulozyten wird mit einer membranständigen NADPH-Oxidase und Myeloperoxidase/Laktoperoxidase extrazelluläres bakterizides Superoxid, Hypochlorit und Peroxynitrit in einem oxidativen Burst (Oxidativer Burst) erzeugt. Die gebildeten ROS werden spontan oder enzymatisch ineinander umgewandelt oder abgebaut:
Superoxid-Dismutase katalysiert die Disproportionierung von ·O2 mit H2O in O2 und H2O2. In Peroxisomen zerlegt Katalase H2O2 in H2O und O2, wie es auch durch Peroxiredoxine in Mitochondrien und im Zellkern geschieht. H2O2 kann in Gegenwart von Fe2+ in ein Hydroxylanion (OH) und das aggressive Hydroxylradikal (·OH) gespalten werden (Fenton-Reaktion). Durch Reaktion des Superoxidanions mit Stickstoffmonoxid entsteht Peroxynitrit, ein Vertreter der reaktiven Stickstoffspezies (RNS), der weitere reaktive Sauerstoff-Stickstoff-Spezies (RONS) bilden kann. Auch reaktive Schwefelspecies (RSS, Thiylradikale, Sulfen- und Sulfinsäuren und Hypothiocyansäure aus Thiocyansäure und Laktoperoxidase) stehen in enger redoxaktiver Wechselwirkung mit den ROS.
Exogene reaktive Sauerstoffspecies entstehen durch Herbizide, Umweltgifte, Nitrate/Nitrite, Elektrosmog (?), Quarz, Asbest, Nanopartikel, Tabakrauch, Hyperoxie, Ozon und viele Medikamente. Durch ionisierende Strahlung werden im Wasser durch Entfernung von Elektronen (Radiolyse) neben Wasserstoffperoxid auch Hydroxylradikale und Superoxidanionen gebildet. Antioxidantien können unter bestimmten Bedingungen (Fenton-Reaktion) auch als Prooxidantien wirken, wie Harnsäure und Askorbinsäure.
Reaktive Sauerstoffspecies haben in normalen oder gering erhöhten Konzentrationen physiologische Funktionen als Signaltransmitter und Transkriptionsfaktoren. Höhere Konzentrationen schädigen Zellstrukturen und -funktionen:
  • Schädigung von DNA und RNA. Besonders das relativ stabile H2O2 hat ausreichend Zeit, in den Zellkern zu gelangen. Es kommt zu Strangbrüchen und Bildung von Thymindimeren, 5,6-Dihydroxy-5,6-dihydrothymin, 8-Oxo-7,8-dihydro-2′-desoxyguanosin und 8-Oxodihydroguanin. Sogar unter normalen Bedingungen sollen täglich ca. 20.000 Basen modifiziert werden.
  • Oxidation von (poly-)ungesättigten Fettsäuren, Steroiden und Phospholipiden. Aus Lipiden und ROS-Radikalen gebildete Lipidradikale (L·) reagieren mit Sauerstoff zu Lipidperoxyradikalen (LOO·), die ein Wasserstoffatom aus einem weiteren Fettsäuremolekül abstrahieren unter Bildung von Lipidhydroperoxiden (LOOH) und einem neuen Lipidradikal (L·) und damit eine Kettenreaktion auslösen. Die Lipidhydroperoxide zerfallen in Aldehyde (Malondialdehyd, 4-Hydroxynonenal), Kohlenwasserstoffe, Epoxide und Alkohole. Lipoxygenasen produzieren an verschiedenen Stellen (5, 12, 15) von polyungesättigten Fettsäuren, wie Arachidonsäure, über radikalische Intermediate wichtige Signalmoleküle, wie Leukotriene, Hepoxiline und 12- und 15-Hydroperoxyeikosatetraensäuren. Andererseits werden „specialized pro-resolving mediators“ (Resolvine, Protektine, Maresine) synthetisiert, die akute Entzündungsvorgänge unterbrechen und damit deren Chronifizierung verhindern (ein neues intensives Forschungsgebiet). Die spontane Reaktion von Lipidperoxid-abhängigen reaktiven Karbonylspezies (Malondialdehyd, Glyoxal, 4-Hydroxynonenal) mit Proteinen/Aminosäuren führt bei oxidativem Stress zu „advanced lipid oxidation endproducts“ (ALEs).
  • Oxidation von Aminosäuren und Proteinen (Enzymen und Kofaktoren). Betroffen sind besonders Methionin-,Tryptophan- und Histidinreste sowie die SH-Gruppen von Cystein und Glutathion. Es kommt zu Konformationsänderungen, Fragmentierungen oder „cross-linking“, zusammengefasst als „advanced oxidation protein products“ (AOPP). Außerdem sind verschiedene Carbonylproteine (reaktive Carbonylspecies) unter oxidativem Stress 2- bis 20-fach erhöht (Modifikation, posttranslationale).
Als unspezifische ROS-Indikatoren werden verschiedene Fluoreszeine, wie Dichlordihydrofluoreszeindiazetat, benutzt, die jedoch keine spezifische Aussage über einzelne ROS erlauben. Höhere Spezifität wird durch Kopplung der Fluorophore mit Redox-sensitiven Proteinen oder Transkriptionsfaktoren erreicht: HyPer oder roGFP als Varianten des grün fluoreszierenden Proteins für H2O2 oder „circular permutated yellow fluorescent protein“ (cpYFP) für Superoxidanionen. Arylboronate werden durch H2O2 in Phenole überführt und mit Fluoreszenz-, Biolumineszenz- oder MRT-Techniken detektiert. Quantitativ kann die Boronat-Modifizierung durch Massenspektroskopie analysiert werden. Elektronenspinresonanz ist für Radikale geeignet, wobei für Makromoleküle und besonders kurzlebige Radikale Spinmarker angeknüpft werden.
Die indirekte Messung von ROS ist wichtig für das Monitoring des oxidativen Stresses:
  • Für Proteine sind geeignet Proteincarbonyl-ELISA-Kits, -Immunoblots oder HPLC nach Bildung der 2,4-Dinitrophenylhydrazonderivate, AOPP-Assays für hydroxyliertes Valin und Leuzin sowie Methioninsulfoxidreste. 3-, 5- und 3,5-Chlortyrosine nach oxidativem Burst in Granulozyten und Makrophagen.
  • Oxidative Schädigungen der Lipide werden gemessen mit Malondialdehyd (HPLC/GC-MS), 8-Isoprostan (8-iso-PGF2α, auch für Antioxidantienstatus benutzt), 4-Hydroxynonenal (HPLC, GC-MS und oxidierte LDL (ELISA, auch für Autoantikörper gegen oxLDL).
  • Für DNA-Schädigungen haben sich 8-Oxo-7,8-dihydro-2′-desoxyguanosin und 8-Oxodihydroguanin mittels HPLC-MS/MS-Messungen bewährt. Relativ unspezifisch ist die Einzelzell-Gelelektrophorese („comet assay“) für Strangbrüche der DNA, die unter dem Fluoreszenzmikroskop als „Kometenschweif“ erkennbar sind.
Insgesamt bedürfen viele Methoden noch der Standardisierung und Validierung, derzeit weichen die Ergebnisse zwischen den Laboratorien erheblich voneinander ab.
Literatur
Brandt U (2014) Oxidoreduktasen und oxidativer Stress. In: Heinrich H, Müller M, Graeve L (Hrsg) Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, 9. Aufl. Springer Medizin, Berlin/Heidelberg, S 252–256CrossRef
Cortassa S, O´Rourke B, Aon MA (2014) Redox-optimized ROS balance and the relationship between mitochondrial respiration and ROS. Biochim Biophys Acta 1837:287–295CrossRefPubMed
Dalle-Donne I, Rossi R, Giustarini D, Milzani A, Colombo R (2003) Protein carbonyl groups as biomarkers of oxidative stress. Clin Chim Acta 329:23–38CrossRefPubMed
Dean P. Jones, Helmut Sies, (2015) The Redox Code. Antioxidants & Redox Signaling 23(9):734–746CrossRef
Dickinson BC, Chang CJ (2011) Chemistry and biology of reactive oxygen species in signaling or stress responses. Nat Chem Biol 7:504–511CrossRefPubMedPubMedCentral
Korge P, Calmettes G, Weiss JN (2015) Increased reactive oxygen species production during reductive stress: the roles of mitochondrial glutathione and thioredoxin reductases. Biochim Biophys Acta 1847:514–525CrossRefPubMedPubMedCentral
Maiereau S, Serban MC, Rizzo Met al (2017) The potential role of mitochondrial ATP synthase inhibitory factor 1 (IF1) in coronary heart disease: a literature review. Lipids Health Dis 16(1):35