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Lexikon der Medizinischen Laboratoriumsdiagnostik
Info
Verfasst von:
T. Arndt
Publiziert am: 23.09.2017

Tabak-Alkaloide

Tabak-Alkaloide
Synonym(e)
Nicotiana-Alkaloide
Englischer Begriff
tabacco alkaloids
Definition
Tabak-Alkaloide sind im weiteren Sinne Inhaltsstoffe von Pflanzen der Gattung Nicotiana L., im engeren Sinne der Art Nicotiana tabacum L., und sollen hier jene Alkaloide sein, die für die Labordiagnostik des Tabakrauchens von Bedeutung sind.
Struktur
Abb. 1.
Molmasse
Nicotin (C10H14N2) 162,23 g, Nornicotin (C9H12N2) 148,20 g, Anatabin (C10H12N2) 160,22 g, Anabasin (syn. Neonicotin; C10H14N2) 162,23 g; Nicotinmetabolite Cotinin (C10H12N2O) 176,22 g und 3-OH-Cotinin (C10H12N2O2) 192,21 g.
Synthese – Verteilung – Abbau – Elimination
Die aus Südamerika stammende Tabakpflanze (Nicotiana tabacum L.) ist ein Nachtschattengewächs, das heute vorrangig in den subtropischen bis gemäßigten Breiten in China, Nord-, Mittel- und Südamerika, daneben aber auch in Europa kultiviert wird.
Sie enthält bis zu 50 verschiedene Alkaloide, mit einem Gesamtgehalt von 0,5–9 %. Die quantitativ wichtigsten Alkaloide sind Nicotin (ca. 95 %), Norcotinin (ca. 3 %), Anatabin (ca. 2 %) und Anabasin (ca. 0,3 %), wobei sowohl Gesamtgehalt als auch relativer Anteil der einzelnen Alkaloide von der Art und geografischen Herkunft abhängen. So hat z. B. Nicotiana glauca Graham (Tabakbaum) einen etwa 1000-fach höheren Anabasingehalt als N. tabacum L.
Nicotin
Nicotin wird von der Tabakpflanze als Abwehrstoff in den Wurzeln erzeugt und in den Blättern angereichert. Seine Wirkungen haben dem Tabak als Genussmittel zu einer großen Verbreitung verholfen. Die Aufnahmeformen reichen vom konventionellen Rauchen bzw. Kauen der getrockneten Blätter bis hin zu transdermaler Zufuhr (Nicotinpflaster) und elektronischen Zigaretten (E-Zigaretten).
Nicotin wird über die Lunge und Schleimhäute schnell resorbiert, wobei der Nicotingehalt des Tabakrauches und damit die resorbierte Nicotinmenge von der Azidität des Tabaks abhängt. Rauch aus zuckerreichem, fermentiertem Tabak liefert sauren Rauch und entsprechend weniger Nicotin als zuckerarmer, unfermentierter Tabak. Die langsamere Resorption von Nicotin aus Kautabak führt man auf ähnliche pH-abhängige Mechanismen zurück (Speichel ist gewöhnlich leicht sauer).
Nicotin wird hauptsächlich in der Leber abgebaut. Der Metabolismus ist komplex mit Oxidation zu Nicotin-1′-N-Oxid und Cotinin, wobei letzteres zu Norcotinin desmethyliert und zu trans-3′-OH-Cotinin (syn. 3-OH-Cotinin) hydroxyliert wird. Dieses wiederum unterliegt in einer Folgereaktion einer Ringöffnung. Weitere Metabolite sind Nornicotin (selbst ein Alkaloid von N. tabacum L.), Cotinin-N-oxid und N- und O-Glukuronide von Nicotin und den hier genannten Metaboliten.
Nur etwa 5 % der ursprünglich resorbierten Nicotinmenge werden im 24-Stunden-Urin unverändert ausgeschieden (Eliminationshalbwertszeit t1/2 4,5 Stunden). Hauptmetabolite im Urin sind Cotinin (ca. 10 %, t1/2 19 Stunden), 3-OH-Cotinin (ca. 35 %, t1/2 22 Stunden) sowie Nicotin-1′-N-oxid (ca. 4 %). Die Ausscheidung von Nicotin ist im sauren Urin im Vergleich zu alkalischem Urin beschleunigt.
Anatabin und Anabasin
Für den menschlichen Organismus sind, abgesehen von Glukuroniden, bisher keine Anabasin- und Anatabinmetabolite beschrieben. Von einer 2 mg Anabasineinnahme wurden ca. 28 %, bei einem sauren Urin bis 70 % Wirkstoff im 24-Stunden-Urin gefunden.
Halbwertszeit
Nicotin 30 Minuten bis 2 Stunden im Blut (Plasma), Eliminationshalbwertszeiten s. oben.
Funktion – Pathophysiologie
Nicotin entfaltet seine Wirkungen über den sog. nicotinischen Acetylcholinrezeptor, d. h. in den Membranen des Nervensystems und Muskels liegende, durch Nicotin aktivierbare Ionenkanäle. Niedrig dosiert hat Nicotin einen stimulierenden Kurzzeiteffekt. Längere Einwirkung oder eine höhere Dosis führen nach anfänglicher Erregung zu einer anhaltenden Depolarisation der postsynaptischen Membran vegetativer Ganglien. Leichte Intoxikationen führen zu Übelkeit, Erregung und Schwindel, schwere zu Tachykardie, Hypotonie, Krämpfen, Koma bis zu Herz- und Atemstillstand. Eine chronische Nicotinexposition kann sich atherogen, mutagen, karzinogen, reproduktionstoxisch und sensibilisierend (Kontaktallergie, Asthma) auswirken. Wirkung und Toxikologie der Nebenalkaloide von N. tabacum sind noch nicht hinreichend bekannt.
Untersuchungsmaterial – Entnahmebedingungen
Spontanurin (normaler Postversand möglich).
Probenstabilität
Nicotin, Cotinin, 3-OH-Cotinin, Anabasin: Raumtemperatur 48 Stunden, Kühlschrank 14 Tage, −20 °C 6 Monate; 3 Auftau-/Einfrierzyklen (noch unpublizierte Daten).
Präanalytik
Keine Patientenvorbereitung.
Untersuchungsmaterial
Urin (längeres Nachweiszeitfenster als in Blut).
Analytik
Immunoassay (Cotinin); HPLC, GC; LC-MS/MS mit chromatografischer Trennung der Konstitutionsisomeren bzw. Isobaren (Isobare) Nicotin und Anabasin.
Konventionelle Einheit
μg/L.
Internationale Einheit
nmol/L.
Umrechnungsfaktor zw. konv. u. int. Einheit
μg×Faktor=nmol: Nicotin und Anabasin 6,164; Nornicotin 6,747; Anatabin 6,241; Cotinin 5,674; 3-OH-Cotinin 5,202.
Referenzbereich – Entscheidungsgrenzen
Nicotin im Plasma (Schulz et al. 2012): therapeutisch 50–300 μg/L (Nicotinpflaster), toxisch ab 400 μg/L, komatös-letal ab 5000 μg/L.
Vorläufige Entscheidungsgrenzen für Differenzierung Nichtraucher vs. Raucher vs. Passivraucher (aus: Moyer et al. 2002; von Weymarn et al. 2016*):
 
Nichtraucher
(μg/L)
Raucher
(μg/L)
Passivraucher
(μg/L)
Serum
Nicotin
<2
30–50
<2
Cotinin
<2
200–800
<8
3-OH-Cotinin
<2
100–500
<2
Anabasin
k.A.
k.A.
k.A.
Anatabin
k.A.
k.A.
k.A.
Urin
Nicotin
<2
1000–5000
<20
Cotinin
<5
1000–8000
<20
3-OH-Cotinin
<50
3000–25000
<50
Norcotinin
<2
30–900
<2
Anabasin
<2
10–500
<2
Anatabin
<2*
n.n.–58*
k.A.*
Indikation
  • Erfassung Raucher-/Nichtraucherstatus (z. B. Versicherungsmedizin)
  • Einschätzung der Belastung durch Passivrauchen (z. B. Arbeitsmedizin)
  • Monitoring bei Nicotinsubstitutionstherapie (z. B. Suchtmedizin, Nicotinpflaster)
  • Verdacht auf Intoxikation mit Tabak-Alkaloiden (Landwirtschaft: Tabaklauge gegen Ektoparasiten, Nicotin zur Schädlingsbekämpfung; Tabakindustrie: inhalativ, transdermal z. B. beim Zigarrenrollen (erhöhtes Abortrisiko bei Schwangeren und Schädigungen der Säuglinge von stillenden Müttern)
Interpretation
Die Detektion von Nicotin(metaboliten) und zunehmend auch Tabak-Nebenalkaloiden in Urin (Serum oder Haaren) gilt als Nachweis einer Nicotinaufnahme.
Die Angaben zu den Eliminationshalbwertszeiten von Nicotin und Cotinin und damit von deren Nachweisbarkeitsdauer im Urin schwanken u. a. in Abhängigkeit vom Alter und dem Raucherstatus (Nicotin 30–60 Minuten Raucher, bis 120 Minuten Nichtraucher; Cotinin 16 Stunden).
Da Anatabin und Anabasin kaum in Nicotinpflastern, wohl aber in der Tabakpflanze vorliegen, könnte deren Nachweis im Urin eine Therapiekontrolle, z. B. unter Raucherentwöhnungstherapie, möglich machen.
Allgemein akzeptierte Entscheidungsgrenzen zur Differenzierung zwischen Nichtrauchern, Rauchern und Passivrauchern basierend auf valide erhobenen Referenzintervallen fehlen noch, insbesondere für die Nebenalkaloide Norcotinin, Anatabin und Anabasin.
Die Bedeutung von Spuren von Begleitalkaloiden in Nicotinpräparaten wie Nicotinpflastern, Nicotinkaugummi und E-Zigaretten auf der Basis eines aus Tabakmaische gewonnenen Nicotindestillats für die Interpretation von Tabak-Alkaloidkonzentrationen im Urin ist noch unklar.
Unzureichend untersucht sind die quantitativen Zusammenhänge zwischen Nicotingehalt des Tabaks, Rauchverhalten (Quantität, Intensität) und der Ausscheidung von Nicotin und seinen Metaboliten sowie von Nicotiana-Nebenalkaloiden im Urin.
Diagnostische Wertigkeit
Es handelt sich um einen Parameter mit derzeit noch nicht vollständig erfasstem diagnostischen Potenzial im Übergang aus dem experimentellen Stadium in die klinische Anwendung. Dies betriff insbesondere die Differenzierung und Quantifizierung von Nicotin(metaboliten) und Tabak-Nebenalkaloiden wie Anatabin und Anabasin mit LC-MS/MS.
Literatur
Baselt RC (2014). Disposition of toxic drugs and chemicals in man, 10. Aufl. Biomedical Publications, Seal Beach, S 133–134 und 1452–1456
Blaschek W, Ebel S, Hackenthal E, Holzgrabe U, Keller K, Reichling J, Schulz V (Hrsg) (2007) Hagers Enzyklopädie der Arzneistoffe und Drogen, Bd 11, 6. Aufl. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft – Springer, Stuttgart/Heidelberg, S 431–444
Moyer TP, Charlson JR, Enger RJ, Dale LC, Ebbert JO, Schroeder DR, Hurt RD (2002) Simultaneous analysis of nicotine, nicotine metabolites, and tobacco alkaloids in serum or urine by tandem mass spectrometry, with clinically relevant metabolic profiles. Clin Chem 48:1460–1471PubMed
Schulz M, Iwersen-Bergmann S, Andresen H, Schmoldt A (2012) Therapeutic and toxic blood concentrations of nearly 1000 drugs and other xenobiotics. Crit Care 16:R136CrossRefPubMedPubMedCentral
von Weymarn LB, Thomson NM, Donny EC, Hatsukami DK, Murphy SE (2016) Quantification of the minor tobacco alkaloids nornicotine, anatabine, and anabasine in smokers’ urine by high throughput liquid chromatography-mass spectrometry. Chem Res Toxicol 29:390–397CrossRef