Skip to main content

Säure-Basen-Modell nach Stewart

Verfasst von: O. Müller-Plathe
Säure-Basen-Modell nach Stewart
Synonym(e)
Stewart-Modell
Englischer Begriff
Stewart‘s acid base model; Stewart‘s approach
Definition
Alternatives Säure-Basen-Konzept, das neben Veränderungen des Kohlendioxidpartialdrucks bestimmte Konzentrationsverhältnisse im Plasmaionogramm zur Grundlage hat und nicht auf der Henderson-Hasselbalch-Gleichung beruht.
Beschreibung
Herkömmliches Konzept des Säure-Basen-Haushalts nach Siggaard-Andersen (Säure-Basen-Stoffwechsel).
Nach dem Konzept von Stewart (1983), weiterentwickelt von Figge und Fencl (1992), wird der Säure-Basen-Status beeinflusst durch drei voneinander unabhängige Größen:
2.
Differenz zwischen den Summen der starken Kationen und der starken Anionen, bezeichnet als SID („strong ion difference“) mit dem Suffix a für „apparent“:
SIDa (mmol/L) = Na+ + K+ + 2 × Ca2+ + 2 × Mg2+ – ClLaktat
Ca2+ und Mg2+, zusammen etwa 4 mEq/L, bleiben in der Praxis oft unberücksichtigt.
 
3.
Gesamtkonzentration der schwachen, d. h. nicht vollständig dissoziierten Säuren, bezeichnet als Atot (Atot = Alb + Pi)
 
Berechnung der negativen Ladungen:
  • Alb [mEq/L] = Albumin [g/L] × (0,123 pH – 0,631)
  • Pi [mEq/L] = Phosphat [mmol/L] × (0,309 pH – 0,469)
Von der apparenten SIDa wird die effektive SIDe unterschieden (s. Abbildung).
  • SIDe [mmol/L] = HCO3 + Alb + Pi
Die Differenz zwischen apparenter und effektiver SID, normalerweise etwa 8 mmol/L, wird als „strong ion gap“ (SIG) bezeichnet:
  • SIG [mmol/L] = SIDa – SIDe
Plasmaionogramm mit Rechengrößen des Stewart-Modells (SIDa und SIDe = apparente und effektive „strong ion difference“. SIG = SIDa – SIDe = „strong ion gap“; Atot = Summe der Ladungen von Albumin und Phosphat):
Die Höhe von SIG ist abhängig von der Menge ungemessener Anionen, z. B. Ketosäuren oder SO42−. SIG hat somit eine ähnliche Aussage wie die Anionenlücke (Anionenlücke im Plasma), jedoch ohne den Einfluss des Albumins, Phosphats und Laktats. Alle Parameter außer Albumin und Phosphat, die bei pH = 7,40 zusammen ca. 15 mEq/L Basenäquivalent ergeben, können mit modernen Blutgas-Elektrolyt-Automaten gemessen werden.
pH und Bikarbonat werden lediglich als abhängige Größen verstanden, deren Wert durch SID, Atot und pCO2 beeinflusst wird. Sie werden nicht wie im herkömmlichen System über die Henderson-Hasselbalch-Gleichung (Säure-Basen-Stoffwechsel) zur Klassifizierung von Acidosen und Alkalosen herangezogen.
Abweichungen des pH-Werts werden als Acidämie bzw. Alkalämie bezeichnet.
Nach dem Stewart-Modell ergeben sich Acidosen durch:
  • Zunahme von pCO2: respiratorische Acidose
  • Abnahme von SID: hyperchlorämische Acidose, Hyponatriämie (Verdünnungsacidose)
  • Zunahme von Atot: Hyperphosphatämie, besonders bei Nierenversagen
  • Zunahme von SIG: ungemessene Anionen, z. B. Ketoacidose, Vergiftungen, Urämie, Leberversagen
  • Zunahme von Laktat: Laktatacidose durch Hypoxie, Vergiftungen und Medikamente
Alkalosen ergeben sich durch:
  • Abnahme von pCO2: respiratorische Alkalose
  • Zunahme von SID: hypochlorämische Alkalose, z. B. durch Magensaftverlust, Diuretika, oder Kompensation einer chronischen Hyperkapnie(!), Hypernatriämie (Konzentrationsalkalose)
  • Abnahme von Atot: hypalbuminämische Alkalose
Im Stewart-Modell werden unter Acidose und Alkalose ausschließlich pathophysiologische Vorgänge mit acidifizierender bzw. alkalisierender Wirkung verstanden, nicht aber – wie im traditionellen System – gleichzeitig die entsprechenden klinisch-chemischen Zustände. Das ist ungewohnt, beispielsweise wenn die kompensierte chronische respiratorische Acidose in der Stewart-Systematik als gleichzeitiges Vorliegen einer respiratorischen Acidose und einer hypochlorämischen Alkalose beschrieben wird oder wenn bei der Konstellation Hyperchlorämie und Hypalbuminämie, die sich bis zur normalen Basenabweichung gegenseitig kompensieren können, im traditionellen System ein normaler Säure-Basen-Status festgestellt wird, während nach dem Stewart-Modell eine hyperchlorämische Acidose bei gleichzeitiger hypalbuminämischer Alkalose vorliegt.
Bei komplexen Säure-Basen-Störungen kann das Stewart-Konzept verdeckte Abweichungen erkennen, die mit dem traditionellen System nicht abgebildet werden.
Beispiel: Fortgeschrittenes Nierenversagen mit deutlicher Erhöhung der Retentionsparameter, aber im herkömmlichen System ohne Acidose (normale Basenabweichung). Die Stewart-Analyse ergibt eine Zunahme von SIG im Sinne einer renalen Acidose, aber zugleich Zunahme von SID durch hypochlorämische Alkalose und Abnahme von Atot durch hypalbuminämische Alkalose, woraus sich durchaus therapeutische Ansätze ergeben können. Das Zusammenwirken dieser Einflüsse kann sich natürlich auch durch traditionelle Säure-Basen-Analytik, verbunden mit Elektrolytstatus, Phosphat- und Albuminbestimmung und sorgsamer Interpretation erschließen, wird aber im Stewart-Konzept besonders verdeutlicht.
Die Anwendung des Stewart-Konzepts mag sich als vorteilhaft erweisen bei der Aufklärung von komplexen Säure-Basen-Störungen (zwei oder mehr Störungen gleichzeitig) und bei komplizierten Problemen der Infusions- und Nierenersatztherapie. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf Albumin und Phosphat, die in der traditionellen Säure-Basen-Diagnostik eine eher geringe Aufmerksamkeit erfahren.
Dem steht als Nachteil der für die Routinearbeit beträchtliche analytische Aufwand gegenüber. Um die vereinfachte SIDa (Na+ + K+ – Cl – Laktat) zu berechnen, braucht man bereits vier Messgrößen; die SIG-Berechnung erfordert gar 10 Parameter. Die Gefahr von Fehlberechnungen durch Addition analytischer oder präanalytischer Fehler liegt dabei auf der Hand. Hinzu kommt der hohe rechnerische Aufwand.
Obwohl inzwischen einige rechnerische Vereinfachungen publiziert worden sind (Funk 2007; Story et al. 2004) wird daher das Stewart-Modell unter Intensivmedizinern noch immer kontrovers diskutiert. Es stellt weniger eine Alternative zum traditionellen Siggaard-Andersen-Konzept als vielmehr eine ergänzende diagnostische Maßnahme dar.
Literatur
Figge J, Mydosh T, Fencl V (1992) Serum proteins and acid–base equilibria: a follow-up. J Lab Clin Med 120:713–719PubMed
Funk GC (2007) Das Säure-Basen-Modell nach Stewart. Wien Klin Wochenschr 119:390–403CrossRef
Stewart PA (1983) Modern quantitative acid–base chemistry. Can J Physiol Pharmacol 61:1444–1461CrossRef
Story DA, Morimatsu H, Bellomo R (2004) Strong ions, weak acids and base excess: a simplified Fencl-Stewart approach to clinical acid base disorders. Br J Anaesth 92:54–60CrossRef