Orthopädie und Unfallchirurgie
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Verfasst von:
Elmar Ludolph
Publiziert am: 22.09.2020

Orthopädie und Unfallchirurgie: Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung

Die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) ist einer der Träger zur Erbringung von Sozialleistungen. Sie ist im Sozialgesetzbuch (SGB) VI zusammengefasst und wird, was Leistungen zur Teilhabe betrifft (§ 9 bis § 32 SGB VI), ergänzt durch das SGB IX („Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“, geändert durch das „Bundesteilhabegesetz“ [BTHG] vom 23.12.2016).

Einleitung: Aufgaben der Gesetzlichen Rentenversicherung

Die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) ist einer der Träger zur Erbringung von Sozialleistungen. Sie ist im Sozialgesetzbuch (SGB) VI zusammengefasst und wird, was Leistungen zur Teilhabe betrifft (§ 9 bis § 32 SGB VI), ergänzt durch das SGB IX („Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“, geändert durch das Bundesteilhabegesetz [BTHG] vom 23.12.2016).
Die GRV deckt für die Versicherten und für die von ihnen abhängigen Angehörigen 3 fundamentale Risiken ab:
  • das Risiko des Lebensunterhalts im Alter (§ 33 (2) SGB VI),
  • das Risiko des Lebensunterhalts bei Erwerbsminderung vor Erreichen der festgelegten Altersgrenze durch Krankheit oder Behinderung (§ 33 (3) SGB VI) und
  • das Risiko des Lebensunterhalts von Hinterbliebenen (§ 33 (4) SGB VI).
Die ärztliche Begutachtung für die GRV hat, auch wenn der Ausdruck „Erwerbsminderung“ das Gegenteil signalisieren mag, die Beurteilung der Leistungsfähigkeit, nicht die Beurteilung von deren Minderung zum Ziel. Erfragt wird also, was der Versicherte leisten kann, nicht was er nicht leisten kann. Erfragt werden nicht die Funktionsdefizite (Funktionsbeeinträchtigungen), auch wenn sie die Kehrseite der Leistungsfähigkeit sind. Dem entspricht es, dass eine weitere wesentliche Aufgabe der GRV ist,
  • Leistungen zur Teilhabe zu erbringen und zwar ausschließlich bezogen auf das Erwerbsleben (§ 9 bis § 32 SGB VI).
Nach dem für die GRV geltenden Leitsatz Rehabilitation vor Rente (§ 9 (1) Satz 2 SGB VI) betreffen die §§ 9 bis 32 des SGB VI die medizinische Rehabilitation mit dem Ziel, die Erwerbsminderung zu vermeiden bzw. zu minimieren sowie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.
Weitere Träger der Leistungen zur Teilhabe (Rehabilitation) sind (§ 6 SGB IX):
  • Gesetzliche Krankenkassen
  • Bundesagentur für Arbeit
  • Gesetzliche Unfallversicherung
  • Kriegsopferversorgung und -fürsorge
  • Öffentliche Jugendhilfe
  • Sozialhilfe
Die Zuständigkeitsaufteilung zwischen diesen Trägern richtet sich im Grundsatz danach, welcher Träger die Nachteile bei einem Misslingen der Rehabilitation trägt. Die Leistungen der GRV haben zum Ziel, Erwerbsminderung zu verhindern oder Erwerbsgeminderte wieder in das Erwerbsleben zurückzuführen. Schlägt also die medizinische und/oder berufliche Rehabilitation fehl, droht die Erwerbsminderung. Dies ist ausdrücklich in § 116 SGB VI festgehalten. Daraus folgt die Zuständigkeit der GRV.
Eine wesentliche Ergänzung findet das SGB VI durch das am 14.12.2016 in Kraft getretene Flexirentengesetz (Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben). Ziel des Gesetzes ist es,
  • den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand flexibler zu gestalten und gleichzeitig die Attraktivität für ein Weiterarbeiten über die reguläre Altersgrenze hinaus zu erhöhen (§ 34 SGB VI),
  • die Kinderrehabilitation so zu gestalten, dass diese auch in ambulanter Form durchgeführt werden kann, sodass Kinder in ihrem Umfeld bleiben können (§ 15a SGB VI) und
  • den Versicherten ab Vollendung des 45. Lebensjahres eine berufsbezogene Gesundheitsuntersuchung anzubieten (§ 14 Absatz 3SGB VI).
Zu den beiden letzten Zielen läuft noch eine Erprobungs- und Entwicklungsphase.
Die Erfüllung der Aufgaben der GRV nach dem SGB VI setzt einen entsprechenden Antrag des Versicherten voraus. Dies ist ausdrücklich zu den jeweiligen Leistungen im Gesetz festgehalten. Es kann also grundsätzlich niemand gezwungen werden, eine Leistung zur Teilhabe oder eine Rente wegen einer Leistungsminderung zu beziehen.
Seit 01.08.2017 bestehen Handlungsempfehlungen – das sog. Nahtlosverfahren –, die auf einer Vereinbarung zwischen der Gesetzlichen Krankenversicherung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und der GRV beruhen. Herzstück dieses Verfahrens ist die begleitete – begleitet meist durch Mitarbeiter der Entwöhnungseinrichtung – Verlegung vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung. Die Antragstellung wird in diesen Fällen durch den Sozialdienst des Krankenhauses initiiert. Ähnliche Vereinbarungen bestehen zur Anschlussheilbehandlung (AHB).
Die Initiative bzw. ein mittelbarer Zwang zu diesem Antrag kann jedoch in Ausnahmefällen auch von dritter Stelle kommen.
Nach § 51 SGB V kann die Krankenkasse einen Versicherten zur Stellung eines Antrags auf Leistungen zur Teilhabe auffordern, wenn seine „Erwerbsfähigkeit nach ärztlischem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist“. Der Anspruch auf Krankengeld entfällt, wenn trotz Aufforderung der Antrag nicht innerhalb von 10 Wochen gestellt wird.
Nach § 145 (2) SGB III besteht die gleiche Befugnis für die Agentur für Arbeit, wenn die Leistungsfähigkeit eines Arbeitslosen gemindert ist. Die Frist beträgt einen Monat. Stellt der Versicherte den Antrag nicht, verliert er den Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zu dem Tag, an dem der Antrag gestellt wird.
Ein Antrag auf Leistungen zur Teilhabe gilt nach § 116 (2) SGB VI als Antrag auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, wenn Versicherte vermindert erwerbsfähig sind und
„1. ein Erfolg von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erwarten ist oder
2. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht erfolgreich gewesen sind, weil sie die verminderte Erwerbsfähigkeit nicht verhindert haben.“
Ist also der Misserfolg von Leistungen zur Teilhabe absehbar oder offensichtlich, ist der Antrag „umzudeuten“ in einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente.
Zur Erfüllung dieser Aufgaben benötigt die GRV vom ärztlichen Gutachter Aussagen zur
  • Rehabilitationsbedürftigkeit,
  • Rehabilitationsfähigkeit und
  • Rehabilitationsprognose
Die Rehabilitationsbedürftigkeit beinhaltet die Notwendigkeiten von Leistungen zur Teilhabe bei gefährdeter oder bereits geminderter Erwerbsfähigkeit.
Die Rehabilitationsfähigkeit setzt einerseits den subjektiven Willen des Versicherten und andererseits aber auch die körperlichen Möglichkeiten voraus, angebotene Leistungen zur Teilhabe auch wahrzunehmen. Es macht beispielsweise keinen Sinn, bei einem nicht abgeheilten Amputationsstumpf eine Rehabilitation durchzuführen. Aktivitäten und Teilhabe können durch Prothesenversorgung und dem sich anschließenden Training nur dann gesteigert werden, wenn der Amputationsstumpf belastbar ist.
Die Rehabilitationsprognose bezieht sich auf die Frage, ob die angestrebte Teilhabe mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erreichen ist. In die Beurteilung einzubeziehen sind die Motivation des Versicherten, die Art der angebotenen Leistung und deren Dauer, wobei Ausgangspunkt der Prognose die Schädigung ist, die der Prognose zugrunde liegt.
Im Rahmen des BTHG (§ 11 SGB IX) wurde der Aufgabenbereich der GRV insofern gedehnt, als Maßnahmen entwickelt werden sollen, um den Eintritt einer chronischen Krankheit oder einer Behinderung zu vermeiden. Sie sollen im Vorfeld von Rehabilitation und Erwerbsminderung wirken. Diese Maßnahmen („rehapro“) werden von der Bundesregierung in den Jahren 2018–2022 mit 500 Mio EUR gefördert.
Leistungen der GRV erfolgen nach dem Finalitätsprinzip. Die Frage nach den Ursachen (Kausalität) einer drohenden oder bereits eingetretenen Erwerbsminderung stellt sich nicht, es sei denn die beantragten Leistungen fallen in die Zuständigkeit eines anderen der oben aufgeführten Sozialversicherungsträger.

Statistik

Die GRV ist – seit der Organisationsreform zum 01.10.2005 – wie folgt aufgebaut (§ 125 SGB VI):
  • 14 Regionalträger, jeweils gekennzeichnet durch einen Zusatz, der sie der betreffenden Region zuordnet (z. B. die Deutsche Rentenversicherung Westfalen)
  • Deutsche Rentenversicherung Bund
  • Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See
Alle Rentenversicherungsträger sind gleichberechtigt. Es gibt also keine Hierarchie. Gemeinsame und übergeordnete Angelegenheiten werden in gemeinsamen Gremien erörtert und – soweit erforderlich – beschlossen. Die Vorbereitung und Koordination obliegt der Deutschen Rentenversicherung Bund.
Die Zahl der in der GRV Versicherten (ohne Rentenbezug) ist von 1993 bis zum 31.12.2017 von 49.739.635 auf ca. 55.107.000 angestiegen, die Zahl der Rentenberechtigten im gleichen Zeitraum von 19.839.562 auf 25.661.680, wobei dieser Anstieg nur sehr bedingt mit dem Anstieg der Zahl der Versicherten zusammenhängt. Er ist vielmehr abhängig vor allem von einer älter werdenden Bevölkerung.
Eine signifikante Änderung/Schwankung der pro Jahr bewilligten Erwerbsminderungsrenten ist in den letzten Jahren nicht festzustellen, ebenso nicht in Bezug auf das durchschnittliche Zugangsalter, das 2017 bei Männern bei 52,4 Jahren und bei Frauen bei 51,4 Jahren lag. Eklatant ist jedoch die Zunahme psychischer Erkrankungen als Ursache einer Erwerbsminderungsrente. Im Jahr 2015 lagen die Rentenneuzugänge (Erwerbsminderungsrente) bei ca. 175.000, wobei die Anteile von Männern und Frauen annähernd gleich groß waren. 42,9 % bezogen sich auf psychische Veränderungen. Bei den Frauen erhielten 2015 etwa 50 % der Neuzugänge Renten wegen psychischer Veränderungen. Bei den Männern waren dies ca. 30 %. Es folgen Krebsneubildungen mit einem Anteil an den Rentenneuzugängen von 12,9 %, Krankheiten von Muskeln, Skelett und Bindegewebe mit 12,3 % und Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems mit 9,3 %.
Psychische Erkrankungen sind dementsprechend ein Schwerpunkt der Begutachtung für die Gesetzliche Rentenversicherung.

Leistungen zur Teilhabe am Erwerbsleben

Gemäß § 9 (1) SGB VI werden Leistungen zur Teilhabe am Erwerbsleben sowie ergänzende Leistungen erbracht, um
  • „den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten entgegen zu wirken oder sie zu überwinden und
  • dadurch entweder Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit des Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wieder einzugliedern“.
Dies kann erreicht werden durch:
  • Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 15 SGB VI)
  • Leistungen zur beruflichen Rehabilitation (§ 16 SGB VI)
  • Ergänzende Leistungen (§ 28 SGB VI)
  • Sonstige Leistungen (§ 31 SGB VI)
Gelockert ist der Bezug zum Erwerbsleben jedoch bei der Kinder- und Tumorrehabilitation.
§ 15 SGB VI gibt grobe Vorgaben zur Organisation und Sollvorgaben zur Dauer der medizinischen Rehabilitation: „(3) Die stationären Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sollen für längstens drei Wochen erbracht werden“.
Zur beruflichen Rehabilitation (§ 16 SGB VI) wird verwiesen auf das SGB IX – „Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“.
Als Ergänzende Leistung (§ 28 SGB VI) ist vor allem das „Übergangsgeld“ zu nennen (§ 20 SGB VI).
Unter Sonstige Leistungen (§ 31 SGB VI) fallen Nachsorgeleistungen zur Sicherung des Erfolgs beispielsweise einer Rehamaßnahme, onkologische Rehabilitationsleistungen, auch Leistungen an Nichtversicherte, zum Beispiel Zuwendungen für Einrichtungen, die auf dem Gebiet der Rehabilitation forschen.
Im Jahr 2017 wurden 1.013.588 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erbracht. Der Erfolg dieser Leistungen wird anhand eines 2-Jahres-Verlaufs überprüft. Nach Ablauf von 2 Jahren wird also geprüft, wer von denjenigen, die vor 2 Jahren Leistungen zur Teilhabe erhalten hat, lückenlose Beiträge zur GRV einzahlt, also voll erwerbstätig ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass alle diejenigen, die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erhalten, in ihrer Leistungsfähigkeit bedroht waren. Es ist deshalb keine Selbstverständlichkeit, dass der überwiegende Teil nach Ablauf von 2 Jahren voll im Berufsleben steht (Tab. 1).
Tab. 1
Sozialmedizinischer 2-Jahres-Verlauf nach medizinischer Rehabilitation in 2013 (pflichtversicherte Rehabilitanden: 727.245)
Erwerbsverlauf bis 2015
Ehemalige Rehabilitanden (%)
Lückenlose Beiträge
73
Lückenhafte Beiträge
11
Rente wegen Erwerbsminderung
8
Altersrentenbeginn
6
Aus dem Erwerbsleben heraus Verstorbene
1
Sind die persönlichen Voraussetzungen (§ 10 SGB VI) – erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, die voraussichtlich stabilisiert oder verbessert werden kann, oder die Möglichkeit zum Erhalt des Arbeitsplatzes durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 11 und § 11a SGB VI) – Wartezeit oder sonstige Vorgaben – erfüllt und liegt der Antrag auf eine Leistung zur Teilhabe vor, steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Trägers der Rentenversicherung, ob er dem Antrag stattgeben wird. Der Versicherte hat also Anspruch auf eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung (§ 9 (2) SGB VI: „können“), wobei das Ermessen im Einzelfall auf Null reduziert sein kann.
Wird der Antrag nicht fristgerecht (Fristen: §§ 14, 15 SGB IX) entschieden, kann der Versicherte in gesetzlich festgelegten Fällen Aufwendungen wegen selbst beschaffter Leistungen geltend machen (§ 18 (4) SGB IX).
Zwischen 2 gleichen oder ähnlichen Leistungen zur Teilhabe muss in aller Regel ein Intervall von 4 Jahren liegen (§ 12 (2) SGB VI).

Rentenarten

Die Gewährung einer Rente setzt einen Antrag voraus.
Neben der Altersrente gewährt die GRV vor Erreichen der Altersgrenze
  • Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 II SGB VI),
  • Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 I SGB VI) und
  • Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit – während einer noch ca. 5-jährigen Übergangszeit (§ 240 SGB VI).
Das Rentenreformgesetz, das im Jahre 1998 noch unter der Regierungskoalition von CDU/FDP beschlossen wurde, das aber – nach Korrekturen – erst am 01.01.2001 in Kraft trat, sieht den Wegfall der Rente wegen Berufsunfähigkeit, also der 3. Alternative, aus 2 Gründen vor:
  • Die Berufsunfähigkeitsrente machte/macht nur einen geringen Anteil der Renten aus, erfordert aber einen unverhältnismäßig hohen Bearbeitungsaufwand. Mehr als die Hälfte aller Sozialgerichtsstreitigkeiten drehte und dreht sich um die Berufsunfähigkeitsrente.
  • Die Berufsunfähigkeitsrente begünstigt die berufliche Mittelschicht, also nur einen kleinen Teil der Versicherten. Die Lasten müssen aber alle tragen. Sie ist sozial ungerecht, denn aufgrund des durch die Sozialgerichtsbarkeit festgeschriebenen Mehrstufenschemas der Verweisung – Versicherte können nur auf die Tätigkeiten verwiesen werden, die sie körperlich und geistig nicht überfordern (objektive Zumutbarkeit) und die darüber hinaus nicht mit einem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden sind (subjektive Zumutbarkeit) – kommen angelernte und ungelernte Arbeitnehmer praktisch nicht in den Genuss dieser Rente, da ihnen jede Tätigkeit subjektiv zumutbar ist.
Das Risiko von Berufsunfähigkeit kann durch eine Private Berufsschutzversicherung (Private Berufsunfähigkeitsversicherung) abgemildert werden. Denjenigen Berufsgruppen, für die das Risiko von Berufsunfähigkeit erheblich ist, der Mittelschicht also, ist dies wirtschaftlich zuzumuten. Da für Versicherte, die vor dem 02.01.1961 geboren sind, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes am 01.01.2001 der Abschluss einer Berufsschutzversicherung nicht mehr zu tragbaren Prämien möglich war, führte dies zu großzügigen Übergangsregelungen von damals 20–25 Jahren, sodass gegenwärtig noch ein dreigliedriges Rentensystem Bestand hat. Die Bevölkerung wächst aber aus der Gesetzlichen Rente wegen Berufsunfähigkeit zunehmend heraus. Die aus juristischen Gründen schwierigen Voraussetzungen der Gesetzlichen Rente wegen Berufsunfähigkeit sind deshalb kein Thema dieses Beitrags.

Begriff der Erwerbsminderung

Die Rente wegen Erwerbsminderung, die ab dem 01.01.2001 anstelle der Erwerbsunfähigkeitsrente getreten ist, unterscheidet zwischen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1, Satz 2 SGB VI), voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2, Satz 2 SGB VI) und fehlender Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 3 SBG VI):
  • § 43 (1) 2 SGB VI: „Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Std. täglich erwerbstätig zu sein.“
  • § 43 (2) 2 SGB VI: „Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Std. täglich erwerbstätig zu sein.“
  • § 43 (3) SGB VI: „Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Std. täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarklage nicht zu berücksichtigen.“
Die Erwerbsminderung ist ein Rechtsbegriff. Ob jemand erwerbsgemindert im Sinne des SGB VI ist, entscheidet die Verwaltung oder das Gericht. Der ärztliche Gutachter beurteilt also nicht die Erwerbsminderung. Er beurteilt die Leistungsfähigkeit.

ICF Schuntermann 2018

Maßgebliches „Handwerkszeug“ zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit ist das psychosoziale Krankheitsverständnis der ICF (International Classification of Functioning, Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit), das für Gutachten für die GRV ausdrücklich vorgeschrieben und in den Formulargutachten vorgegeben ist.
Ausgangspunkt für die Nutzung der ICF ist stets ein Gesundheitsproblem. Dasselbe Gesundheitsproblem kann jedoch im Leben verschiedener Menschen in Abhängigkeit von Barrieren oder Förderfaktoren völlig unterschiedliche Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit haben. Ein Querschnittgelähmter kann in Abhängigkeit von seinen geistigen Fähigkeiten, seiner Willensstärke, seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten und günstigen Umweltfaktoren weitgehend am Leben der Gemeinschaft teilhaben. Die persönliche Einstellung des Betroffenen, seine Disziplin, Kompensationsfähigkeiten, eine vorhandene Unterstützung am Arbeitsplatz, das Umfeld, wirtschaftliche Möglichkeiten können dafür entscheidend sein, ob der Mensch leistungsfähig bleibt.
Die ICF beinhaltet einmal einen Paradigmenwechsel, weg von der Diagnose, den krankheitsbedingten Behinderungen und den dadurch bedingten Defiziten (dem „halb leeren Glas“) hin zum besseren Verständnis von Krankheitsfolgen im Bedingungsgefüge von Wechselwirkungen zwischen den Ebenen: Körperfunktionen/-strukturen, Aktivitäten/Teilhabe und Kontextfaktoren (dem „halb vollen Glas“). Der Mensch mit einem Gesundheitsproblem wird in seinen biografischen und sozialen Bezügen erfasst. Die ICF stellt dafür eine grundsätzliche Systematik und definierte Begriffe zur Verfügung.
Zum anderen ist die ICF eine Klassifikation, die eine Kodierung der einzelnen Komponenten der Funktionsfähigkeit für Gesundheitsinformationssysteme ermöglicht und damit nationalen und internationalen Datenabgleichen zwischen verschiedenen Disziplinen im System der sozialen Sicherung dienen soll, was jedoch nach wie vor schwierig ist, da – als Beispiel – die „Schwere“ eines Gesundheitsproblems nicht vollständig erfasst ist.
Die Begutachtung unter Berücksichtigung der ICF (Tab. 2) wird von der Deutschen Rentenversicherung Bund in ihren „Hinweisen zur Begutachtung“ vorgegeben, um die Folgen der Erkrankung für die Leistungsfähigkeit und ihre erwerbsbezogenen Auswirkungen richtig bewerten zu können. Entscheidend sind also nicht die Diagnosen, sondern ihre Auswirkungen – bezogen auf die Leistungsfähigkeit des Betroffenen. Ein Betroffener ist funktional gesund, also leistungsfähig, wenn vor seinem gesamten Lebenshintergrund (Konzept der Kontextfaktoren)
  • seine körperlichen Funktionen (einschließlich der geistigen und seelischen) allgemein anerkannten Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen),
  • er all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblemen erwartet wird (Konzept der Aktivitäten),
  • er sein Dasein in allen Lebensbereichen, die ihm wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen erwartet wird (Konzept der Teilhabe).
    Tab. 2
    Gliederungsbegriffe der ICF (Becher und Ludolph 2017)
    Begriffe der ICF
    Erläuterungen
    Komponenten
    Hauptgliederung der ICF:
    1. Körperfunktionen und Körperstrukturen
    2. Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe)
    3. Umweltfaktoren (Kontextfaktoren)
    4. Personenbezogene Faktoren (Kontextfaktoren)
    Kapitel
    Jede Komponente ist in Kapitel aufgeteilt:
    • Körperfunktionen/Körperstrukturen
    • Aktivitäten/Partizipation (Teilhabe)
    • Umweltfaktoren (Kontextfaktoren)
    Domänen
    Gruppen von inhaltlich zusammengehörenden Funktionen, Strukturen, Aktivitäten und Teilhabeaspekten
    Kategorien
    • Auch als Items bezeichnet; sie entsprechen den grundlegenden Bausteinen der ICF
    • Es gibt übergreifende und dazu untergeordnete Kategorien (Items)
    • Beispiel: b167 „Kognitiv-sprachliche Funktionen“ und b1670 „Das Sprachverständnis betreffende Funktionen“
Beispiel: Ein Berufskraftfahrer erleidet durch einen Verkehrsunfall den Verlust beider Beine im Oberschenkelbereich (Körperfunktionen). Daraus ergibt sich ein klar umschriebener Verlust an Aktivitäten. Entfallen sind Leistungen, die er unter Einsatz seiner Beine erbringt (Aktivitäten). Seine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist stark eingeschränkt. Er kann sich ausgehend nur von der eingeschränkten Körperfunktion nicht fortbewegen. Liegen hervorragende Umweltfaktoren vor (umweltbezogene Kontextfaktoren) und ist er persönlich motiviert (personenbezogene Kontextfaktoren), wird der Berufskraftfahrer nicht leistungsunfähig. Denn er kann alle händischen Tätigkeiten und alle Tätigkeiten verrichten, die seine Intelligenz, seine geistige Beweglichkeit, sein Einfühlungsvermögen usw. verlangen. Ist er mit modernen Prothesen ausgestattet, ist er beispielsweise motiviert, einen Computerkurs zu absolvieren oder sich in anderer Weise so fortzubilden, dass er seine berufliche Tätigkeit im Sitzen ausüben kann (personenbezogene Kontextfaktoren) und ist dann noch sichergestellt, dass er seinen Arbeitsplatz erreichen kann (z. B. behindertengerecht umgerüsteter Pkw, barrierefrei zugänglicher Arbeitsplatz – umweltbezogene Kontextfaktoren), dann ist er unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich leistungsfähig. Ist er dagegen nicht zu motivieren (z. B. wegen einer schweren Depression) oder nicht in der Lage (z. B. mangelnde Intelligenz) sich weiterzubilden, liegen die personenbezogenen Kontextfaktoren nicht vor. Der ehemalige Berufskraftfahrer ist leistungsunfähig.
Deutlich schwieriger sind Aussagen zur Leistungsfähigkeit auf psychischem Gebiet. Das Konzept der ICF ist insofern von überragender Bedeutung. Mit Veränderungen auf diesem Gebiet begründete Rentenanträge nehmen eklatant zu. Hinweise für die Wechselwirkungen zwischen Funktionsverlust, Verlust an Aktivitäten und Teilhabe an Lebensbereichen sind für die verschiedensten Krankheitsbilder, insbesondere auch für „psychisch kranke und behinderte Menschen“ den Arbeitshilfen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zu entnehmen.
Die Fragestellung an den ärztlichen Gutachter zur Sicherung der Leistungsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts lautet wie folgt:
A
Medizinischer Teil (Vollbeweis)
1.
Welche Diagnose ist gesichert?
 
2.
Welche Einschränkung der Aktivitäten folgt aus den Diagnosen, insbesondere:
a)
Welche qualitativen Einschränkungen der Aktivitäten (Zusammenfassung der positiven und negativen Leistungsmerkmale für die Ausübung der Erwerbstätigkeit) liegen vor?
 
b)
Welche quantitativen (zeitlicher Umfang, in dem die Erwerbstätigkeit nicht ausgeübt werden kann) Einschränkungen der Aktivitäten/Minderungen der Funktionsfähigkeit liegen vor (körperliche, geistige, seelische, soziale)?
 
 
 
B
Erwerbsbezogener Teil (Vollbeweis)
1.
Welche Aussagen sind zu den – personenbezogen und umweltbezogen – Kontextfaktoren (Fähigkeit und Wille zur Weiterbildung, eigener Pkw, barrierefreier Zugang zum Arbeitsplatz) möglich?
 
2.
Ist die Leistungsfähigkeit/Funktionsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des Allgemeinen Arbeitsmarkts dadurch nicht gemindert (6 Stunden und mehr), gemindert (3–6 Stunden) oder völlig entfallen (unter 3 Stunden)?
 
 
C
Weitere Fragestellungen (Vollbeweis)
1.
Seit wann besteht die Leistungseinbuße?
 
2.
„Rehabilitation vor Rente“. Welche Optionen gibt es für weitere Therapien?
 
 
Diese Fragen sind das grobe Gerüst, das zur qualitativen und quantitativen Leistungsfähigkeit, der konkreten Ausgestaltung durch Diagnosen, deren funktionelle Auswirkungen und der dadurch bedingten Einbuße der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft der Ausgestaltung bedarf.
An dem nachfolgenden Beispiel sollen die oben beschriebenen Anforderungen an den ärztlichen Gutachter aufgezeigt werden:
  • Ein 56-jähriger Lehrer (Germanistik und Sport) erleidet einen Schlaganfall. Es verbleiben eine Sprachstörung und eine Gehbehinderung rechts. Er leidet zudem krankheitsbedingt unter einer schweren Depression (Diagnosen: A 1).
  • Der Lehrer kann infolge der zuvor genannten Diagnosen nicht mehr vor einem Publikum auftreten. Er ist sowohl in der Fortbewegung als auch beim Heben und/oder Tragen schwerer Lasten schwerst eingeschränkt (Aktivitäten: A 2).
  • Aufgrund der schweren Depression ist er zu einer Umschulung oder auch nur zur Umorientierung nicht in der Lage (personenbezogene Kontextfaktoren: B 1).
  • Seine Leistungsfähigkeit ist dadurch völlig entfallen (Ergebnis: B 2).
  • Der Wegfall der Leistungsfähigkeit besteht seit dem Schlaganfall. Ob rehabilitative Maßnahmen die Leistungsfähigkeit wiederherstellen können und ob diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist eine Frage des Einzelfalls (C 1 und C 2).
Die Erwerbsminderung ist ein Rechtsbegriff. Die Leistungsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des Allgemeinen Arbeitsmarkts wird wesentlich durch die umwelt- und personenbezogenen Kontextfaktoren bestimmt. Der ärztliche Gutachter hat die Leistungfähigleit nach dem psychosozialen Krankheitsverständnis der ICF zu beurteilen.

Anforderungen an das ärztliche Gutachten

Das ärztliche Gutachten für die GRV setzt sich zusammen aus
  • der Anamnese, wobei die Anamnese auch die Sozial- und Berufsanamnese umfasst,
  • den Klagen und Beschwerden,
  • den Untersuchungsbefunden,
  • den (Funktions-)Diagnosen,
  • der Epikrise und
  • der Sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung (Aktivitäten, Kontextfaktoren, Möglichkeiten zur Rehabilitation, Leistungseinbuße).
Das Gutachtenformular, eine Einführung in die rechtlichen Grundlagen der Gesetzlichen Rentenversicherung, eine Anleitung zur Erstellung von Gutachten für die Gesetzliche Rentenversicherung sowie eine Definition der in der Gesetzlichen Rentenversicherung gebräuchlichen Begriffe findet sich im Internet (www.deutsche-rentenversicherung.de) oder in Buchform (Sozialmedizinische Begutachtung in der GRV). Dieser Anleitung ist strikt zu folgen. Zu beachten sind zudem die für einzelne Schadensbilder herausgegebenen Leitlinien der zuständigen Fachgesellschaften, die ebenfalls im Internet veröffentlicht sind (AWMF-Leitlinien), insbesondere die „Leitlinie für die sozialmedizinische Begutachtung“ und die Leitlinie „Beurteilung der Rehabilitationsbedürftigkeit von Menschen mit muskuloskeletalen Erkrankungen“ (Stand August 2017), wobei kritisch anzumerken ist, dass jedoch die modernen diagnostischen Möglichkeiten nicht ausreichend berücksichtigt sind und teils völlig veraltete Literatur aufgeführt ist. Diese Leitlinien enthalten grundsätzlich Hinweise für die Stellung der richtigen Diagnosen und ihre funktionellen Auswirkungen und Therapiemöglichkeiten. Zu beachten sind weiter die Arbeitshilfen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zu einzelnen Schadensbildern.
Erwartet wird vom ärztlichen Gutachter (als Helfer/Zuarbeiter/Lotse der Verwaltung oder des Gerichts) ein Gutachten, dessen Befunde vollständig sind, dessen Aussagen zum Leistungsvermögen sich schlüssig aus der Anamnese, den Befunden, den Diagnosen, den möglichen oder verschlossenen Aktivitäten und den Kontextfaktoren ergeben, das ohne nicht allgemein verständliche Kürzel verfasst ist, dessen Sprache deutsch ist und das sich nur auf die konkret gestellte Frage beschränkt. Soweit Angaben zum Beginn der Leistungseinbuße erfragt werden, reicht es in aller Regel nicht aus, wenn das Datum der Antragstellung benannt wird. Vielmehr ist das maßgebliche Datum dem Krankheitsverlauf zu entnehmen und konkret zu begründen (z. B. Datum des Herzinfarkts oder des Schlaganfalls). Das Datum der Antragstellung oder der gutachtlichen Untersuchung ist nur dann maßgebend, wenn keinerlei weitere Informationen vorliegen.
Erwartet wird ein Gutachten zu Leistungsfähigkeit für Gegenwart und Zukunft sowie für die Vergangenheit, soweit sie noch Auswirkungen auf die Gegenwart hat. Das Gutachten muss einen möglichst alltagstauglichen Eindruck von der Leistungsfähigkeit des Probanden – bezogen auf die üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts – ergeben.
Unter dem Allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 43 SGB VI) wird das gesamte Spektrum aller abhängigen Beschäftigungen und aller selbstständigen Tätigkeiten verstanden, wobei Sonderbereiche (z. B. Werkstätten für behinderte Menschen, sportliche Höchstleistungen) außer Betracht bleiben (BSG, Urteil vom 19.10.2011, B 13 R 78/09 R). Außer Betracht bleiben auch alle verbotenen Tätigkeiten (z. B. Kinderarbeit) sowie die Tätigkeit als Hausfrau; sie ist nicht erwerbstätig (§ 43 (3) SGB VI).
Zum Kern des ärztlichen Gutachtens gehören die Untersuchungsbefunde und die Diagnosen.
Die Funktionseinbuße als Grundlage finanzieller Entschädigung bedarf des Vollbeweises. Die Funktionseinbuße darf also keinem vernünftigen Zweifel unterliegen. Dieser Beweisanforderung hat sich die Erhebung und Bewertung der Befunde, als Grundlage für die Diagnose, anzupassen.
Die Befunde haben folgende Rangordnung:
  • Objektiv
  • Semi-objektiv bzw. semi-subjektiv
  • Subjektiv
Objektiv sind alle Befunde, die jederzeit reproduzierbar sind und deren Erhebung nicht der Mitarbeit des Probanden bedarf. Diese sogenannten harten Daten haben ihrerseits wiederum eine Rangordnung, weil sie von unterschiedlicher Wertigkeit sind. Vorrangige Informationsquelle sind beispielsweise der Muskelmantel und die Beschwielung im Seitenvergleich sowie bildgebende Verfahren und die technischen Untersuchungen, wobei die bildgebenden und technischen Verfahren nicht ausreichend sicher mit Funktionseinbußen korrelieren. Die harten Daten sind also entsprechend ihrer Aussagekraft zu hinterfragen.
Semi-objektiv oder semi-subjektiv sind alle die Befunde, deren Erhebung der Mitarbeit des Probanden bedürfen. Unter diese Gruppe fallen beispielsweise alle Bewegungsmaße. Es fallen darunter aber auch alle haltungsabhängigen Befunde, zum Beispiel die im Rahmen des Beschleunigungsmechanismus viel zitierte „Steilstellung“ der Halswirbelsäule. Diese mitwirkungsbedürftigen Befunde sind den harten Daten nachgeordnet. Sie sind nur indirekt einer Objektivierung zugänglich. Eine seitengleich kräftige Muskulatur des Schultergürtels und der Arme passt nicht zu einem weitgehend eingesteiften Schultergelenk. Diese Überlegungen gelten vor allem für die – belastungsintensiven – unteren Gliedmaßen, wobei geringe Umfangdifferenzen sich physiologisch aus der Händigkeit und dem Standbein erklären.
Ein rein subjektiver Befund ist neben Schwindel, Ohrgeräuschen, Konzentrationsstörungen vor allem der Schmerz. Der Schmerz hat zwar – begrenzt – Indizwirkung im Rahmen des therapeutischen Bemühens. Im Rahmen der Begutachtung ist er das unsicherste Kriterium überhaupt. Schmerzen, insbesondere sogenannte glaubhafte Beschwerden und/oder Schmerzen sind kein Kriterium zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit. Die Aufnahme glaubhafter Beschwerden indiziert Defizite der Befunderhebung. Aufzunehmen sind vielmehr die Befunde, die auf Schmerzen hindeuten, zum Beispiel eine signifikante Muskelminderung im Seitenvergleich. Anders liegt dies, wenn ein Phantomschmerz, eine Kausalgie oder eine „Schmerzkrankheit“ (chronisches Schmerzsyndrom) zu sichern sind.
Weitestgehend im Subjektiven bewegen sich die Befunde auf psychiatrischem Fachgebiet. Diese sind entsprechend den Vorgaben dieses Fachgebiets zu sichern und zu beurteilen.
Den sorgfältig erhobenen Befunden folgen die Diagnosen bzw. Funktionsdiagnosen. Unter Diagnose versteht man die Zuordnung von bestimmten Beschwerde-/Schadensbildern zu einem bestimmten Krankheitsbegriff (Impairment). Die Diagnosen sind in der Reihefolge ihres Schweregrads zu benennen, wobei sich der Schweregrad nach deren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben richtet. Die Diagnosen sind zwingend nach der jeweils gültigen Fassung der ICD zu verschlüsseln. Die ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer jeweils aktuellen Fassung erstellt und vom DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information) im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums herausgegeben (im Internet abrufbar).
Die Diagnose benennt den Grund für den Verlust an Aktivitäten/Teilhabe. Dieser wird einheitlich mit dem Begriff Krankheit oder Behinderung benannt. Relevant sind nur Diagnosen, die sich auf der Ebene der Aktivitäten/Teilhabe auswirken (Funktionsdiagnosen). Blutbildveränderungen, zum Beispiel nach traumatischem Milzverlust, ohne funktionelle Auswirkungen sind irrelevant. Die funktionellen Auswirkungen, die Verluste an Aktivitäten und Teilhabe durch die Diagnosen, sind deshalb mit zu benennen:
  • Verloren bzw. eingeschränkt sind für den Probanden (Versicherten) durch die Krankheit oder Behinderung die Funktionen, die er nicht mehr ausüben kann (Möglichkeit),
  • deren Ausübung ihm nicht mehr zugemutet werden kann (Zumutbarkeit) und
  • deren Ausübung ihm verboten ist, will er seine eigene Gesundheit nicht gefährden (Zulässigkeit).
Möglichkeit einer Aktivität: Verliert ein Versicherter unfallbedingt ein Bein, sind ihm alle Tätigkeitsfelder verschlossen, die mit ständigem Gehen und Stehen verbunden sind (z. B. Maurer), mit Gehen auf unebenem Gelände (z. B. Tiefbauarbeiter), mit einer rauen Bewegungsbeanspruchung (z. B. Alpinski), mit abrupten Rotationen und Belastungspitzen (z. B. Fußball). Diese Tätigkeitsfelder können nicht mehr ausgeübt werden. Dies ist – bei realistischer Betrachtung – die unfallbedingte Funktionseinbuße oder Leistungsminderung, auch wenn modernste Prothesen es einigen wenigen Betroffenen erlauben, wettkampfmäßig an Lauf- und Sprungdisziplinen teilzunehmen.
Zumutbarkeit einer Aktivität: Die unfall- oder krankheitsbedingten Schmerzen/Beschwerden bedingen die Funktionseinbuße bzw. Leistungsminderung. Es ist dem Versicherten nicht mehr zumutbar, beispielsweise ausschließlich im Gehen und Stehen zu arbeiten oder kniestrapazierende Tätigkeiten (z. B. im Tunnelbau) auszuüben, wenn unfallbedingt eine schmerzhafte Arthrose vorliegt, auch wenn die Beweglichkeit im betroffenen Kniegelenk noch weitestgehend normal ist. Auf die besondere Sorgfalt, mit der insbesondere diese Beschwerdeangaben hinterfragt und mit objektiven Befunden unterlegt werden müssen, wurde bereits hingewiesen.
Zulässigkeit einer Aktivität: Schwierigkeiten ergeben sich vor allem bei der Umsetzung der letzten Alternative, der aus präventiven Gründen bedingten Funktionsbeeinträchtigung. Wann kann aus präventiven Gründen eine bestimmte Funktion nicht mehr ausgeübt werden? Paradebeispiele sind eine Infektionsneigung nach Milzverlust oder Funktionseinbußen nach künstlichem Gelenkersatz.
Beispiel: Ein Versicherter erleidet unfallbedingt einen Oberschenkelhalsbruch. Durchgeführt wird der totalprothetische Ersatz des Hüftgelenks. Die Endoprothese ist ein Kunstgelenk, das sich nicht regenerieren oder der Belastung anpassen kann. Das künstlich ersetzte Gelenk ist dauerhaft weniger belastbar und wird dauerhaft weniger belastbar sein und sich je nach Beanspruchung an der Grenzschicht (Interface) zwischen lebendem Gewebe und künstlichem Werkstoff irgendwann lockern. Häufiges Tragen schwerer Lasten, lange Laufbeanspruchungen, bestimmte Bewegungen (z. B. die starke Beugung des Hüftgelenks über 100, das Überkreuzen und maximale Abspreizen der Beine) müssen vermieden werden. Zahlreiche Sportarten, wie Sprünge oder kraftvolles Antreten (z. B. Ballsport, Tennis, Leichtathletik) oder die extreme Bewegungsausschläge der Kunstgelenke erfordern (z. B. Reiten, Ringen), sind gefährdend. Einerseits steigt mit dem Aktivitätsgrad der Betroffenen der Verschleiß (z. B. erhöhter Polyäthylenabrieb) der Prothese. Andererseits werden durch moderate und regelmäßige Belastungen (Ausdauersportarten) die Inaktivitätsosteoporose (Knochenschwund infolge Minderbelastung) durch die funktionelle Beanspruchung vermieden, die schützende Muskulatur gefördert und somit einer vorzeitigen Lockerung vorbeugt. Was für diverse Sportarten gut untersucht ist, gilt sinngemäß auch für die körperliche Belastung im Arbeitsleben. Dementsprechend richten sich Möglichkeit, Zumutbarkeit und Zulässigkeit von Aktivitäten nach folgenden Kriterien:
  • Die Operation sollte bei unauffälligem postoperativen Verlauf mindestens 3 Monate zurückliegen (Möglichkeit von Aktivitäten).
  • Das Gangbild soll harmonisch sein (kein Hinken, keine Gehhilfen, problemloses Treppensteigen, keine signifikanten Beinlängendifferenzen) mit ausreichender Stabilisierung durch die Muskulatur (Möglichkeit von Aktivitäten).
  • Es soll ein angemessenes Bewegungsausmaß des Kunstgelenks resultieren (Möglichkeit von Aktivitäten).
  • Es dürfen keine prothesenbedingten Ruhe- oder Belastungsschmerzen existieren (Zumutbarkeit von Aktivitäten).
Wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, bleiben dem Versicherten dennoch erhebliche Bereiche des Erwerbslebens verschlossen (Zulässigkeit von Aktivitäten). Mit modernen Endoprothesensystemen können zwar ausgezeichnete funktionelle (Mess-)Ergebnisse erzielt werden – dies auch mittelfristig, wenn man das in der Regel fortgeschrittene Alter der Betroffenen mit entsprechenden Begleiterkrankungen berücksichtigt. Dennoch sieht sich der Endoprothesenträger Einschränkungen gegenüber, die durch den Wunsch nach möglichst langer Haltbarkeit noch akzentuiert werden. Deshalb ist aus präventiven Gründen ein „Basiswert“ für die Leistungsminderung bei einwandfreiem Prothesensitz, weitgehender Schmerzfreiheit, freier Funktion und Kraft zu ermitteln. Dieser „Basiswert“, der mit etwa 20 % der Aktivitäten eines sogenannten Gesunden anzusetzen ist, führt zwar für sich allein nicht zu einer rentenberechtigenden Erwerbsminderung, ist aber ein ganz erheblicher Mosaikstein.
Die Leistungsminderung ändert sich nicht, wenn beide Hüft- und/oder Kniegelenke und/oder Sprunggelenke prothetisch ersetzt sind, da dem Versicherten mit zwei künstlichen Hüft- und/oder Kniegelenken und/oder Sprunggelenken gefährdungsbedingt nicht mehr Erwerbsmöglichkeiten verschlossen sind als mit einem künstlichen Hüft- oder Kniegelenk.
Die häufig verwendete Formulierung „Zustand nach“ ist in vielen Fällen ohne jegliche Aussagekraft. Das gleiche gilt für die Aufzählung zurückliegender Erkrankungen. Anzugeben sind die gegenwärtigen Auswirkungen dieser Erkrankungen. Bei Verdachtsdiagnosen sind die gegenwärtigen Funktionseinbußen zu benennen (z. B. „wiederkehrende schmerzhafte Bewegungseinschränkung in den Finger- und Zehengelenken bei Verdacht auf chronische Polyarthritis“).
Wenn das Konzept der ICF bereits bei Niederlegung der Anamnese, der Untersuchungsbefunde und der Diagnose beachtet wurde, ist die Epikrise kein Problem mehr. Die Epikrise unterteilt sich in 5 Untergliederungen, auf denen die Beurteilung für die GRV aufbaut:
  • Angaben zu den gesundheitlichen Schädigungen, die unter dem Gliederungspunkt „Diagnosen“ zusammengetragen wurden (Impairment)
  • Dadurch bedingte Störungen von Strukturen/Funktionen, von Aktivitäten/Teilhabe (Disabilities)
  • Kontexfaktoren und sich daraus ergebende Beeinträchtigungen (Handicap)
  • Prognose
  • Interventionsmöglichkeiten
Disabilities : Fähigkeitsstörungen/Behinderungen: Zu hinterfragen bzw. zusammenzustellen sind die Funktionseinbußen aufgrund aller zuvor gestellten Diagnosen in Bezug auf mentale Funktionen, Sinnesfunktionen, Schmerzempfindungen, Stimm- und Sprechfunktionen, kardiopulmonale Funktionen, Funktionen des hämatologischen und immunologischen Systems, Funktionen des Verdauungssystems, des Stoffwechsels und des endokrinen Systems, des Urogenitalsystems, des Stütz- und Bewegungsapparats sowie der Haut und Hautanhanggebilde. Die Störungen von Aktivitäten/Teilhabe sind der andere Teil der funktionalen Problematik. Zu überprüfen und zu beschreiben sind: Lernen und Wissensanwendung, Bewältigung allgemeiner Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation und Mobilität einschließlich Tragen, Bewegen und Handhaben von Gegenständen, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, Arbeit, Beschäftigung und Bildung, Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.
Kontextfaktoren: Kontextfaktoren, die Gegebenheiten des gesamten Lebenshintergrunds des Versicherten, untergliedern sich in günstige und ungünstige Kontextfaktoren. Sie beinhalten beispielsweise die Ausstattung mit einem Rollstuhl oder einem Pkw mit Automatikgetriebe, psychosoziale Unterstützung (z. B. durch die Familie oder durch Arbeitskollegen) und vorhandene bzw. fehlende Dienste (z. B. Pflegedienst).
Prognose: Die Prognose bezieht sich auf den weiteren Krankheitsverlauf und die Erwerbstätigkeit des Versicherten.
Interventionsmöglichkeiten: Interventionsmöglichkeiten beinhalten vor allem die medizinischen Möglichkeiten, um die Prognose günstig zu gestalten. Dazu zählen auch eine Verbesserung der Kontextfaktoren, aber auch präventive Kurmaßnahmen (Rehabilitation vor Rente).
Die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung ist die Schlussfolgerung aus dem ärztlichen Gutachten. Im Gegensatz zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in der Gesetzlichen Unfallversicherung, zum Grad der Behinderung (GdB) im Schwerbehindertenrecht und zum Grad der Schädigungsfolgen (GdS) im Sozialen Entschädigungsrecht ist nicht entscheidend die Leistungsminderung. Entscheidend sind die noch erhaltenen Leistungsfähigkeiten.
Zu beantworten sind folgende Fragen:
  • Liegen qualitative oder quantitative Leistungsminderungen/Minderungen der Funktionsfähigkeit vor? Welche (körperliche, geistige, seelische, soziale – negatives Leistungsbild)? In welchem Umfang ist die Leistungsfähigkeit erhalten (positives Leistungsbild)?
  • Ist die Leistungsfähigkeit/Funktionsfähigkeit im Erwerbsleben dadurch erheblich gefährdet, gemindert oder völlig entfallen?
Unter dem qualitativen Leistungsbild werden die Fähigkeitseinschränkungen des Versicherten selbst verstanden, also das positive und negative Leistungsbild, das sich daraus ergibt, dass behinderungsbedingt beispielsweise eine bestimmte Arbeitshaltung nicht mehr eingenommen oder der Wille, eine Arbeit aufzunehmen, depressionsbedingt nicht aufgebracht werden kann.
Unter dem quantitativen Leistungsbild wird der zeitliche Umfang verstanden, in dem die berufliche Tätigkeit ausgeübt werden kann (ab dem 01.01.2001: 6 Stunden und mehr, 3–6 Stunden, unter 3 Stunden; bis zum 31.12.2000: vollschichtig, halb- bis untervollschichtig, 2 Stunden bis unterhalbschichtig, unter 2 Stunden).
Das positive Leistungsbild, das heißt die Fähigkeiten des Versicherten, und das negative Leistungsbild sind zu beschreiben.
Bei der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung sind nicht zu berücksichtigen:
  • Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt
  • Arbeitslosigkeit
  • Entwöhnung von beruflicher Tätigkeit
  • Lebensalter
  • Doppelbelastung (z. B. durch Beruf und Familie)
Um diese Faktoren zu beurteilen, bedarf es in der Regel keines ärztlichen Gutachtens.
Beispielgutachten
Der Versicherte, 54 Jahre alt, ein körperlich schwer arbeitender (Ein- und Ausladen von Möbeln) Berufskraftfahrer in einem Speditionsbetrieb, leidet unter den Folgen eines Schlaganfalls und unter einem Bandscheibenschaden im Bereich der Halswirbelsäule mit Ausstrahlung der Beschwerden/Schmerzen in den rechten Arm.
a.
Anamnese (Familienanamnese, Eigenanamnese, Risikofaktoren, jetzige Beschwerden, vegetative Anamnese, Medikation, Arbeits- und Sozialanamnese)
 
b.
Untersuchungsbefund (Teil I.7)
 
c.
Diagnosen:
1.
Hirninfarkt (G 45.8) mit einer verbliebenen Schwäche des linken Arms und des linken Beins sowie Konzentrationsstörungen
 
2.
Bandscheibenvorfall im Segment C6/7 der Halswirbelsäule mit Ausstrahlung in den rechten Arm, einer Schwäche des rechten Arms und einer Bewegungseinschränkung im Bereich der Halswirbelsäule (M 50.1)
 
3.
Anhaltende Schmerzstörung ausgehend von der Halswirbelsäule (F 45.41)
 
 
d.
Epikrise
Der 54-jährige Versicherte stellt den ersten Rentenantrag. Er war seit seinem 25. Lebensjahr bis zum 50. Lebensjahr als Berufskraftfahrer in einem Speditionsbetrieb tätig. Er geht seitdem keiner Arbeit mehr nach. Er bezieht zurzeit Arbeitslosengeld II. Er besitzt keinen Führerschein mehr.
Die Beweglichkeit im Bereich der Halswirbelsäule wird massiv eingeschränkt vorgeführt. Insbesondere die linke Hand ist in ihrer Funktion deutlich eingeschränkt. Sicheres Greifen und Halten von Gegenständen ist nach dem Schlaganfall im März 2007 nicht mehr möglich. Aufgrund der Funktionseinbußen im Bereich des linken Beins (ebenfalls Folge des Schlaganfalls im März 2007) kann er keine Strecken über 200 m mehr zurücklegen. Das Treppensteigen ist deutlich erschwert. Er ist auf eine Gehhilfe rechts angewiesen, die er jedoch wegen des chronischen Schmerzsyndroms rechts nicht einsetzt. Er leidet unter deutlichen Konzentrationsstörungen und Benommenheit – bedingt durch den Schlaganfall und die von ihm im Übermaß eingenommene Schmerzmedikation. Seine Sprache ist infolge des erlittenen Hirninfarktes kaum verständlich.
 
e.
Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung
Aufgrund der Folgen des Hirninfarkts, verstärkt durch den Schmerzmittelmissbrauch, die Leistungseinschränkung im Bereich der linken Hand und des linken Beins, die Bewegungseinschränkung im Bereich der Halswirbelsäule sowie der Schmerzen im Bereich der rechten Hand ist das Leistungsvermögen des Versicherten auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt aufgehoben. Es ist nicht davon auszugehen, dass Rehabilitationsmaßnahmen erfolgreich sein werden, da die Folgen des Hirnschlags nicht mehr positiv zu beeinflussen sind. Positiv zu beeinflussen ist allenfalls der Medikamentenmissbrauch. Die Selbstdisziplin und Auffassungsgabe des Versicherten sind jedoch durch die Folgen des Schlaganfalls herabgesetzt, sodass ein Entzug auf Dauer scheitern wird. Der Versicherte ist körperlich und geistig nicht mehr in der Lage, eine wirtschaftlich verwertbare Leistung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erbringen.
 
Das ärztliche Gutachten hat folgende Fragen nachvollziehbar und schlüssig zu beantworten:
  • Liegen qualitative oder quantitative Leistungsminderungen/Minderungen der Funktionsfähigkeit vor? Welche (körperliche, geistige, seelische, soziale – negatives Leistungsbild)? In welchem Umfang ist die Leistungsfähigkeit erhalten (positives Leistungsbild)?
  • Ist die Leistungsfähigkeit/Funktionsfähigkeit im Erwerbsleben dadurch erheblich gefährdet, gemindert oder völlig entfallen?

Zeitlich befristete Erwerbsminderungsrente

Wenn die Prognose positiv ist, haben sich zeitlich befristete Erwerbsminderungsrenten nicht bewährt. Vielmehr ist die Rückehr an den Arbeitsplatz aus der Rente deutlich schwieriger, als wenn das Krankengeld voll ausgeschöpft wird (§ 48 SGB V). Die Reintegration von Zeitrentnern gelingt nur selten.

Rechtliche Besonderheiten

Leistungsfähigkeit 3 bis unter 6 Stunden

Die Leistungsfähigkeit bezieht sich stets auf die leichteste Arbeitsschwere.
Beispiel: Der Versicherte ist infolge einer Herzkrankheit nur noch unter 6 Stunden leistungsfähig als Lkw-Fahrer. Er ist jedoch noch mindestens 6 Stunden leistungsfähig in einem überwiegend sitzenden Beruf, der mit wenig Stress verbunden ist (z. B. als Pförtner). Dann ist der Versicherte nicht erwerbsgemindert. Bei einem über 3- bis unter 6-stündigem Leistungsvermögen und tatsächlich verschlossenem Arbeitsmarkt erhält der Versicherte Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Beispiel: Der Versicherte ist infolge von Bandscheibenvorfällen in den beiden unteren Segmenten der Lendenwirbelsäule in der Lage, über 3 Stunden, aber unter 6 Stunden einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der Versicherte ist gelernter Tiefbauarbeiter. Sein Beruf ist mit dem Heben und/oder Tragen schwerer Lasten verbunden. Diese Tätigkeit kann der Versicherte nicht mehr ausüben. In einem anderen Beruf ist der Versicherte nicht vermittelbar. Es kann ihm also faktisch kein Arbeitsplatz angeboten werden. Dieses Risiko, das eigentlich die Arbeitslosenversicherung treffen müsste, trifft jedoch die Gesetzliche Rentenversicherung. Der Versicherte erhält Rente wie ein voll Erwerbsgeminderter.
Diese „Arbeitsmarktrenten“ werden jedoch nur befristet – jeweils für 3 Jahre – bis zum Eintritt der Altersrente gewährt. Dagegen werden die Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung ansonsten längstens bis zu 9 Jahre als Zeitrente gewährt, sie können also dreimal verlängert werden, dann wird aus der Zeitrente eine Rente bis zur Altersgrenze.

Wegefähigkeit

Die Wegefähigkeit gehört zu dem Gliederungspunkt „Disabilities“. Das Bundessozialgericht hat dazu die Anforderungen wie folgt formuliert: Der Versicherte muss fähig sein, viermal täglich eine Wegstrecke von 500 m in einer Zeit von 15–18 Minuten zurückzulegen und zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Dabei sind Hilfsmittel (Gehhilfen) zu berücksichtigen.
Im Rahmen der Prüfung der Kontextfaktoren, der also durch die Umwelt und den persönlichen Einsatz bedingten Erleichterungen, gibt es von dieser Regelung jedoch zahlreiche Ausnahmen. Verfügt beispielsweise ein Versicherter über ein eigenes Kraftfahrzeug, in das er selbstständig ein- und aussteigen kann, und einen Führerschein und wird ihm an der Arbeitsstelle ein Parkplatz zur Verfügung gestellt, wird von Wegefähigkeit ausgegangen.

Tarifübliche Pausen

Nach einem schweren Verkehrsunfall ist beim Versicherten eine Stuhl- und Harninkontinenz verblieben. Im Übrigen wäre der Versicherte nicht erwerbsgemindert. Der Versicherte muss in der Lage sein – auch wenn er entsprechende Vorlagen trägt – sich sofort zu säubern, wenn Harn oder Stuhl abgehen. Der Versicherte ist auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt nicht erwerbsfähig.
Diese Fälle sind unter Berücksichtigung der Ausgestaltung der tarifvertraglich vereinbarten Pausen sehr selten geworden. In aller Regel sind die aus gesundheitlichen Gründen erforderlichen Pausen mit den tarifvertraglich möglichen Pausen vereinbar.
Literatur
Becher S, Ludolph E (2017) Grundlagen der ärztlichen Begutachtung, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart
Schuntermann MF (2018) Einführung in die ICF, 4. Aufl. ecomed MEDIZIN, Landsberg/Lech