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Orthopädie und Unfallchirurgie
Info
Publiziert am: 13.11.2019

Funktionelle Anatomie und Biomechanik des Hüftgelenks

Verfasst von: Bernhard Heimkes
Das Hüftgelenk – mehr als eine Waage. Befasst man sich als Orthopäde oder Unfallchirurg mit der Funktion der Hüfte, wird man zuerst auf das bereits 1935 beschriebene, zeitlos gültige Urmodell von Pauwels stoßen, das weiterhin in neueren Lehrbüchern vertreten ist und vielfach auch in aktuellen Originalarbeiten zitiert wird. So nützlich dieses als Waage gedachte Rechenmodell auch ist, um das Grundprinzip der Hüftbelastung zu verstehen, so notwendig war es auch, dieses Modell zu ergänzen. Entscheidend hierzu haben dreidimensional fortlaufende Messungen an telemetrierten Endoprothesen beigetragen, deren Werte gut mit ebenfalls dreidimensionalen hochkomplexen Rechenmodellen übereinstimmen. Neu hinzugekommen ist, die sagittale Balance des Beckens in die Funktion der Hüfte mit einzubeziehen. Es klären sich hierdurch viele pathologische Befunde, die bisher unverstanden waren. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass die Beanspruchung des Schenkelhalses neu gedeutet werden muss, wenn man die Belastung des Trochanter major anatomisch richtig bestimmt. Dementsprechende Berechnungen weisen darauf hin, dass es am koxalen Femurende weder eine Zugbeanspruchung noch spongiöse Zugbündel gibt.

Historie

Als Pioniere, die sich als erste intensiv mit der funktionellen Anatomie und Biomechanik der Hüfte beschäftigten, können Friedrich Pauwels aus Aachen und Verne T. Inman aus San Francisco gelten, die unabhängig voneinander die Belastung und Beanspruchung des Hüftgelenks berechneten (Pauwels 1935; Inman 1947). Sie nutzten hierzu als Modellvorstellung den Einbeinstand in der Frontalebene, wobei sie mit den Ergebnissen zur Annahme kamen, dass das Hüftgelenk mit einer Hüftgelenksresultierenden belastet ist, die sich mehrheitlich aus der Kraft der Hüftabduktoren und dem Gewicht speist, das auf der Hüfte lastet. Mehrere Jahrzehnte lang wurden diese beiden Rechenmodelle als Endentwicklung angesehen, die allenfalls gering zu verfeinern wären. Ende des letzten Jahrhunderts konnte man jedoch innovative Untersuchungsmethoden entwickeln, mit denen die Funktion der Hüfte sehr viel genauer zu beschreiben war. Zum einen gelang es, die Hüftbelastung mittels muskelmechanischer Bestimmungsmethoden dreidimensional fortlaufend zu errechnen (Crowninshield et al. 1978). Zum anderen wurden telemetrierbare Hüftendoprothesen entwickelt (Bergmann et al. 1989), mit denen man die Hüftbelastung in vivo messen konnte. Beide Methoden führen zu ähnlichen Ergebnissen, sodass nicht klar ist, welche Methode am ehesten als „Goldstandard“ anzusehen ist (Stansfield et al. 2003).
Bisher wenig beachtet ist, inwieweit die Beckenform und Beckenkippung sowie die Lage des Azetabulums innerhalb des Beckens die Biomechanik der Hüfte in der Sagittalebene beeinflussen. Auch sollte die Belastung des Trochanter major vermehrt berücksichtigt werden, da sich dadurch die Sicht auf die Beanspruchung des koxalen Femurendes und des Femurschafts entscheidend ändert (Fetto et al. 2002).

Sagittale Balance

Globale sagittale Balance

Will man die Biomechanik des Hüftgelenks in der Sagittalebene verstehen, muss man auf grundlegende Arbeiten französischer Vertebrologen und Anthropologen zurückgreifen (Duval-Beaupere et al.1992; Legaye et al.1998). Wenig später gelang es erstmals, mithilfe der EOS-Methode das Skelett aufrecht stehender Probanden von Kopf bis Fuß darzustellen, und zusätzlich über gleichzeitig abgegriffene Fußdruckmessplatten die zugehörige Schwerkraftlinie („gravity line“) der Probanden zu bestimmen. Diese in Abb. 1 dargestellte, vom Kopf bis zur Fußsohle ziehende Vertikale beschreibt erst einmal, in welche Richtung der – in Höhe des fünften Lumbalwirbels befindliche – Körperschwerpunkt („center of gravity“) wirkt. Zusätzlich kann man näherungsweise annehmen, dass sich auf dieser Linie auch alle Teilschwerpunkte der verschiedenen Körperteilgewichte befinden. Für die Hüften im aufrechten beidbeinigen Stand gilt hierbei, dass diese nur vom Kopf, den Armen und dem Rumpf belastet werden, sodass ihr zugehöriger Teilschwerpunkt auf der Schwerkraftlinie nach kranial wandert und in Höhe des neunten Brustwirbelkörpers zu liegen kommt.
Leider hat sich herausgestellt, dass sich für diese Schwerkraftlinie keine eindeutig bestimmbaren Messpunkte am Skelett finden lassen, sodass man für praktische Zwecke einen Surrogatparameter verwendet: Man mittelt hierzu die Achse zwischen beiden Meati acustici (CAM = „center of acoustic meati“) und die Achse zwischen beiden Hüftkopfmittelpunkten (HA = „hip axis“) und verbindet beide Mittelpunkte zur sogenannten CAM-HA-Linie (Steffen et al. 2010). Diese Linie entspricht beim gesunden, aufrecht stehenden Menschen am ehesten seiner Schwerkraftlinie, obwohl sie leicht ventral dieser verläuft und auch diskret von der Vertikalen abweichen kann (Gangnet et al. 2003).
Die eben beschriebene Schwerkraftlinie ist die Regelgröße, die dem Gesunden einen aufrechten Stand zu minimalen Energiekosten garantiert (Dubousset 1994). Ihre Lage wird über afferente und efferente Leitungsbahnen leicht schwankend eingehalten (Kato et al. 2018) und vom muskuloskelettal oder neurologisch Erkrankten über Kompensationsmechanismen angestrebt (Le Huec et al. 2011).

Spinopelvine Balance

Betrachtet man nun die Stellung der Hüfte in der globalen sagittalen Körperbalance, fällt auf, dass die Schwerkraftlinie diskret dorsal des Hüftgelenksdrehpunkts verläuft (Roussouly et al. 2006) Das Hüftgelenk weist also im Stand einen sehr kurzen Lastarm nach dorsal auf, sodass es mit minimaler Kraftanstrengung von ventralen Muskelgruppen in der Waage gehalten werden kann. Nur so ist zu verstehen, warum der M. glutaeus maximus und die ischiokrurale Muskulatur im aufrechten Stand nicht oder nur gering aktiv sind.
Des Weiteren ist zu beachten, dass sowohl verschiedene anatomische Formen sowie verschiedene Kippstellungen des Beckens die Lage der Schwerkraftlinie beeinflussen oder konkreter, dass verschiedene Kombinationen von Beckenformen und Beckenkippungen zu ähnlichen Verläufen der Schwerkraftlinie führen können. Hierzu haben Duval-Beaupere et al. 1992 und Legaye et al. 1998 eine Systematik der spinopelvinen Balance entwickelt, die entsprechend der Abb. 2 mit 3 Messwerten, der „pelvic incidence“ (PI), dem „pelvic tilt“ (PT) und dem „sacral slope“ (SS) auskommt.
Der interessanteste Wert ist hierbei die „pelvic incidence“. Diese ist eine unveränderliche, jedem Individuum eigene Größe, die beschreibt, wie stark das Becken, von der Sakralbasis aus gesehen, nach ventral und dorsal aufgespreizt ist. Der „sacral slope“ beschreibt die jederzeit veränderbare Kippung der Sakrumbasis gegenüber der Horizontalen, der „pelvic tilt“ die veränderbare Kippung des Beckens nach ventral oder dorsal. Beide Messwerte korrelieren im genormten Stand mit dem Wert der „pelvic incidence“ (Boulay et al. 2006; Mac-Thiong et al. 2007), und zwar so, dass bei einer niedrigen „pelvic incidence“ auch der „sacral slope“ und der „pelvic tilt“ erniedrigt sind und eine hohe „pelvic incidence“ mit einem hohen Wert des „sacral slope“ und „pelvic tilt“ einhergeht. Sowohl für die „pelvic incidence“ als auch für den „sacral slope“ und „pelvic tilt“ sind Normwerte beschrieben, die sich nach Geschlecht und Alter nur minimal (Boulay et al. 2006; Mac-Thiong et al. 2007) und nach Ethnie etwas stärker unterscheiden (Riviere et al. 2017).
Die überragende Bedeutung der „pelvic incidence“ besteht darin, dass sie, wie an den klinischen Beispielen in der Abb. 3 gezeigt, im Wachstum formativ prägend die Wirbelsäulenkrümmungen beeinflusst und zwar so, dass eine niedrige „pelvic incidence“ zu einer abgeflachten lumbalen Lordose und eine hohe „pelvic incidence“ zu einer vermehrten lumbalen Lordose (Boulay et al. 2006) führen.
Des Weiteren stellt sie einen von mehreren wichtigen Parametern dar, mit denen man verschiedene Variablen der Beckenversion und Beckenkippung beschreiben kann.

Pelvinoazetabuläre Balance

Die Kinematik des Hüftgelenks in der Sagittalebene hängt sowohl von der Form und Kippung des Beckens als auch von der Lage des Azetabulums innerhalb des Beckens ab (Bonneau et al. 2014). In der Sagittalen können 5 Normvariablen (Abb. 4) vorliegen (Heimkes et al. 2018), von denen 4 bei stärkerer Ausprägung klinischen Krankheitsbildern entsprechen:
Der am häufigsten vorliegende Typ a weist eine normale spinopelvine Balance mit normwertiger „pelvic incidence“, „pelvic tilt“ und „sacral slope“ auf, das Azetabulum öffnet sich mit Normwerten nach ventrokaudal.
Beim Typ b (azetabuläre Anteversion) besteht ebenfalls eine normale spinopelvine Balance, das Azetabulum öffnet sich jedoch stärker nach ventral. Dieser Typus ist beim Krankheitsbild der kongenitalen Hüftdysplasie zu beobachten.
Beim Typ c (azetabuläre Retroversion) besteht eine normale spinopelvine Balance, das Azetabulum ist jedoch retrovertiert. Dies kann zum Symptom des femoroazetabulären Impingements führen.
Beim Typ d (pelvine Retroversion) ist das Becken in sich nach dorsal geknickt und weist somit eine niedrige „pelvic incidence“ mit sekundär erniedrigtem „sacral slope“ und „pelvic tilt“ auf. Das Azetabulum wird hierbei nach dorsokaudal mitgenommen und steht wie beim Typ c. Auch bei diesem Typ tritt gehäuft ein femoroazetabuläres Impingement auf (Riviere et al. 2017).
Beim Typ e (pelvine Vorkippung) ist das gesamte Becken mit Drehpunkt im Hüftgelenk nach ventral verkippt, wobei dies mit allen anderen Formen der azetabulären und pelvinen Version vergesellschaftet sein kann. Die „pelvic incidence“ ist zumeist normal, der „sacral slope“ nimmt zu, der „pelvic tilt“ verkleinert sich bis hin zu negativen Werten. Dieser Typus ist zu beobachten, wenn eine schwache Glutäalmuskulatur oder eine verkürzte Hüftbeugemuskulatur verhindern, dass das Becken aufgerichtet werden kann.
Nicht vergessen werden darf, dass das Szenario des schwankungsfreien aufrechten Standes im Alltagsleben kaum je zur Geltung kommt (Kato et al. 2018). Einzig stabiler Parameter, der unabhängig vom Stehen, Sitzen, Gehen oder Liegen bestehen bleibt, ist die „pelvic incidence“. Schon beim normalen Gehen verlagert sich die Schwerkraftlinie zu Beginn der Standbeinphase vor den Hüftdrehpunkt. Das an der Hüfte entstehende beugende Drehmoment wird in der „loading response“ der Standbeinphase mit einer hohen Aktivität des M. glutaeus maximus aufgefangen (Arnold et al. 2005). So ist es gut verständlich, warum sich dieser Muskel in der Entwicklungsgeschichte relativ spät ausbildete und als Schlüsselmuskel des aufrechten Ganges angesehen wird (Le Huec et al. 2011). Altersbedingte Veränderungen der Wirbelsäule gehen mit einem Verlust der Lendenlordose einher. Die Patienten stellen ihre Schwerkraftlinie wieder her, indem sie das Becken zurückkippen und die Hüfte nach ventral rotieren. Messtechnisch ist dieser Kompensationsmechanismus an einem erhöhten „pelvic tilt“ zu erkennen (Lafage et al. 2009).

Frontale Balance

Frontale Balance im zweibeinigen Stand

Wie bereits im vorherigen Abschnitt beschrieben, werden die Hüften im zweibeinigen Stand nur vom Kopf, den Armen und dem Rumpf belastet. Da das Gewicht beider Beine etwa 33 % des gesamten Körpergewichts beträgt, lasten also im Zweibeinstand auf beiden Hüften etwa 67 % des Körpergewichts und auf einem Hüftgelenk wiederum ca. 33 % des Körpergewichts. An telemetrierten Endoprothesen wurde allerdings ein doppelt so hoher Wert gemessen (Bergmann et al. 1989). Dies ist gut verständlich, wenn man bedenkt, dass auch im ruhigen Stand antagonistisch wirkende Kräfte (Kato et al. 2018) notwendig sind, um die Hüfte im Gleichgewicht zu halten.

Frontale Balance im Einbeinstand und beim Gehen

Hüftgelenksbelastung

Wechselt eine Person vom Zweibeinstand zum Einbeinstand, ändert sich die globale Balance und die Balance der belasteten Hüfte dramatisch. Die Schwerkraftlinie der gesamten Körpermasse verlagert sich aus dem Bereich zwischen den Füßen nach außen zur Mitte des Standfußes hin (Saunders et al. 1953). An der Hüfte selbst treten ab diesem Zeitpunkt in der Frontalebene Kräfte auf, die diejenigen der Sagittalebene und der Transversalebene um ein Vielfaches übersteigen. So kann man davon ausgehen, dass die Belastung des Hüftgelenks in dieser Ebene entscheidet, wie stark letztendlich die Hüfte beansprucht wird.
Als erstes erhöht sich das Gewicht, das auf die standbeinseitige Hüfte auftrifft, erheblich. Es besteht, da das Standbein selbst die Hüfte nicht belasten kann, aus dem Gewicht des Kopfes, der Arme, des Rumpfes und des gegenseitigen Spielbeins. Des Weiteren muss beachtet werden, dass die Schwerkraftlinie dieses asymmetrisch ausgebildeten Körperteilgewichtes – das in der Literatur mit ca. 83 % des gesamten Körpergewichtes angegeben wird (Pauwels 1935) – nicht mehr mittig durch die Symphyse, sondern etwas zur Spielbeinseite hin verlagert ist. Es ergibt sich hiermit für das Hüftgelenk ein Lastarm, der sich auf einer Horizontalen zwischen Hüftkopfmittelpunkt und einer Vertikalen aufspannt, die spielbeinseitig knapp neben der Symphyse verläuft. Dieses, das Becken absenkende Drehmoment aus hüftbelastendem Körperteilgewicht und zugehörigem Lastarm wird jenseits des Hüftgelenksdrehpunkts durch ein gegenhaltendes Drehmoment neutralisiert, das überwiegend von den kleinen Glutäen und dem Glutaeus maximus und deren zugehörigen Kraftarmen aufgebracht wird. Im Pauwels-Urmodell (Pauwels 1935) wurde ein Längenverhältnis von Lastarm zu Kraftarm von 3:1 angenommen, sodass sich die Hüfte im drehmomentfreien Gleichgewicht befindet, wenn die Glutäen dreifach so viel Kraft aufbringen wie das gegenziehende, der Hüfte zugeordnete Körperteilgewicht. In einem letzten Schritt kann man aus den beschriebenen Drehmomenten auf vektoriellem Wege die Hüftlast errechnen, die entsprechend der Abb. 5 leicht schräg auf die Hüfte trifft und etwas weniger als das Vierfache des der Hüfte zugeordneten Körperteilgewichtes beträgt. Interessanterweise haben sich die Werte des für das Verständnis der Hüfte so wichtigen Pauwels-Rechenmodells in der In-vivo-Messung an telemetrierten Endoprothesen bestätigt (Bergmann et al. 1993).
Zur dreidimensional-fortlaufenden Berechnung des Betrags und der Richtung der Hüftresultierenden existieren inzwischen mehrere hochkomplexe Rechenmodelle, die mithilfe kinematischer Werte aus der Ganganalyse, muskelmechanischen Bestimmungen, EMG-Aktivitäten und kinetischen Messungen ähnliche Ergebnisse ergeben, wie die In-vivo-Messung der Hüftresultierenden. Sie zeigen übereinstimmend, dass die Hüfte – der Abb. 6 zu entnehmen – am Anfang und gegen Ende der Standbeinphase ein doppelgipfliges Belastungsmaximum aufweist (Pedersen et al.1997; Heller et al. 2001; Stansfield et al. 2003; Correa et al. 2010).
Ersichtlich war hierbei, dass für eine möglichst exakte Berechnung der Hüftlast zusätzlich zur Glutäalmuskulatur auch der M. iliopsoas und die ischiocrurale Muskulatur sowie weitere hüftferne Muskelgruppen berücksichtigt werden müssen (Correa et al. 2010).
Für klinische Fragestellungen behält die Bestimmung der Hüftresultierenden im Einbeinstand in der Frontalebene weiterhin ihre Bedeutung. Es gelingt hier, die Hüftbelastung einer Person näherungsweise zu berechnen (Debrunner 1975; Heimkes et al. 1993, 1997; Anderson und Pandy 2001; Genda et al. 2001; Iglič et al. 2002; Eschweiler et al. 2014).

Trochanterbelastung in der Frontalebene

Wachstumsanalysen an kindlichen und juvenilen Hüften zeigen, dass die Form des koxalen Femurendes im Wesentlichen von 2 Wachstumszentren bestimmt wird, die sich arbeitsteilig verhalten. Die Hüftkopfepiphysenfuge entscheidet hierbei über die Länge des Schenkelhalses, die Knorpelfuge des Trochanter major gibt vor, wie stark sich der Schenkelhals neigt (Heimkes 2016). Die vom Trochanter major aufgenommenen Kräfte können nicht gemessen, jedoch mittels biomechanischer Modellrechnung berechnet werden (Heimkes et al. 1993, 1997). Eine muskelmechanische Analyse hat ergeben, dass der Trochanter major durch ein übereinander liegendes zweifaches Zuggurtungssystem belastet ist. Zum einen bilden die kleinen Glutäen zusammen mit Anteilen der Kniestreckmuskulatur – insbesondere mit dem M. vastus lateralis – eine innere Muskelschlinge. Zum anderen muss man den Tractus iliotibialis mit einbeziehen, der vom M. glutaeus maximus und M. tensor fasciae latae aktiv gezügelt wird. Die Berechnung beider Systeme führt entsprechend der Abb. 7 zu einer Kraftresultierenden Rt, die den Trochanter major mit einem Einfallswinkel von 50–52° zur Vertikalen von kraniolateral nach kaudal-medial beansprucht und immerhin 55–60 % der Kraft der Hüftresultierenden aufbringt.

Belastung des koxalen Femurendes

Betrachtet man das koxale Femurende in Zusammenschau, wird dieses entsprechend der Abb. 8b über 2 funktionelle Achsen belastet. Die erste entspricht der Wirklinie der Hüftresultierenden, die nach ihrem Durchtritt durch die Hüftkopfmitte exzentrisch auf den Schenkelhals trifft und damit stark divergierend zur anatomischen Achse des Schenkelhalses verläuft. Die zweite funktionelle Achse entspricht der Wirklinie der Trochanterresultierenden, sie trifft noch innerhalb des Schenkelhalses auf die Wirklinie der Hüftresultierenden. Die Bestimmung beider Resultierenden (Heimkes et al. 1993, 1997), wie im konkreten Beispiel der Abb. 9, ergibt sinnvolle Werte („loading and boundary conditions“) zum Aufbau experimenteller Prüfstände (Kraenzlein et al. 2009) und zur weiteren Verwendung in Finite-Elemente-Berechnungen (Jansson et al. 1993; Hölzer et al. 2013).

Beanspruchung des koxalen Femurendes und Femurschafts

Es interessiert nun, inwieweit sich die beschriebenen Kräfte auf die Form und Struktur des koxalen Femurendes auswirken.
In der klassischen Biomechanik ging man – da die Druckbelastung des Trochanter vernachlässigt wurde – davon aus, dass die exzentrisch auf den Schenkelhals auftreffende Hüftresultierende diesen überwiegend im Varussinne auf Biegung beansprucht (Pauwels 1954; Kummer 1993). Dementsprechend würden sich in der Spongiosaarchitektur des koxalen Femurendes neben Drucktrajektorien auch Trajektorien finden, die man als Zugtrajektorien deutete (von Meyer 1867). Auch am Femurschaft nahm man an, dass dieser im Stand und beim Gehen einer Biegung ausgesetzt ist, sodass die mediale Kompakta überwiegend druck- und die laterale Kompakta überwiegend zugbeansprucht wird. Nun mehrten sich in den letzten Jahren Arbeiten, die bezweifeln, dass sich kortikaler Knochen ausbilden und erhalten kann, wenn er überwiegend zugbeansprucht wird (Hěrt 1994; Taylor et al.1996; Fetto et al. 2002; Rudman et al. 2006). Es gilt also, sowohl die Form des koxalen Femurendes als auch dessen spongiöse Architektur sowie kortikale Dicke und Dichte unter funktionellen Aspekten neu zu deuten.
Zur Formentstehung: In deskriptiven Arbeiten ist beschrieben, dass das koxale Femurende einer Chondroepiphyse entstammt (Siffert 1981). Mit zunehmender Beanspruchung bilden sich 2 Wachstumskerne (Abb. 10) aus, deren basisgebende Knorpelfugen genau im rechten Winkel jeweils der Hüft- und Trochanterresultierenden entgegenwachsen. Im Bereich, in dem sich die Wirkung beider Resultierenden nur mehr wenig überlappt, senkt sich, kausal gut deutbar, ein weniger stark wachsender Schenkelhalsisthmus ein.
Zur Spongiosaarchitektur: Die klassische Trajektorientheorie geht davon aus, dass im koxalen Femurende ein trajektorielles Fachwerk vorliegt, das aus 3 Bündeln besteht. Zwei davon orientieren sich parallel zur Hüft- und Trochanterresultierenden sowie genau im rechten Winkel zur epiphysären und apophysären Knorpelfuge, sodass angenommen werden kann, dass sie Drucktrajektorien entsprechen. Das mittlere, als bogenförmig beschriebene Bündel gab Rätsel auf, wurde letztendlich jedoch als Zugbündel angesehen (Pauwels 1954; Kummer 1993). Eine neuere, an der Funktion orientierte Trajektorienanalyse zeigte jedoch, dass sich dieses Bündel nicht bogenförmig verhält (Skuban et al. 2009). Seine Form ähnelt – wie in der Abb. 11 zu ersehen – einem Bumerang, dessen 2 Schenkel sich jeweils im rechten Winkel zur Hüft- und Trochanterresultierenden ausrichten und dessen Umknickpunkt dazwischen in Höhe des Schenkelhalsisthmus liegt. Es ähnelt also dem Verlauf der epiphysären und apophysären Knorpelfugen und kann somit als Ausdruck einer von 2 Seiten wirksamen Druckbeanspruchung angesehen werden.
Zur kortikalen Dicke und Dichte: Messungen zur kortikalen Dicke und Dichte zeigen übereinstimmend, dass in dem Bereich, in dem sich die Wirkung der Hüft- und Trochanterresultierenden nur mehr wenig überlappen, ein Dichte- und Dickenminimum zu beobachten ist. So kann der Schenkelhalsisthmus und das darunterliegende Ward-Dreieck („upper femoral neck region“) als funktionell erklärbare morphologische Kerbe zwischen Trochantermassiv und Hüftkopf samt Adam-Bogen angesehen werden.
Binärbilder von DXA-Scans entsprechend der Abb. 12, die die Knochendichte und Knochendicke scherenschnittartig erscheinen lassen (Böhm et al. 2007), zeigen, dass sich eine Kluft zwischen den medialen Anteilen des koxalen Femurendes und dem Trochantermassiv auftut. Der Hüftkopf und der Adam-Bogen lassen sich zu einer Pilzform reduzieren, wobei dann eine Schenkelhalsfraktur unabhängig von seiner Klassifikation einem Abbrechen des alleine nicht mehr tragfähigen Pilzstengels entspräche.
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