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Orthopädie und Unfallchirurgie
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Publiziert am: 10.02.2021

Orthopädie und Unfallchirurgie: Begutachtung in der Privaten Unfallversicherung

Verfasst von: Elmar Ludolph
Die Private Unfallversicherung (PUV) ist Teil des Zivilrechts. Grundlage der PUV sind neben den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) die §§ 178–191 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) und auf dieses aufbauend die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) – ähnlich z. B. den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken. Abgeschlossen wird zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer ein privatrechtlicher Vertrag, der – soweit nicht das BGB und das VVG (§ 191 VVG) verbindliche Regelungen enthalten – frei vereinbar ist. Die Musterbedingungen (AUB) können im Rahmen der Gesetze (BGB und VVG) abgeändert werden, was auch vielfach geschieht. Hinzuweisen ist also mit dem Gutachtenauftrag auf die jeweils vertraglich vereinbarten Versicherungsbedingungen, die ggf. mit vorzulegen sind. Bei Streitigkeiten sind zuständig die Zivilgerichte.

Rechtsgrundlagen

Die Private Unfallversicherung (PUV) ist Teil des Zivilrechts. Grundlage der PUV sind neben den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) die §§ 178–191 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) und auf dieses aufbauend die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) – ähnlich den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken. Abgeschlossen wird zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer ein privatrechtlicher Vertrag, der – soweit nicht das BGB und das VVG (§ 191) verbindliche Regelungen enthalten – frei vereinbar ist. Die Musterbedingungen (AUB) können im Rahmen der Gesetze (BGB und VVG) abgeändert werden, was auch vielfach geschieht. Hinzuweisen ist also mit dem Gutachtenauftrag auf die jeweils vertraglich vereinbarten Versicherungsbedingungen, die ggf. mit vorzulegen sind.
Bei Streitigkeiten sind zuständig die Zivilgerichte.
Derzeit liegen den Versicherungsverträgen mit nur noch ganz wenigen Ausnahmen die AUB 88 ff. zugrunde. Auf die zuvor geltenden AUB 61 wird deshalb nachfolgend nicht eingegangen.

Der Unfallbegriff

Dieser zentrale Begriff aller aktuellen Versicherungsbedingungen ist in den AUB 88 ff. inhaltlich einheitlich festgeschrieben.
Ziff. 1.3 AUB 2014 (inhaltlich gleichlautend mit § 1 III AUB 88, 94; Ziff. 1.3 AUB 99/AUB 2008/AUB 2010):
„Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein
  • plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis)
  • unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung
erleidet.“
Das Ereignis muss „plötzlich“, also innerhalb eines kurzen Zeitraums ablaufen. Das Kennzeichen „plötzlich“ bezieht sich – das ist der derzeit gültigen Fassung der AUB 2014 auch zu entnehmen – auf das äußere Ereignis, nicht auf die Gesundheitsschädigung. Unter „plötzlich“ wird zum einen ein kurzer Zeitraum, zum anderen aber auch das Überraschende, Unerwartete, Unentrinnbare (BGH, Urteil vom 12.12.1984 – IVa ZR 88/83) verstanden. Verstirbt also der Versicherte infolge einer Kohlenmonoxidvergiftung durch einen defekten Ofen im Schlaf, ist dies „plötzlich“, obwohl das Kohlenmonoxid über einen längeren Zeitraum einwirkte.
Das Ereignis muss „von außen“ kommen. Eine Eigenbewegung kommt nie „von außen“. Hebt der Versicherte also z. B. eine schwere Last und kommt es dadurch zu Rückenbeschwerden, fehlt die Einwirkung „von außen“. Fällt der Versicherte aber durch eine Eigenbewegung zu Boden, ist der Aufprall auf dem Boden eine Einwirkung „von außen“ (BGH, Urteil vom 06.07.2011 – IV ZR 29/09). Aber auch das Verschlucken von Gegenständen oder Giften, die erst im Körper ihre schädliche Wirkung entfalten, kommt „von außen“. Der sog. Bolustod, also ein Herz-Kreislauf-Stillstand ausgehend von einer Reizung des Vagusnervs infolge Verschluckens eines größeren Nahrungsbrockens, wird als „von außen“ kommend verstanden, obwohl die eigentliche Gesundheitsschädigung auf einer Fehlfunktion des eigenen Körpers beruht – geplante Handlung, aber ungeplante Wirkung durch von außen kommende Handlung (Grenzfall).
Das äußere Ereignis muss nicht unmittelbar auf den Körper einwirken. Es reicht eine mittelbare Einwirkung. Bleibt ein Bergsteiger nach Sturz in eine Gletscherspalte zunächst unverletzt und stirbt dann durch Erfrieren, ist der Sturz das Ereignis „von außen“, obwohl dieser nur mittelbar zum Tode (Gesundheitsschädigung) führt (BGH, Urteil vom 15.02.1962 – II ZR 95/60).
Die Unfreiwilligkeit der Gesundheitsschädigung ist dem Unfallbegriff immanent.

Erweiterter Unfallbegriff

Die Private Unfallversicherung stellt Eigenbewegungen unter Versicherungsschutz, jedoch beschränkt auf klar definierte Gesundheitsschädigungen und beschränkt auf eine Verursachung durch „erhöhte Kraftanstrengung“ (Deckungserweiterung).
Ziff. 1.4 AUB 2014 (§ 1 IV AUB 88, 94, und Ziff. 1.4 AUB 99/AUB 2008/AUB 2010):
„Als Unfall gilt auch, wenn sich die versicherte Person durch eine erhöhte Kraftanstrengung
  • ein Gelenk an Gliedmaßen oder der Wirbelsäule verrenkt.
  • Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln an Gliedmaßen oder der Wirbelsäule zerrt oder zerreißt.
Meniskus und Bandscheiben sind weder Muskeln, Sehnen, Bänder noch Kapseln. Deshalb werden sie von dieser Regelung nicht erfasst.
Eine erhöhte Kraftanstrengung ist eine Bewegung, deren Muskeleinsatz über die normalen Handlungen des täglichen Lebens hinausgeht. Maßgeblich für die Beurteilung des Muskeleinsatzes sind die individuellen körperlichen Verhältnisse der versicherten Person.“
Was eine „erhöhte Kraftanstrengung“ ist, ist eine Rechtsfrage, fällt also nicht in die Kompetenz des ärztlichen Gutachters. Dafür gibt es keine allgemein gültige Maßeinheit. Entscheidend ist die individuelle Konstitution. Sportliche Betätigung gilt in der Regel als „erhöhte Kraftanstrengung“, da es deren Ziel ist, sich körperlich anzustrengen.
Die Aufzählung der versicherten Strukturen ist abschließend. Eine Analogie ist also nicht möglich. Ein Knochenbruch ist über die Deckungserweiterung „erhöhte Kraftanstrengung“ beispielsweise nicht versichert.

Kausalität

Als Teil des Zivilrechts gilt in der Privaten Unfallversicherung die Adäquanztheorie. Diese grenzt ganz unwahrscheinliche Ursachenzusammenhänge vom Versicherungsschutz aus. In der Regel stellt sich für die Private Unfallversicherung jedoch die Frage, inwieweit die Manifestation vorbestehender Veränderungen anlässlich eines „äußeren Ereignisses“ den Kausalzusammenhang ausschließt.
BGH (Urteil vom 19.10.2016 – IV ZR 521/14)
„Das Adäquanzerfordernis bezweckt nicht, die Folgen von Gesundheitsschädigungen, die nahezu ausschließlich durch ihre gesundheitliche Verfassung geprägt sind, von vornherein vom Versicherungsschutz auszuschließen. Dies wird der durchschnittliche Versicherungsnehmer entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung auch dem Klauselwerk nicht entnehmen. Er wird vielmehr gerade aus der Regelung über die Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen an der durch den Unfall verursachten Gesundheitsschädigung schließen, dass er im Grundsatz auch dann Versicherungsschutz genießt, wenn Unfallfolgen durch eine bereits vor dem Unfall vorhandene besondere gesundheitliche Disposition verschlimmert werden.“
Der Entscheidung lagen Rückenschmerzen, deren morphologisches Substrat unterschiedlich benannt wurde, durch einen Sturz auf das Gesäß zugrunde. Der ärztliche Sachverständige hatte den Sturz als „Gelegenheitsursache“ bezeichnet und mit dieser Begründung die Kausalität verneint. In der Privaten Unfallversicherung wird die Kausalität jedoch durch die „Mitwirkung von Krankheiten und/oder Gebrechen“ begrenzt (Ziff. 3 AUB 2014), nicht durch die „Gelegenheitsursache“, ein fragwürdiger Begriff des Sozialrechts.

Die Invalidität

Ziff. 2.1.1.1 AUB 2014, (§ 7 I. (1) AUB 88, 94 und Ziff. 2.1.1.1 AUB 99, 2008, 2010):
„Eine Invalidität liegt vor, wenn unfallbedingt
  • die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit dauerhaft beeinträchtigt ist.
Dauerhaft ist eine Beeinträchtigung, wenn
  • sie voraussichtlich länger als drei Jahre bestehen wird und
  • eine Änderung dieses Zustandes nicht zu erwarten ist.“
Die Bemessung der Invalidität ist die wesentliche Aufgabe des ärztlichen Gutachters. Zu unterscheiden ist zwischen der Bemessung innerhalb und außerhalb der Gliedertaxe.
Ziff. 2.1.2.2 AUB 2014 (§ 7 I. (2) a AUB 88, 94 und Ziff. 2.1.2.2.1 AUB 99, 2008, 2010):
„Der Invaliditätsgrad richtet sich
  • nach der Gliedertaxe (Ziff. 2.1.2.2.1), sofern die betroffenen Körperteile oder Sinnesorgane dort genannt sind,
  • ansonsten danach, in welchem Umfang die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit dauerhaft beeinträchtigt ist (Ziff. 2.1.2.2.2).“

Bemessung nach der Gliedertaxe

  • Die Bemessung nach der Gliedertaxe hat Vorrang vor der Bemessung außerhalb der Gliedertaxe.
    Alle die Gliedmaßen und Sinnesorgane, die in der Gliedertaxe benannt sind, sind „ausschließlich“ (Ziff. 2.1.2.2.1 AUB 2014) nach dem dort angegebenen festen Prozentsatz zu bemessen. Maßstab für die Bemessung ist dabei allein die unfallbedingte Funktionsbeeinträchtigung der betroffenen Gliedmaße/des betroffenen Sinnesorgans. Wirkt sich der Verlust des linken Beins deshalb besonders aus, weil das rechte Bein bereits zuvor amputiert wurde, ist dies irrelevant. Denn allein maßgeblich sind die unfallbedingten Funktionseinbußen im Bereich des linken Beins, die dort vorhandene Vorinvalidität (Ziff. 2.1.2.2.3 AUB 2014) und die dort zu sichernde Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen (Ziff. 3 AUB 2014).
  • Maßgebend ist nicht der „Sitz der Verletzung“, sondern der „Sitz der Funktionsausfälle“ bzw. der „Sitz der Schädigung“ (BGH, Urteil vom 24.05.2006 – IV ZR 203/03; BGH, Urteil vom 14.12.2011 – IV ZR 34/11).
    Es kommt nicht darauf an, an welchem Körperteil die Erstgesundheitsschädigung, also die primäre Verletzung, lokalisiert war. Entscheidend ist vielmehr, wo sich die unfallbedingten Defizite funktionell auswirken. Bei einer kompletten Querschnittlähmung nach einem Lendenwirbelbruch orientiert sich die Bemessung nicht in erster Linie daran, dass die Erstgesundheitsschädigung die Lendenwirbelsäule des Versicherten war, sondern zunächst an den Funktionsausfällen im Bereich beider Beine. Die völlige Funktionsunfähigkeit der Beine führt dazu, dass – nach der Gliedertaxe – jeweils ein Invaliditätsgrad von 70 % resultiert. Erst danach erfolgt die Bemessung der außerhalb der Gliedertaxe verbliebenen Unfallfolgen (z. B. Blasen- und Mastdarmlähmung, sexuelle Funktionsstörungen), wobei für die „Gesamt“invalidität 100 % der Versicherungssumme die Grenze ist (Ziff. 2.1.2.2.4 AUB 2014).
  • Bei Funktionsbeeinträchtigungen an Arm und Bein ist stets vom Prozentsatz für den vollständigen Verlust bzw. für die vollständige Funktionsunfähigkeit auszugehen.
    Die Gliedertaxe sieht neben den Werten für den vollständigen Verlust auch abgestufte Werte für Teilamputationen vor, beispielsweise einen Invaliditätsgrad von 45 % bei Verlust eines Beins bis zur Mitte des Unterschenkels. Die Folgen eines Unterschenkelbruchs sind jedoch nicht an diesem Wert, sondern am Invaliditätsgrad für den vollständigen Verlust bzw. die Funktionsunfähigkeit des ganzen Beins, also bezogen auf 70 %, zu bemessen. Denn eine teilweise Funktionsbeeinträchtigung des Beins „unterhalb der Mitte des Unterschenkels“ oder – um einen anderen Wert aus der Gliedertaxe zu wählen – eines Arms „unterhalb des Ellenbogengelenks“ ist nicht sachgerecht zu bemessen. Bezugspunkt für den Grad der Funktionsbeeinträchtigung müssen daher die Werte für den ganzen Arm bzw. das ganze Bein mit jeweils 70 %, für Unfallfolgen im Bereich der Hand der Invaliditätsgrad von 55 % sowie im Bereich des Fußes von 40 % sein.
  • „Nach der für die Bemessung der Invaliditätsleistung maßgeblichen Gliedertaxe schließt der Verlust oder die Funktionsunfähigkeit eines funktionell höher bewerteten, rumpfnäheren Gliedes den Verlust oder die Funktionsunfähigkeit des rumpfferneren Gliedes ein“ (Leitsatz: BGH, Urteil vom 14.12.2011 – IV ZR 34/11), wobei unter „Glied“ ein Gliedmaßenabschnitt zu verstehen ist.
  • Rechte und linke Gliedmaßen werden gleich bemessen (BGH, Urteil vom 10.10.1966 – II ZR 252/64).
  • Die Funktionsbeeinträchtigung von Gliedmaßen und Sinnesorganen ist in Bruchteilen der vollen Funktion anzugeben.
    Für diesen Grundsatz gibt es keine bindende Vorschrift in den Versicherungsbedingungen. In der gutachtlichen Praxis in Deutschland wird jedoch seit jeher so verfahren, dass die Funktionsbeeinträchtigung eines Arms beispielsweise mit 1/10 bemessen wird. Diese Bruchteile sind (vom Versicherer) ins Verhältnis zu den Prozentwerten der Gliedertaxe zu setzen. Eine Funktionsbeeinträchtigung eines Arms von 1/10 entspricht nach den Musterbedingungen einem Invaliditätsgrad von 7 % (1/10 von 70 %).

Auslegung des Bedingungswerks durch den BGH

Der Bundesgerichtshof hat die Gliedertaxe – in der Fassung der AUB 88/94/99 – in mehreren Entscheidungen dahin gehend interpretiert, dass die Versteifung im Schulter-, Hand- und Fußgelenk dem Verlust von Arm, Hand und Fuß gleichkommt. Die Entscheidungen des BGH sind für die Privaten Unfallversicherer, die die entsprechenden AUB ihren Verträgen zugrunde gelegt haben, praktisch verbindlich (Urteil vom 17.01.2001 – IV ZR 32/00; Urteil vom 09.07.2003 – IV ZR 74/02; Urteil vom 24.05.2006 – IV ZR 203/03). Es handelt sich um folgende Bestimmungen:
§ 7 I. (2) AUB 88, 94, die sinngemäß auch in Ziff. 2.1.2.2.1 AUB 99 übernommen wurden, also bis zu den AUB 2008 Musterbedingung waren:
„Als feste Invaliditätsgrade gelten – unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität – bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit
  • eines Armes im Schultergelenk 70 %
  • einer Hand im Handgelenk 55 %
  • eines Fußes im Fußgelenk 40 %“
Der Bundesgerichtshof argumentiert mit der sog. Unklarheitenregel. Der „durchschnittliche Versicherungsnehmer“ könne diese Vorschriften so verstehen, dass (schon) bei einer Versteifung und damit einer Funktionsunfähigkeit des Schulter-, Hand- oder Fußgelenks – und dem entsprechend bei Bewegungseinschränkungen des Arms im Schultergelenk – vom jeweils höchsten für den Verlust geltenden Invaliditätsgrad auszugehen sei, und zwar unabhängig davon, ob und inwieweit Arm, Hand bzw. Fuß noch teilweise funktionsfähig sind.
Diese Interpretation, die vielfach und zu Recht kritisiert wurde, führt dann zu Problemen, wenn z. B. sowohl Funktionseinbußen im Bereich der Schulter als auch im Bereich der Hand vorliegen. Da 70 % Armwert durch die Funktionseinbußen im Bereich der Schulter bereits belegt sind, müssen die Funktionseinbußen im Bereich der Hand nach Handwert bemessen werden, wobei zwar keine Addition von Arm- und Handwert erfolgt, der höchste Wert jedoch erhöht wird, wobei unklar ist, um welchen Prozentsatz.
BGH, Urteil vom 14.12.2011 – IV ZR 34/11:
„In jedem der in der Gliedertaxe genannten Invaliditätssätze ist bereits mitberücksichtigt, wie sich der unfallbedingte Verlust oder die Gebrauchsunfähigkeit eines Gliedteils auf den verbleibenden Gliedrest auswirkt. Daraus resultiert das Ansteigen des Invaliditätsprozentsatzes mit zunehmender Rumpfnähe des Gliedverlustes oder der Funktionsstörung.“
Die Unfallversicherer haben auf diese Interpretation der AUB reagiert und diese ab den AUB 2008 wie folgt umformuliert:
Ziff. 2.1.2.2.1 AUB 2008:
„Bei Verlust oder vollständiger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten ausschließlich, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist, die folgenden Invaliditätsgrade (Gliedertaxe):
  • Arm 70 %
Der BGH (Urteil vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13) interpretiert diese Formulierung der Gliedertaxe – „Arm 70 %“ – dahingehend, dass die Schulter versicherungsrechtlich nicht Teil des Arms sei und außerhalb der Gliedertaxe bemessen werden müsse. Hintergrund der Entscheidung war die Frage, ob eine Vorinvalidität im Bereich des Arms bei der Bemessung der Invalidität im Bereich der Schulter zu berücksichtigen ist, was vom BGH verneint wurde.
BGH, Urteil vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13:
„Vielmehr wird der durchschnittliche Versicherungsnehmer der von 5 % bis 70 % reichenden Staffelung entnehmen, dass zum Arm nur dessen in der Gliedertaxe im Einzelnen benannte Teile, nämlich die Finger, die Hand, der Arm unterhalb und bis oberhalb des Ellenbogens, schließlich der restliche Arm zählen sollen. Teile der Schulterpartie, mögen sie auch funktionell dazu bestimmt sein, die zwischen Arm und Rumpf auftretenden Kräfte aufzunehmen und somit die Funktionsfähigkeit des Armes zu gewährleisten, wird er nicht als vom Bedingungswortlaut erfasst ansehen“.
Folgt man der BGH-Rechtsprechung, dann sind Unfallfolgen im Bereich der Schulter vereinbarungsgemäß außerhalb der Gliedertaxe zu regulieren. Zu bemessen ist also der Verlust der „normalen körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit“ (Nr. 2.1.2.2.2 AUB 2008) durch Funktionseinbußen im Bereich der Schulter unter „ausschließlich medizinischen Gesichtspunkten“. Die Bedeutung der Schulter ist jedoch unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Menschen insgesamt, die außerhalb der Gliedertaxe mit 100 % anzusetzen ist, gering.
In Kenntnis dessen argumentieren mehrere Obergerichte, so das OLG Karlsruhe – in dem Bemühen, die BGH-Rechtsprechung zu korrigieren – wie folgt:
OLG Karlsruhe, Urteil vom 30.12.2016 – 12 U 97/16:
„Andererseits können nach allgemeiner Auffassung die in der Gliedertaxe getroffenen Wertungen auch nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Sie sind bei der individuellen Bewertung – wenn und soweit möglich – im Wege einer Kontrollüberlegung mit zu berücksichtigen.“
Diese Argumentation führt – unter Berücksichtigung dessen, was Versicherer und Versicherungsnehmer vereinbaren wollten – zum richtigen Ergebnis. Sie ist jedoch inhaltlich falsch, wird jedoch vom BGH gestützt, der nicht die Größe hatte, seine eigene Entscheidung zu korrigieren bzw. zu interpretieren (Beschluss 27.09.2017 – IV ZR 511/15). Die in der Gliedertaxe vereinbarten Prozentsätze sind Sonderregelungen. Sie entsprechen unter keinem Gesichtspunkt den Leistungen für vergleichbare unfallbedingte Gesundheitsschädigungen außerhalb der Gliedertaxe. Es ist nicht zu begründen, dass bei Verlust eines „Arms“ unter „ausschließlich medizinischen Gesichtspunkten“ (Bemessung außerhalb der Gliedertaxe) die „normale körperliche Leistungsfähigkeit“ um 70 % gemindert ist, wenn außerhalb der Gliedertaxe nur 100 % zur Verfügung stehen. Das Gleiche gilt bei Verlust eines „Auges 50 %“. Auch insofern lässt sich eine Relation zu der „normalen körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit“ nicht herstellen.
Der ärztliche Gutachter hat den rechtlichen Vorgaben des jeweiligen Auftraggebers zu folgen, für die wiederum die Rechtsprechung des BGH bindend ist. Ihm obliegt zwar die Bemessung außerhalb der Gliedertaxe nach „ausschließlich medizinischen Gesichtspunkten“. Ob dabei das Schultergelenk zwar außerhalb der Gliedertaxe zu bemessen ist, aber dennoch – aus rechtlichen Gründen – der Armwert mit zu berücksichtigen ist, ist diesem vorzugeben. Die Versicherer folgen bei der Interpretation der Versicherungsbedingungen meist den Tatsachengerichten (AG, LG und OLG).

Bemessung außerhalb der Gliedertaxe

  • Nur Gesundheitsschädigungen, die nicht durch die Gliedertaxe erfasst sind – diese hat Vorrang – sind außerhalb der Gliedertaxe zu bemessen.
  • Maßgebend ist unter ausschließlich medizinischen Gesichtspunkten, welche Funktionsdefizite vorliegen und wie sich diese auf die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit des Versicherten auswirken.
  • Die Invalidität für Unfallfolgen, die außerhalb der Gliedertaxe zu bemessen sind, wird stets in Prozent angegeben – bezogen auf 100 %.
  • Mit 100 % zu bemessen, also Ausgangspunkt für die Bemessung der unfallbedingten Invalidität, sind alle Strukturen, die nicht durch die Gliedertaxe erfasst sind.
  • Die Beeinträchtigung ist an der Leistungsfähigkeit eines Unversehrten gleichen Alters und gleichen Geschlechts zu messen. Dabei sind sämtliche Fähigkeiten des menschlichen Organismus zu berücksichtigen, auch solche, die nicht mit dem Erwerbsleben in Zusammenhang stehen, z. B. die Sexualfunktion.
Mit der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) oder dem Grad der Behinderung (GdB) bzw. dem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) darf die Invalidität nicht gleichgesetzt werden. Für die MdE-Erfahrungswerte (Gesetzliche Unfallversicherung) und die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (GdB und GdS) für das Schwerbehindertenrecht und das Soziale Entschädigungsrecht gelten andere Bewertungsmaßstäbe, die über das rein Medizinische weit hinausgehen. Letztere beziehen den Verlust der aktiven Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (ICF) ein.

Bemessung von Mehrfachverletzungen

Unfallfolgen, die nach der Gliedertaxe zu bemessen sind, sind zu addieren (Ziff. 2.1.2.2.4 AUB 2014), wobei 100 % der Versicherungssumme die Obergrenze ist und zwar auch dann, wenn Unfallfolgen nach der Gliedertaxe und außerhalb der Gliedertaxe zu bemessen und zu addieren sind. Ein Mehr kann nicht verlangt werden. Bei Verlust beider Beine bis zur Mitte des Oberschenkels (je 60 %) ist diese Obergrenze bereits überschritten.
Zu den Unfallfolgen nach der Gliedertaxe sind zu addieren die Unfallfolgen außerhalb der Gliedertaxe. Unterschiedlich geregelt ist jedoch – je nach den vereinbarten AUB – deren Bemessung bei Mehrfachverletzungen.
Beispiel
Der Versicherte hat unfallbedingt einen Wirbelbruch und Lungenfunktionsstörungen erlitten.
Nach § 7 I (2) d AUB 88/94 sind die Invaliditätsgrade nach Wirbelbruch und Lungenfunktionsstörung zu addieren. Zu ermitteln ist also der Verlust an „normaler körperlicher oder geistiger Leistungsfähigkeit“ (§ 7 I (2) c AUB 88/94) durch den Wirbelbruch und – getrennt – durch die Lungenfunktionsstörung. Beide Werte sind zu addieren unter Hinzuziehung der Funktionsbeeinträchtigungen innerhalb der Gliedertaxe.
Die AUB 99/2014 (Ziff. 2.1.2.2.2 AUB 2014) gehen demgegenüber von der Bemessung der Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit „insgesamt“ aus, also von der Beeinträchtigung durch Wirbelbruch und Lungenfunktionsstörungen, die dann zu der Funktionsbeeinträchtigung innerhalb der Gliedertaxe zu addieren ist.

Vorinvalidität

Der Unfallversicherer gewährt Leistungen für die Folgen eines während der Vertragsdauer eingetretenen Unfalls, nicht jedoch für Funktionsbeeinträchtigungen, die bereits zuvor bestanden haben, seien sie unfallbedingt oder unfallfremd. Die Vorinvalidität ist von der nach dem Unfall gegebenen Gesamtinvalidität in Abzug zu bringen. Verliert der Versicherte ein Bein, dass schon zuvor durch einen Wadenbeinnervenschaden in seiner Funktion beeinträchtigt war, ist die durch den Nervenschaden bedingte Vorinvalidität von der nach dem Unfall verbliebenen Invalidität in Abzug zu bringen.
§ 7 I (3) AUB 88/94 wurde von der Rechtsprechung dahingehend interpretiert, dass ein Abzug der Vorinvalidität von der Invaliditätsleistung und nicht vom Invaliditätsgrad vorzunehmen ist. Dies führt zu unerwünschten Ergebnissen, wenn eine progressive Invaliditätsstaffel vereinbart ist. Deshalb sehen die AUB 99 ff. ausdrücklich vor, dass der Abzug vom „Invaliditätsgrad“ zu erfolgen hat (Ziff. 2.1.2.2.3 AUB 99, 2008, 2010 und 2014).

Mitwirkungsregelung (Partialkausalität)

Der Unfallversicherer versichert grundsätzlich nur die reinen Unfallfolgen. Hat z. B. eine Zuckerkrankheit an der Erstgesundheitsschädigung und/oder ihren Folgen mitgewirkt, ist der Unfallversicherer für den Mitwirkungsanteil nicht leistungspflichtig. Ebenso wie zum Abzug der Vorinvalidität zeigte sich auch hier das Problem, dass bei progressiven Invaliditätsstaffeln der Abzug des Mitwirkungsanteils unter dem Geltungsbereich der AUB 88/94 von der „Invaliditätsleistung“ zu unerwünschten Ergebnissen führte. Die AUB 99 ff. (Ziff. 3) sehen deshalb ausdrücklich die Kürzung des „Invaliditätsgrades“ um den Mitwirkungsanteil vor:
Ziff. 3 AUB 99:
„Als Unfallversicherer leisten wir für Unfallfolgen. Haben Krankheiten oder Gebrechen bei der durch ein Unfallereignis verursachten Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, mindert sich
  • im Falle einer Invalidität der Prozentsatz des Invaliditätsgrades,
  • im Todesfall und, soweit nichts anderes bestimmt ist, in allen anderen Fällen die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens.
Beträgt der Mitwirkungsanteil weniger als 25 %, unterbleibt jedoch die Minderung.“
Beispiel
Ein Versicherter tritt in eine Glasscherbe. Er zieht sich eine offene Großzehenverletzung zu. Es kommt zur Infektion, die wegen der Zuckerkrankheit zur Großzehenamputation führt.
Die Mitwirkung von Krankheiten am Unfallereignis, also der Tritt in die Glasscherbe, führt nicht zur Kürzung des Invaliditätsgrades. Die Mitwirkung ist jedoch zu berücksichtigen bei der „Gesundheitsschädigung oder deren Folgen“. Vorliegend steht zur Diskussion die Mitwirkung an den Folgen. Der Verlust der Großzehe ist mit einer Invalidität nach der Gliedertaxe von 5 % (§ 7 I (2) a AUB 88/94 bzw. Ziff. 2.1.2.2.1 AUB 99 ff.) zu bemessen. Die Mitwirkung der Zuckerkrankheit an den Folgen liegt bei mindestens 80 %. Der Anspruch des Versicherten beziffert sich also auf 20 % von 1/1 Großzehenwert.
Als Vorinvalidität besteht als Folge der Zuckerkrankheit – neurologisch gesichert – eine Polyneuropathie mit erheblichen Gefühlsstörungen im Bereich der Großzehe. Diese Vorinvalidität ist zunächst in Abzug zu bringen, ehe die Kürzung des Invaliditätsgrades wegen der Mitwirkung der Zuckerkrankheit erfolgt.

Fristen

Die Versicherungsbedingungen sehen als Voraussetzung für einen Anspruch auf Invaliditätsleistung vor, dass die dauernde Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit als Folge des Unfalls
  • innerhalb eines Jahres (§ 7 I. (1) AUB 88, 94, Ziff. 2.1.1.1 AUB 99, 2008, 2010) bzw. innerhalb von 15 Monaten (Ziff. 2.1.1.2 AUB 2014) eingetreten ist (Invaliditätseintrittsfrist, Anspruchsvoraussetzung) sowie
  • innerhalb von 15 Monaten (§ 7 I. (1) AUB 88, 94, Ziff. 2.1.1.1 AUB 99, 2008, 2010, Ziff. 2.1.1.2 AUB 2014) schriftlich ärztlich festgestellt wird (Anspruchsvoraussetzung) und
  • von der versicherten Person innerhalb von 15 Monaten (§ 7 I. (1) AUB 88, 94, Ziff. 2.1.1.1 AUB 99, 2008, 2010, Ziff. 2.1.1.3 AUB 2014) geltend gemacht wird (Ausschlussfrist). Das Versäumen dieser Frist kann – im Gegensatz zu einem Versäumen der Fristen der Anspruchsvoraussetzungen – entschuldigt werden (OLG Koblenz, Urteil vom 26.11.1999 – 10 U 2072/98).
Diese Regelung bezweckt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, „regelmäßig schwer aufklärbare und unübersehbare Spätschäden“ vom Versicherungsschutz auszunehmen (BGH, Urteil vom 28.06.1978 – IV ZR 7/77). Eine dauernde Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit, die erst nach Ablauf eines Jahres bzw. nach Ablauf von 15 Monaten seit dem Unfall eintritt oder erkennbar wird, begründet keinen Anspruch auf eine Invaliditätsleistung.
Zu der Art und Weise der ärztlichen Feststellung sind zahlreiche Entscheidungen ergangen:
  • Für die ärztliche Feststellung (Anspruchsvoraussetzung) reicht die Mitteilung von Befunden nicht aus. Vielmehr muss zu erkennen sein, dass der Arzt aufgrund der Befunde auf eine Invalidität auf Dauer schließt (OLG Frankfurt, Urteil vom 16.04.1992 – 16 U 107/91).
  • Die ärztliche Feststellung wahrt die Frist nur für solche Unfallfolgen, die im jeweils ausdrücklich benannten Verletzungsbereich liegen (OLG Hamm, Beschluss vom 05.01.2000 – 20 W 16/99). Fristgerecht ärztlich festgestellt worden war auf unfallchirurgischem Fachgebiet eine Gesundheitsschädigung im Bereich der Wirbelsäule. Nach Fristablauf und deshalb als Unfallfolge ausgeschlossen wurden Harnentleerungsstörungen festgestellt.
  • Die ärztliche Feststellung muss schriftlich erfolgen (Ziff. 2.1.1.2 AUB 2014). Damit ist nicht gemeint die Schriftform des § 126 BGB. Die Schriftform dient Beweiszwecken. Voraussetzung ist nicht, dass sie an den Versicherer adressiert ist oder diesem innerhalb der Frist zugeht. Die ärztliche Feststellung kann also im Operationsbericht, in der Krankenakte oder in einem Bericht – z. B. an eine Berufsgenossenschaft – enthalten sein. Sie kann jedoch nicht nachgeholt werden (BGH; Urteil vom 16.12.1987 – IVa ZR 195/86).
  • Der Grad der Invalidität muss nicht benannt werden (BGH, Urteil vom 06.11.1996 – IV ZR 215/95).
Eine Ausnahme von jeder Fristenregelung ist jedoch dann gegeben, wenn der Versicherer den Anschein erweckt, er werde sich nicht auf die Fristen berufen – z. B. wenn der Versicherer nach Fristablauf eine gutachtliche Untersuchung veranlasst.

Fälligkeit der Invaliditätsleistung

Die Invaliditätsleistung wird in aller Regel spätestens zum Ende des 3. Unfalljahres – bei Kindern kann die Frist verlängert werden – fällig (§ 188 VVG). Bis zu diesem Zeitpunkt kann, wenn eine Besserung oder Verschlechterung der Gesundheitsschädigung dies erfordert, die Neubemessung des Grades der Invalidität – nach der Erstbemessung – von beiden Seiten verlangt werden (§ 11 IV AUB 88, 94 und Ziff. 9.4 AUB 99, 2008, 2010, 2014).
Eine Neubemessung setzt eine Erstbemessung voraus. Diese ist in aller Regel 1–1,5 Jahre nach dem Unfall möglich. Lange Zeit war streitig, auf welchen Zeitpunkt sich die in einem Rechtsstreit zu klärende Erstbemessung zu beziehen hat. Abzustellen ist auf die Invaliditätseintrittsfrist, also 1 Jahr (§ 7 I. (1) AUB 88, 94, Ziff. 2.1.1.1 AUB 99, 2008, 2010) bzw. 15 Monate (Ziff. 2.1.1.2 AUB 2014) nach dem Unfall (BGH, Urteil vom 18.11.2015 – IV ZR 124/15). Auf diesen Zeitpunkt ist also auch für die Prognose der Unfallfolgen abzustellen, wobei alle Erkenntnisse zu den Prognosegrundlagen, die zum Zeitpunkt des Ablaufs der Invaliditätseintrittspflicht schon im Grundsatz vorlagen, verwertet werden dürfen, jedoch spätere nicht vorhersehbare Entwicklungen, die die Prognose beeinflussen würden, nicht berücksichtigt werden können.

Darlegungs- und Beweislast

Der Versicherte hat alle Anspruchsvoraussetzungen vorzutragen (darzulegen) und zu beweisen und zwar im Vollbeweis (§ 286 ZPO).
BGH, Urteil vom 17.10.2001 – IV ZR 205/00, und BGH, Urteil vom 12.11.1997 – IV ZR 191/96:
„Die gesundheitliche Beeinträchtigung als solche und die Frage ihrer Dauerhaftigkeit unterliegen uneingeschränkt dem Beweismaß des § 286 ZPO“.
„In diesem Zusammenhang weist der Senat vorsorglich darauf hin, daß dem Kläger entgegen der von der Revision vertretenen Ansicht die Beweiserleichterung des § 287 ZPO nur für die Frage der Kausalität zwischen der unstreitigen unfallbedingten Gesundheitsbeschädigung und einer bewiesenen Invalidität zugute kommt“. „Die konkrete Ausgestaltung des Gesundheitsschadens und dessen Dauerhaftigkeit muß der Versicherungsnehmer dagegen nach § 286 ZPO beweisen. Erst danach kann hinsichtlich der Auswirkungen dieses Dauerschadens auf die Gebrauchsfähigkeit des Daumens des Klägers eine Schätzung des Grades in Betracht kommen.“
Im Einzelnen sind also im Vollbeweis zu sichern:
  • das Unfallereignis,
  • die Einhaltung der Invaliditätseintrittsfrist,
  • die fristgerechte ärztliche Feststellung der Invalidität,
  • die Invalidität, wobei zu den dadurch bedingten Funktionsbeeinträchtigungen Beweiserleichterungen (§ 287 ZPO) greifen und
  • deren Verursachung durch das äußere Ereignis (Kausalität).
Die Prognose (auf Dauer), d. h. die voraussichtlich weitere Entwicklung der Unfallfolgen, hat auch der Versicherte zu beweisen; insofern kann er sich jedoch auf Beweiserleichterungen (§ 287 ZPO) berufen.
Darlegungspflichtig ist der Versicherte außerdem für alle Tatsachen, die nur ihm bekannt sein können, z. B. für Vorerkrankungen, vorbehandelnde oder behandelnde Ärzte. Er ist verpflichtet durch die Entbindung von der Schweigepflicht und durch entsprechende Angaben dem Versicherer zu ermöglichen, z. B. ein Vorerkrankungsverzeichnis beizuziehen sowie ärztliche Auskünfte zu erhalten (Ziff. 7 AUB 2014).
Der Versicherer ist im Vollbeweis (§ 286 ZPO) beweispflichtig für
  • die Vorinvalidität,
  • die Versäumung der Ausschlussfrist,
  • die Mitwirkung, wobei für die 25 % übersteigende Mitwirkung Beweiserleichterungen (§ 287 ZPO) greifen. Begründet wird dies damit, dass die Mitwirkung als solche zur Leistungsminderung führe, deshalb bis zu 25 %, dem Punkt zu dem die Mitwirkung erstmals Auswirkungen hat, der Vollbeweis (§ 286 ZPO) anzuwenden sei. Die Höhe der Mitwirkung unterliege dann Beweiserleichterungen (BGH, Urteil vom 23.11.2011 – IV ZR 70/11).
Jeder Vertragspartner hat – grob gesagt – alle die Umstände zu beweisen, auf die er sich zu seinem Vorteil beruft.

Sonstige Leistungen

Die Invaliditätsleistung steht bei der ärztlichen Begutachtung für die Private Unfallversicherung im Vordergrund. Daneben sind – in Abhängigkeit von den jeweils vereinbarten Leistungen – zu benennen:
  • Die Übergangsleistung, die zum Ziel hat, bei schweren Unfallverletzungen die Zeit bis zur Zahlung der Invaliditätsleistung zu überbrücken. Nach § 7 II AUB 88, 94 ist eine unfallbedingte Beeinträchtigung nach Ablauf von 6 Monaten von „mehr als 50 %“ und zwar ununterbrochen vom Unfalltag erforderlich und zwar unter Beachtung der Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen, ab den AUB 99 wird eine Invalidität von „mindestens 50 %“ verlangt.
  • Die Tagegeldleistung zum Ausgleich von unfallbedingten Einkommenseinbußen, abgestuft nach dem Grad der Beeinträchtigung. Auch bei der Tagegeldleistung ist die Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen zu berücksichtigen.
  • Das Krankenhaustagegeld.
  • Die Todesfallleistung.

Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen innerhalb und außerhalb der Gliedertaxe

Die nachfolgenden Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen im Bereich von Hand und Arm bzw. Zehen, Fuß und Bein sowie die Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen im Bereich der Finger und für Unfallfolgen außerhalb der Gliedertaxe wurden über einen langwierigen Abstimmungsprozess im Auftrag des Arbeitskreises „Sozialmedizin und Begutachtungsfragen“ der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) von F. Schröter und E. Ludolph erarbeitet. Sie wurden den hierfür zuständigen Gremien der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) vorgestellt. Die von diesen Gremien ergangenen Anregungen wurden aufgegriffen, sodass die vorliegende Fassung von den beiden zuständigen Fachgesellschaften mitgetragen wird und seit ihrer erstmaligen Veröffentlichung im März 2009 anzuwenden ist (konsentierte Meinung).
Im Frühjahr 2012 wurden die Bemessungsempfehlungen überprüft, sprachlich gering modifiziert sowie inhaltlich zu den „Endoprothesen“ und zum „oberen Sprunggelenk“ gering geändert und ergänzt durch Empfehlungen zur Bemessung von Endoprothesen kleiner Gelenke und 2016 durch Empfehlungen zur Bemessung von unfallbedingten Funktionseinbußen im Bereich des Schultergelenks außerhalb der Gliedertaxe als Konsequenz aus dem BGH-Urteil vom 01.04.2015 (Az. IV ZR 104/13), wonach die Schulter ausgehend von Ziff. 2.1.2.2.1 AUB 2008, 2010, 2014 („Arm 70 %“) vereinbarungsgemäß nicht zum Arm gehöre. Diese Ergänzung hat dazu geführt, dass zwar die Konsequenzen dieser Rechtsprechung als unsinnig erkannt wurden, diese jedoch nicht direkt korrigiert wurde, sondern indirekt über sog. Wertungswidersprüche (BGH, Beschluss vom 27.09.2017 – IV ZR 511/15), die zwischen einer Bemessung innerhalb und außerhalb der Gliedertaxe vermieden werden müssten. Diese „Wertungswidersprüche“ sind zwar – dies wurde nicht erkannt – den AUB immanent. Dennoch wurde mit dieser Begründung die Rückkehr zur Bemessung analog der Gliedertaxe möglich gemacht, sodass auch nur diese Tabelle wiedergegeben wird (siehe dazu Tabelle 1).
Tab. 1
Bewegungsstörung im Schultergelenk
Die Bemessung orientiert sich an der Funktionsstörung in der Hauptbewegungsebene = Armvorhebung
Normal: 160°
Armhebung bis 120°
2/20 A
Armhebung bis 90°
4/20 A
Armhebung bis 60°
6/20 A
In der Regel werden dann ähnliche Bewegungsstörungen in der Seithebung miterfasst
Zusätzliche bedeutsame Rotationseinschränkungen (20° und mehr) können die Bemessung um 1/20 Armwert erhöhen
Die nachfolgenden Empfehlungen für Unfallfolgen innerhalb und außerhalb der Gliedertaxe, die laufend überprüft und überarbeitet werden, lassen dennoch Raum für individuelle Bemessungen für Befundsituationen, die zwischen den tabellarischen Vorgaben einzuordnen sind. Hierin liegt auch der Grund, dass nur wenige Vorgaben für jedes Gelenk in den Tabellen zu finden sind, die in ihrer Abstufung – jeweils gemessen an der Vollversteifung – auf den ersten Blick ihre Plausibilität erkennen lassen.
Der ärztliche Gutachter ist aufgerufen, in Orientierung an diesen Vorgaben in jedem Einzelfall eine plausibel begründete Invaliditätsbemessung abzugeben, abgestellt auf die von ihm gesicherten Einzelbefunde.

Aufbau und Systematik der Bemessungsempfehlungen innerhalb der Gliedertaxe

Die Systematik knüpft an verschiedene Verletzungsarten an, die in unterschiedlicher Weise Funktionseinbußen hinterlassen können. Zu unterscheiden sind grundsätzlich Verletzungen ohne und mit Gelenkbeteiligung.

Schaftverletzungen

Schaftverletzungen an den langen Röhrenknochen der Arme und Beine ohne Gelenkbeteiligung können als Dauerfolgen hinterlassen:
  • Achsabweichungen
    • Varus, Valgus, Rekurvation, Antekurvation
    • Innenrotation, Außenrotation
    • Verkürzung, Verlängerung
  • Pseudarthrosen
    • stabil
    • instabil
Während die Achsabweichungen relevanter Ausprägung als Präarthrosen anzusehen sind, bewirken eine relevante Verkürzung/Verlängerung (besonders im Bereich der unteren Gliedmaßen) wie auch eine Pseudarthrose eine statische wie dynamische Belastungsminderung, die angemessen bei der Bemessung der Unfallfolgen zu berücksichtigen ist, in der Mehrzahl der Fälle aber von nachhaltigeren Unfallfolgen, ausgehend von Gelenkbeteiligungen, überlagert wird.

Weichteilverletzungen

Weichteilverletzungen können als Dauerfolgen hinterlassen:
  • Narben
  • (Muskel-)Substanzverluste
  • Neurogen bedingte Funktionsstörungen
  • Durchblutungsstörungen
Narben haben nur selten funktionell nachteilige Auswirkungen, sind somit in der Regel für die Invaliditätsbemessung nicht bedeutsam.
Besonders die muskulären Substanzverluste und die neurogenen Störungen bewirken Kraftdefizite und – im Bereich der unteren Gliedmaßen – Störungen der Balancehaltung mit negativer Beeinflussung des Gehvermögens. Durchblutungsstörungen können u. U. nachhaltig die trophische Leistungsfähigkeit des Hautmantels beeinträchtigen und zu konditionellen Problemen führen.
Funktionsstörungen infolge einer Nervenverletzung mit neurogenem Defizit fallen in die Kompetenz eines nervenärztlichen Gutachters. Stehen neurologische Unfallfolgen im Vordergrund, wird der maßgebliche Anteil der Invaliditätsbemessung vom Neurologen vorzunehmen sein, wobei insofern zwar darauf zu achten ist, dass vergleichbare Funktionseinbußen auf unfallchirurgisch-orthopädischem und neurologischem Fachgebiet konform bemessen werden. Auf die tabellarischen Bemessungsempfehlungen von Widder und Gaidzik (2018) darf verwiesen werden, wobei diese von neurologischer Seite erarbeiteten Werte noch abgeglichen werden müssen mit gleichen Funktionseinbußen auf unfallchirurgisch-orthopädischem Gebiet. Diese gemeinsame Überarbeitung steht derzeit noch aus.

Gelenkverletzungen

Gelenkverletzungen können unterschiedliche Strukturen betreffen:
  • Knochen
  • Knorpel (inklusive Menisken)
  • Bänder
Daraus resultierende Dauerfolgen können sich manifestieren als:
  • Knorpelschaden
  • Gelenkdeformität
  • Instabilität
  • Veränderte Gelenkmechanik
Vorstellbar sind verschiedene Kombinationen der einzelnen Komponenten. Alle Schäden können potenziell eine präarthrotische Bedeutung haben. In der Begutachtung werden sich diese Schäden vordergründig mit Funktions- bzw. Bewegungsstörungen und einer eventuellen Instabilität bemerkbar machen. Diesen Befunden kommt insoweit eine besondere Bedeutung für die tabellarischen Bemessungen der Unfallfolgen zu.

Vorgehen bei der Begutachtung

Für die praktische Begutachtung gilt folgendes Vorgehen:
Erster Schritt: Befundsicherung
  • Klinisch umfassend
  • Soweit erforderlich: bildgebend
Zur Objektivierung von Bewegungsstörungen ist neben einer aktiven Funktionsprüfung eine – geführte – Gegenprüfung unter manueller Entlastung durch den Untersucher erforderlich, die eine bewusstseinsnahe Beeinflussung der aktiven Beweglichkeit durch den Probanden unschwer erkennen lässt: Die so gewonnenen Funktionsdaten repräsentieren eher den objektiven Befund als allein das Ergebnis der aktiven Funktionsprüfung. Die geführt überprüften Bewegungen sind in die Messblätter einzutragen und der Bemessung zugrunde zu legen – nicht die aktiv vorgeführten.
Zweiter Schritt: Befunddifferenzierung
  • Was ist eindeutig Unfallfolge?
  • Was ist eindeutig unfallunabhängig?
  • Was sind fragliche Unfallfolgen – was spricht für oder gegen einen Zusammenhang?
Ist der Unfall nicht allein ursächlich, müssen Vorinvalidität und unfallfremde Mitwirkung berücksichtigt werden.
Dritter Schritt: Invaliditätsbemessung
  • Anhand sicherer unfallbedingter Befundkriterien
  • Nicht abgestellt auf Subjektivismen
  • Soweit erforderlich: Bemessung der Vorinvalidität
Nach Objektivierung der Befunde ist zu klären, welche der verbliebenen Unfallresiduen am bedeutsamsten sind:
  • Funktion/Stabilität?
  • Achsabweichung/Längendifferenz?
  • Gelenkumformung?
  • Neurogenes Defizit?
Die Entscheidung orientiert sich daran, welche Komponente der Unfallfolgen bei isolierter Betrachtung die höchste Invaliditätsbemessung (siehe nachfolgende Tabellen) nach sich zieht.
In einem weiteren Schritt ist zu prüfen, ob anderweitige Anteile der Unfallfolgen noch zusätzlich nachteilige Auswirkungen auf die Funktion der betroffenen Extremität haben.
Ist dies nicht der Fall, entspricht die Eingangsbemessung allein der unfallbedingten Invalidität.
Sind zusätzlich nachteilige Auswirkungen zu bestätigen, ist zu hinterfragen, ob daraus eine Erhöhung der Eingangsbemessung in einer subsumierenden Gesamtbetrachtung resultieren kann.
Vorgaben für die Bemessung nachrangiger Befundkriterien:
  • 1/20 bleibt ohne Einfluss auf die „Gesamtinvalidität“.
  • 2/20 erlauben eine Erhöhung der Basisbemessung um 1/20
  • 4/20 erlauben eine Erhöhung der Basisbemessung um 2/20.
In jedem Einzelfall sollte der Abwägungsprozess hin zur Gesamtinvaliditätsbemessung transparent gestaltet werden und Plausibilität vermitteln.
Für den Gebrauch der nachfolgenden Tabellen und dort benutzten Abkürzungen hier die zugehörigen Legenden:
A
Armwert
B
Beinwert
D
Daumenwert
F
Fußwert
Fi
Fingerwert
Gz
Großzehenwert
H
Handwert
Z
Zehenwert

Bemessungsmaßstäbe

Prinzipiell stellt sich die Frage, ob eine Invaliditätsbemessung nach dem Arm-, Hand- bzw. Fingerwert, im Beinbereich nach dem Bein-, Fuß- bzw. Zehenwert vorzunehmen ist. Hierbei gilt das Prinzip, dass nicht die Lokalisation der primären Gesundheitsschädigung maßgeblich ist, sondern die Lokalisation der Manifestation der verbliebenen unfallbedingten Funktionsstörung. Dies lässt sich erläutern am Beispiel einer – nur – verbliebenen Unterarmdrehstörung nach einem Unterarmschaftbruch: Die Lokalisation liegt zwar im Armbereich, während die Manifestation dieser Funktionsstörung ausschließlich im Handbereich zu erkennen ist, da nur der Handgebrauch durch diese Funktionsstörung beeinträchtigt wird. Konsequenterweise ist bei einer ausschließlichen Drehstörung im Unterarmbereich der Handwert bei der Bemessung der Invalidität zugrunde zu legen. Nur dann, wenn mit der Drehstörung auch eine Funktionsstörung im Ellenbogengelenksbereich – oder eine andere Funktionsstörung im Armbereich – verknüpft ist, muss der Armwert zugrunde gelegt werden.
Die Bewegungseinschränkung in einem großen Arm- und Beingelenk ist stets so zu bemessen, dass sie unterhalb der Ebene für die Vollversteifungen der genannten Gelenketagen zu liegen kommt. Bei den Vollversteifungen gilt, dass die jeweiligen Mittelgelenke (Knie- und Ellenbogengelenk) wegen der fehlenden Kompensationsmöglichkeiten die ausgeprägtesten Beeinträchtigungen für die betroffene Person mit sich bringen, die peripheren Gelenke (Sprung- und Handgelenk) dagegen kaum wesentliche Probleme bereiten. Dementsprechend sind Vollversteifungen – unter ausschließlicher Berücksichtigung anatomisch-funktioneller Bemessungskriterien – in gebrauchsgünstiger Stellung wie folgt zu bemessen:
Hüftgelenk/Schultergelenk
8/20 B – A
Kniegelenk/Ellenbogengelenk
10/20 B – A
Am Ellenbogengelenk wird dabei die Vollversteifung nicht nur in der Hauptbewegungsebene, sondern auch bei der Unterarmdrehung mit erfasst.
Da Vollversteifungen in gebrauchsgünstiger Stellung am Hand- und Fußgelenk funktionell nur Beeinträchtigungen für den Hand- und Fußgebrauch mit sich bringen, zudem noch der Handverlust (1/1 Handwert = 55 % der Versicherungssumme) in der prozentualen Bemessung nach der Versicherungssumme deutlich höher bewertet wird als der Fußverlust (1/1 Fußwert = 40 % der Versicherungssumme), ergeben sich für solche Ausheilungsergebnisse unterschiedliche Messgrößen für die Vollversteifungen:
Handgelenk
6/20 H
Oberes Sprunggelenk
7/20 F
Unteres Sprunggelenk
5/20 F
Bei den sehr seltenen Vollversteifungen in gebrauchsungünstiger Stellung kommen höhere Bemessungen mit einem Zuschlag von 1/20 bis maximal 2/20 Bein-/Arm-/Fuß-/Handwert in Betracht.
Bei einer „schmerzhaften“ Bewegungsstörung gilt der Grundsatz, dass die subjektiv angegebene Schmerzhaftigkeit sich in objektiven Befunden niederschlagen muss, um Auswirkungen auf die Invaliditätsbemessung zu haben.
Grundsätzlich gilt, dass zunächst eine Bemessung nach dem objektiven Funktionsverlust (siehe nachfolgende Tabellen) zu erfolgen hat. Eine Erhöhung begründet mit „Schmerzen“ kommt nur in Betracht bei
  • schonungsbedingtem Muskelminus oberhalb der Messfehlerbreite
  • auffälliger Minderbeschwielung
mit einem Aufschlag von 1/20 bis maximal 2/20 Armwert – Handwert – Beinwert – Fußwert.

Verletzungsfolgen an der oberen Gliedmaße (Arm, Hand)

Die „normalen“ Bewegungsausschläge, wie sie in den folgenden Tabellen benannt sind, orientieren sich strikt an den zur Neutral-Null-Methode benannten Werten, wie sie auch in den Skizzen der normierten Messblätter zu finden sind (Tab. 1 und 2).
Tab. 2
Schultergürtel und Schultergelenk
Schultergelenkruine nach Kopfnekrose/Infekt
5/10 A
Instabilität des Schulterhauptgelenks
 • Klinisch nachweisbar ohne Rezidivluxation
 • Mit Rezidivluxation (wenn OP-bedürftig, Bemessung erst am Ende des 3. Unfalljahres)
1/20 A
3/20 A
Verbliebene Schultereckgelenksinstabilität
 • Leichte Instabilität (Tossy II)
 • Instabilität (Tossy III)
1/20 A
2/20 A
Verformung/Subluxation im Schlüsselbein-Brustbein-gelenk mit Symptomatik
1/20 A
Vollständiger Funktionsverlust der langen Bizepssehne mit Kraftminderung bei der Seitwärtshebung des Armes im Schultergelenk, bei der Beugung im Ellenbogengelenk und bei der Auswärtsdrehung des Unterarms
1/20 A
Vollständiger Funktionsverlust der peripheren (distalen) Bizepssehne
2/20 A
Bei einer stattgehabten Tossy-I-Verletzung kann bei freier Schultergelenksbeweglichkeit keine messbare Invalidität begründet werden. Bei gleichzeitigen Bewegungsstörungen im Schultergelenk ist die daraus hergeleitete Bemessung der Invalidität maßgeblich.
Wenn – entsprechend der im Abschn. 5.2 diskutierten höchstrichterlichen Rechtsprechung – die Bemessung des Schultergelenks außerhalb der Gliedertaxe erforderlich wird, wird auf die dazu vorhandene Literatur verwiesen (Ludolph 2018). Dies gilt auch für die dann erforderliche Höherbemessung des Ellenbogengelenks, da die Schulter dann nicht mehr dem Arm (70 % der Versicherungssumme) zuzuordnen ist.
Tab. 3
Bewegungsstörung im Ellenbogengelenk
Die Bemessung orientiert sich an der Funktionsstörung Streckung/Beugung und an der Unterarmdrehfähigkeit
Normal:
 • Streckung/Beugung 10/0/135
 • Unterarmdrehung (auswärts/einwärts) 85/0/85
Streckung/Beugung 0/30/120 und
 • Unterarmdrehung frei
 • Unterarmdrehung 45/0/45
3/20 A
5/20 A
Streckung/Beugung 0/30/90 und
 • Unterarmdrehung frei
 • Unterarmdrehung 45/0/45
5/20 A
7/20 A
Nur Verlust der kompletten Unterarmdrehung
6/20 H
Beeinträchtigt nur Handgebrauch!
Tab. 4
Pseudarthrosen: Ober- und Unterarm
Oberarm-Pseudarthrose
 • Straff und belastbar (nicht OP-bedürftig)
 • Instabil, damit orthesenpflichtig (OP-bedürftig)
1/10 A
3/10 A
Olecranon-Pseudarthrose
 • Straff und belastbar
 • Mit Streckdefizit
1/20 A
2/20 A
Unterarm-Pseudarthrose
 • Straff und belastbar, Elle oder Speiche (nicht OP-bedürftig)
 • Straff und belastbar, Elle und Speiche (nicht OP-bedürftig)
 • Instabil und orthesenpflichtig, Elle oder Speiche (OP-bedürftig)
 • Instabil und orthesenpflichtig, Elle und Speiche (OP-bedürftig)
1/10 A
2/10 A
3/10 A
4/10 A
Tab. 5
Bewegungsstörung im Handgelenk (HG)
Bemessung orientiert sich an der Funktionsstörung im Handgelenk und an der Unterarmdrehfähigkeit
Normal:
 • Unterarmdrehung (auswärts/einwärts) 85/0/85
 • Handrückenwärts/hohlhandwärts 50/0/60
 • Speichenwärts/ellenwärts 25/0/35
Bewegungseinschränkung Handgelenk konzentrisch zu 1/4
 • Unterarmdrehung frei
 • Unterarmdrehung 45/0/45
2/20 H
4/20 H
Bewegungseinschränkung Handgelenk konzentrisch zur Hälfte
 • Unterarmdrehung frei
 • Unterarmdrehung 45/0/45
3/20 H
5/20 H
Tab. 6
Pseudarthrose, Nekrose: Hände
Kahnbein-Pseudarthrose ohne Bewegungseinschränkung
 • Straff und belastbar (nicht OP-bedürftig)
 • Instabil und orthesenpflichtig (OP-bedürftig)
1/10 H
2/10 H
Mondbeinnekrose
 • Abhängig vom Funktionsstatus und Prognose
… H
 • Karpaler Kollaps
5/10 H

Verletzungsfolgen an den Fingern

Bei Fingerverletzungen ist von den Werten der Gliedertaxe für die einzelnen Finger auszugehen (BGH, Urteil vom 30.05.1990 – IV ZR 143/89). Die häufig von ärztlicher Seite vertretene Auffassung, durch die Verletzung insbesondere mehrerer Finger werde auch die Funktionsfähigkeit der Hand beeinträchtigt, ist zwar zutreffend, rechtfertigt aber nicht, den Invaliditätsgrad vom „Handwert“ ausgehend zu bemessen. Denn die Folgen der Beeinträchtigung eines distalen (peripheren) Gliedmaßenabschnitts für die Funktionsfähigkeit der proximalen (rumpfnahen) „Funktionseinheit“ sind nach der oben erwähnten Entscheidung des Bundesgerichtshofs in den Werten der Gliedertaxe bereits berücksichtigt. So sind beispielsweise mit dem Prozentsatz für den Verlust eines Daumens (Invalidität 20 % – Musterbedingungen) die Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Hand bereits abgegolten, sodass eine darüber hinausgehende, auf den „Handwert“ abgestellte Bemessung nicht in Betracht kommt. Das Gleiche gilt bei völliger oder teilweiser Funktionsbeeinträchtigung eines oder mehrerer Finger. Der „Handwert“ ist nur dann zugrunde zu legen, wenn die Unfallfolgen zusätzlich zu Funktionseinbußen an der Mittelhand und/oder im Handgelenk geführt haben.
Im Falle des Teilverlustes eines oder mehrerer Finger ist für die Bemessung des Invaliditätsgrades nicht allein die Größe des verlorenen Teils maßgebend. Ausschlaggebend ist vielmehr, in welchem Umfang die Funktionsfähigkeit gemindert ist. Da es für das Fühlen und Greifen in besonderem Maße auf die Fingerendglieder ankommt, geht der Grad der Funktionsbeeinträchtigung über den reinen Substanzverlust hinaus (OLG Hamm, Urteil vom 20.03.1959 – 7 U 241/58).
Die Bemessung der Invalidität nach Fingerverletzungen orientiert sich an klar umrissenen Unfallfolgen. Dies sind der Fingerverlust, der Fingerteilverlust, die Gelenkversteifung und der Ausfall peripherer Nerven. Für die Beurteilung des Grades der dauernden Funktionsbeeinträchtigung gelten die Bemessungsempfehlungen entsprechend den Tab. 710.
Tab. 7
Bewegungsstörungen der Fingergelenke
Die Bemessungsempfehlungen bei Versteifung der Einzelgelenke beziehen sich auf die Versteifung in Gebrauchs-/Funktionsstellung bei freier Beweglichkeit der Nachbargelenke
Versteifung des Daumens
 • Im Sattelgelenk
 • Im Grundgelenk
 • Im Endgelenk
 • Im Sattel- und Grundgelenk
 • Im Grund- und Endgelenk
5/10 D
2/10 D
2/10 D
6/10 D
4/10 D
Versteifung der Finger II–V
 • Im Grundgelenk
 • Im Mittelgelenk
 • Im Endgelenk
 • Im Grund- und Mittelgelenk
 • Im Mittel- und Endgelenk
3/10 Fi
4/10 Fi
2/10 Fi
6/10 Fi
5/10 Fi
Tab. 8
Finger: Amputationsfolgen
Der Verlust der Sensorik der Fingerbeere bewirkt beim Verlust des jeweiligen Endgliedes die höhere Bemessung im Vergleich zum zusätzlichen Verlust des Mittel- oder Grundgliedes
Teilverlust des Daumens
 • Im Endgelenk
 • Bis Mitte Grundglied
6/10 D
8/10 D
Verlust des Zeigefingers mit Mittelhandköpfchen (Adelmann)
2/10 H
Verlust des Kleinfingers mit Mittelhandköpfchen
1/10 H
Teilverlust der Finger II–V
 • Im Endgelenk
 • Im Mittelgelenk
4/10 Fi
7/10 Fi
Eine ungünstige Weichteildeckung des Stumpfes oder eine Neurombildung rechtfertigen eine um 1/10 höhere Bemessung
Tab. 9
Finger: Sehnen, Bänder
Streckdefizit von mehr als 10° am DIP-Gelenk (Endgelenk) nach Strecksehnenabriss
1/10 Fi
Ulnare (ellenwärtige) Seitenbandinstabilität am Daumengrundgelenk
2/10 D
Tab. 10
Sensibilitätsstörungen der Fingerbeeren durch Nervenschäden (in Orientierung an Widder und Gaidzik 2018) (volar = beugeseitig)
Am Daumen
 • Volar: nur speichenseitig
 • Volar: nur ellenseitig
 • Volar: ellen- und speichenseitig
2/10 D
2/10 D
4/10 D
An den Fingern II–V
 • Volar: einseitig
 • Volar: beidseitig
2/10 Fi
4/10 Fi
Betrifft die Sensibilitätsstörung nicht nur die Fingerbeere, sondern den ganzen Finger, erlaubt dies eine um jeweils 1/10 höhere Bemessung nach Daumen- bzw. Fingerwert

Verletzungsfolgen an der unteren Gliedmaße (Bein, Fuß)

Tab. 11, 12 und 13.
Tab. 11
Bewegungsstörung im Hüftgelenk
Bemessung orientiert sich an der Funktionsstörung in der Hauptbewegungsebene
Normal: Streckung/Beugung 10/0/130
Streckung/Beugung 0/0/90
Streckung/Beugung 0/0/60
Streckung/Beugung 0/0/30
2/20 B
4/20 B
6/20 B
Zusätzliches Streckdefizit
 • 10–20°
 • 30° (und mehr)
Erhöhung um 1/20 B
Erhöhung um 2/20 B
Analog sind auch Abduktions-, Adduktions- und Rotationskontrakturen zu bewerten
Tab. 12
Pseudarthrose: Hüftkopf
Hüftgelenkverlust (Girdlestone)
7/10 B
 
 • Kleines Kopfareal, geringe Belastungsstörung, freie Funktion
2/10 B
 • Prothesenpflichtig: gemäß Funktionsstatus + Prothesenzuschlag
… B
Bei Bewegungsstörung ist diese für die Invaliditätsbemessung maßgeblich
Pseudarthrosen im Ober- und Unterschenkelbereich bedürfen regelhaft der operativen Sanierung, daher keine gesonderten Bemessungsvorgaben
Tab. 13
Bewegungsstörung im Kniegelenk
Bemessung orientiert sich an der Funktionsstörung bei Streckung und Beugung
Normal: Streckung/Beugung 5/0/130
Streckung frei, Beugung bis 90°
Streckung frei, Beugung bis 60°
Streckung frei, Beugung bis 30°
2/20 B
4/20 B
6/20 B
Zusätzliches Streckdefizit
 • Bis 10°
 • Bis 20°
 • Über 20°
Erhöhung um 1/20 B
Erhöhung um 5/20 B
Erhöhung um 7/20 B
Sofern eine Gelenkinstabilität im Vordergrund steht, lässt sich die Bedeutung der Instabilität am leichtesten für das Kniegelenk in eine Tabelle der Invaliditätsbemessungen einbringen, was analog auch auf andere Gelenke übertragen werden kann (Tab. 14).
Tab. 14
Instabilität des Kniegelenks
Bemessung orientiert sich am Ausmaß der Instabilität und ihrer Kompensierbarkeit
Leichtgradig (+ nur ein Band)
Leichtgradig (+ kombiniert)
Mittelgradig (++ nur ein Band)
Mittelgradig (++ kombiniert)
Hochgradig (+++ nur ein Band)
1/20 B
3/20 B
3/20 B
6/20 B
5/20 B
Erhöhung bei ungenügender/fehlender muskulärer Kompensation
1/20 B
Hochgradig (+++ kombiniert)
10/20 B
Schlotterknie immer orthesenpflichtig, weil muskulär nicht kompensierbar
Die Befunderhebung und -dokumentation erfolgen nach eingeführtem Maßstab:
Bewertungsschema nach Ausmaß der Bandnachgiebigkeit
0
0–2 mm
(+)
Grenzwertiger Befund
+
3–5 mm
++
6–10 mm
+++
>10 mm
Prüfschema für den Kniebandapparat
Bandstruktur
Rechts
Links
Innenband in Streckstellung
Innenband in 30°-Beugung
Außenband in Streckstellung
Außenband in 30°-Beugung
Lachman
Vordere Schublade in 90° Beugung
Hintere Schublade in 90° Beugung
Bei den Funktionsstörungen im Sprunggelenksbereich ist zunächst die Eingangsfrage zu beantworten, ob der bleibende Sprunggelenksschaden eine Funktionsstörung der gesamten Beinfunktion oder nur der Fußfunktion mit sich bringt. Hier gilt die Vorgabe, dass bei einer Fußhebung bis knapp zur Rechtwinkelstellung lediglich eine Beeinträchtigung der Fußfunktion unterstellt werden kann. Ab einem Spitzfuß von 10 Grad und mehr ist jedoch die Gesamtfunktion des Beins – z. B. mit verändertem Gangbild – beeinträchtigt und damit der Beinwert zugrunde zu legen. Daraus ergeben sich 2 Tabellen für die Invaliditätsbemessung (Tab. 15, 16).
Tab. 15
Bewegungsstörung im Sprunggelenk nach Fußwert
Bemessung orientiert sich an der Funktionsstörung beim Heben und Senken des Fußes
Normal: fußrückenwärts/fußsohlenwärts 20/0/40
Oberes Sprunggelenk 10/0/35
Oberes Sprunggelenk 0/0/30
Oberes Sprunggelenk 0/0/5-20
3/20 F
6/20 F
7/20 F
Funktionell weitestgehend identische Situation wie eine Vollversteifung des oberen Sprunggelenks in gebrauchsgünstiger Stellung; deshalb gleiche Bemessung
Zusätzliches Bewegungsdefizit im unteren Sprunggelenk:
Gering
1/3
2/3
Kein Zuschlag
Erhöhung um 2/20 F
Erhöhung um 3/20 F
Tab. 16
Bewegungsstörung im Sprunggelenk nach Beinwert
Bemessung orientiert sich am Ausmaß des Spitzfußes:
Oberes Sprunggelenk 0/10/35
5/20 B
Oberes Sprunggelenk 0/20/35
6/20 B
Oberes Sprunggelenk 0/30/35
7/20 B
Zusätzliches Bewegungsdefizit im unteren Sprunggelenk:
Gering
Kein Zuschlag
1/3
Erhöhung um 2/35 B (=2/20 F)
2/3
Erhöhung um 3/35 B (=3/20 F)
Abweichung von der Systematik mit 1/20-Raster zwecks identischer Bemessung nach Bein- und Fußwert abgestellt auf die Musterbedingungen. Bei individueller Vertragsgestaltung (z. B. Beinwert = 80 % der Versicherungssumme) erfolgt die Zuschlagsbemessung analog (z. B. mit 2/40 bzw. 3/40 Beinwert)
Tab. 17
Fuß- und Zehenamputate
Amputation in Höhe der Chopart-Gelenklinie
6/10 F
Amputation in Höhe der Lisfranc-Gelenklinie
5/10 F
Verlust im Mittelfußbereich (Sharp)
4/10 F
Verlust einer Großzehe mit Mittelfußknochen (MFK)
2/10 F
Versteifungen der Großzehe können die Abrollfähigkeit des ganzen Fußes beeinträchtigen, sodass bei entsprechender Funktionsstörung auch der Fußwert zum Zuge kommen kann, ansonsten der Großzehenwert. Bei den Kleinzehenschäden wird in der Regel nur nach dem Zehenwert zu bemessen sein (Tab. 18).
Tab. 18
Groß- und Kleinzehen
Großzehe
 • Grundgelenk-Versteifung in Beugestellung
 • Grundgelenk-Versteifung in Neutralstellung
 • Grundgelenk-Versteifung in Überstreckstellung
 • Endgelenk-Versteifung in Streckstellung
3/20 F
1/10 F
4/10 Gz
4/10 Gz
Kleinzehen (II–V, alle Gelenke)
 • Versteifung in Fehlstellung (z. B. Hammerzehe)
 • Versteifung in Neutralstellung
5/10 Z
3/10 Z

Längen- und Achsabweichungen

Eine Beinverkürzung ist selten als alleinige Unfallfolge zu verzeichnen, sodass auch hierfür vorgesehene Bewertungen in der Regel nur adjuvant (ergänzend) und subsumierend der Basisbemessung hinzuzufügen sind (Tab. 19).
Tab. 19
Beinverkürzungen
Bemessungen bei Fehlen bedeutsamerer Unfallfolgen:
 
Bis 1 cm
Bis 2 cm
Bis 3 cm
Bis 4 cm
Bis 5 cm
Mehr als 5 cm (dann meist andere Unfallfolgen im Vordergrund)
Normvarianz, nicht beeinträchtigend
1/20 B
2/20 B
3/20 B
5/20 B
7/20 B
Sollten Achsabweichungen tatsächlich einmal als alleinige Unfallfolge zur Diskussion stehen, resultieren hieraus in der Regel relativ bescheidene Bemessungen, die auch die damit verknüpften präarthrotischen Komponenten mit berücksichtigen. In der Regel wird es sich hier nur um adjuvante, also nachrangige Bewertungen handeln, die subsumierend der Basisbemessung anzufügen sind (Tab. 20).
Tab. 20
Achsabweichungen (Definition siehe Eingangstext)
Im Bereich der Beine
Ohne Bedeutung (unter 5°)
Nicht messbar
Geringfügig (5–10°)
1/20 B
Bedeutend (mehr als 10°)
2/20 B
Ab 20° und mehr
3/20 B
Im Bedarfsfalle nur bedingt übertragbar auf Armschäden
Zu differenzieren ist zwischen Achsabweichungen im mittleren Bereich des Schaftknochens und in Gelenknähe. Letztere – ggf. auch Rotationsabweichungen – sind eher etwas höher zu bewerten, unterliegen jedoch in aller Regel einer notwendigen operativen Korrektur und stehen somit am Ende des Dreijahreszeitraums nur selten noch zur Bemessung an. Die Bemessung umfasst das mit der Achsabweichung verknüpfte Arthroserisiko.

Endoprothesen

Endoprothesen großer Gelenke (siehe Tab. 21)

Muss beispielweise einem 22-Jährigen unfallbedingt ein künstliches Hüftgelenk implantiert werden, so geht die Notwendigkeit wiederholter Prothesenwechsel über die bloße Möglichkeit hinaus. Zukünftige Prothesenwechsel sind in einem solchen Fall sicher, ebenso wie eine mit jedem Prothesenwechsel einhergehende Funktionsverschlechterung. Eine deutliche zukünftige negative Entwicklung ist deshalb bereits zum Ablauf des dritten Unfalljahres absehbar. Aber selbst wenn schließlich wegen der knöchernen Situation keine neue Prothese mehr eingesetzt werden kann, also eine sog. Resektionshüfte verbleibt, liegt keine völlige Funktionsbeeinträchtigung des Beins vor. Die Invalidität liegt dann in einer Größenordnung von 7/10 Beinwert (Tab. 12).
Tab. 21
Endoprothesen (große Gelenke)
Basisbewertung nach Funktion, zuzüglich Zuschlag für Minderbelastbarkeit/Lockerungsgefahr und zu erwartendem Prothesenwechsel – abhängig vom Lebensalter, wobei in diesen Zuschlägen die Funktionsbeeinträchtigung aufgrund gegenwärtiger präventiver Überlegungen bereits enthalten ist
Lebensalter (Jahre)
Zuschlag
15–20
11/20
21–25
10/20
26–30
9/20
31–35
8/20
36–40
7/20
41–45
6/20
46–50
5/20
51–55
4/20
56–60
3/20
61–65
2/20
66 und mehr
1/20
Die Bemessung des Zuschlags (= Mindestsatz) orientiert sich an der derzeitigen Qualität endoprothetischer Versorgung. Bei Kniegelenk-Endoprothesen gelten die gleichen Werte wie bei Hüftgelenk-Endoprothesen. Bei Schulter-, Ellenbogen- und Sprunggelenk-Endoprothesen sind jeweils um 1/20 höhere Zuschläge gerechtfertigt
Mögliche – nicht wahrscheinliche – künftige Entwicklungen bleiben bei der Bemessung der Invalidität „außen vor“.

Prothetischer Ersatz der kleinen Gelenke

Die Vorschläge für die Invalidität nach prothetischem Ersatz der kleinen Gelenke wurden auf der Frühjahrstagung der Fachgesellschaft „Interdisziplinäre Medizinische Begutachtung“ in Kassel am 21.05.2011 erarbeitet (Meyer-Clement/Ludolph, 2012: FGIMB -- Fachgesellschaft Interdisziplinärer Medizinischer Begutachtung).
Vier Gelenke stehen zur Diskussion:
  • Speichenkopf
  • Handgelenk
  • Fingergelenk
  • Großzehengrundgelenk
Indikation für eine Speichenkopfprothese ist der nicht rekonstruierbare Speichenkopfverrenkungsbruch. Zur Standzeit einer Speichenkopfprothese gibt es nur Einzelfalldarstellungen. Eine ausreichend sichere Prognose (hinreichende Wahrscheinlichkeit/freie Überzeugung nach § 287 ZPO) zur Funktion nach einem Prothesenwechsel, sofern dieser indiziert und möglich ist, kann nicht gegeben werden. Deshalb ist die unfallbedingte Invalidität nach den klinischen und bildtechnischen Befunden zum Ende des dritten Unfalljahres zu bemessen. Fälle mit guter Funktion sind mit 1/10 Armwert, Fälle mit schlechter Funktion entsprechend Tab. 3 ohne Zuschlag zu bemessen.
Die Indikation für den posttraumatischen prothetischen Ersatz des Handgelenks ist ausgesprochen relativ. Die primäre Versteifung des Handgelenks in einer Stellung von 15–20° handrückenwärts und 15° ellenwärts ist die bessere Alternative in Bezug auf Funktion und Akzeptanz (85 %). Prognosen zur Standzeit eines künstlichen Handgelenks sind unsicher. Mindestens 1/3 der Fälle versagen innerhalb der ersten 10 Jahre. Erforderlich ist dann meist eine Versteifung des Handgelenks. Aus diesem Grund ist der prothetische Ersatz eines Handgelenks zum Ende des dritten Unfalljahres wie eine Versteifung des Gelenks in guter Stellung zu bemessen (6/20 Handwert).
Ähnliche Probleme wie beim prothetischen Ersatz des Handgelenks zeigen sich nach dem unfallbedingten prothetischen Ersatz der Fingergelenke und des Großzehengrundgelenks. Die Fallzahlen sind zu klein, um eine erforderliche Zukunftsprognose zum Ende des dritten Unfalljahres zu ermöglichen. Auszugehen ist davon, dass der größte Teil der Fälle in einer Versteifung des Gelenks endet, sodass die Bemessung sich nach den Empfehlungen in den Tab. 7 und 18 richtet.

Arthroserisiko

Grundsätzlich können Verletzungen der Gliedmaßen, insbesondere bei einer Gelenkbeteiligung, zur Entstehung einer Arthrose führen oder zumindest eine Arthroseentwicklung begünstigen. Da aber selbst eine intraartikuläre Fraktur mit nicht anatomiegerechter Ausheilung statistisch gesehen keineswegs in allen Fällen zur Arthrose führt, derartiges z. B. nach Schienbeinkopffrakturen nur bei etwa 70 % der Fälle beobachtet wird, reicht die prinzipielle Möglichkeit einer Sekundärarthrose nicht aus für eine generelle Annahme einer solchen Spätkomplikation. Trotz der Beweiserleichterung nach § 287 ZPO bedarf beweisrechtlich die für eine solche Dauerfolge notwendige hinreichende Wahrscheinlichkeit in jedem konkreten Einzelfall zumindest eines „Indiz“, um die Invalidität – bemessen nach der Funktionsbeeinträchtigung – anzuheben.
Es entspricht gesicherter gutachtlicher Erfahrung, dass sich ein längerfristiges Arthroserisiko innerhalb des zweiten, längstens dritten Unfalljahres zumindest mit einer initialen, im röntgenanatomischen Seitvergleich nachweisbaren Arthrose zu manifestieren pflegt. Deshalb sollte bei Unklarheiten über die zukünftige Arthroseentwicklung die Regulierung auf einer abschließenden Begutachtung am Ende des dritten Unfalljahres beruhen. Lassen sich zu diesem Zeitpunkt beginnende Arthrosezeichen im röntgenanatomischen Seitvergleich (Kellgren I–II) abgrenzen, ist ein Zuschlag von 1/20 Arm-/Hand-/Bein-/Fußwert gerechtfertigt. Sofern bereits ein Stadium Kellgren III oder gar IV vorliegt, beträgt der Zuschlag 2/20 (Tab. 22).
Tab. 22
Arthrosegrade (Kniegelenk) nach Kellgren et al. (1963)
Grad
Befunde
I
• Mögliche Osteophytenbildung
• Fragliche Verschmälerung des Kniegelenkspalts
II
• Definitive Osteophyten
• Mögliche Verschmälerung des Kniegelenkspalts
III
• Multiple Osteophyten, Sklerose
• Definitive Verschmälerung des Kniegelenkspalts
• Mögliche Verformung der Tibia und des Femurs
IV
• Ausgeprägte Osteophyten, ausgeprägte Sklerose
• Starke Verschmälerung des Kniegelenkspalts
• Definitive Verformung der Tibia und des Femurs
Da bei solchen Ausheilungsergebnissen auch mit schlechteren funktionellen Verhältnissen als in einem arthrosefreien Gelenk zu rechnen ist, wird auf diesem Wege der Bemessung der Funktionsstörung zumindest teilweise auch die Arthrose mit erfasst, sodass Zuschläge von mehr als 2/20 Beinwert einer besonderen Begründung bedürfen.

Thrombosefolgen

Eine relevante chronisch-venöse Insuffizienz sollte eine Invaliditätsbemessung durch einen angiologischen Gutachter erfahren, möglichst erst am Ende des dritten Unfalljahres.
Sofern es sich um isolierte Unfallfolgen handelt, gibt die nachfolgende Tabelle Anhaltspunkte über die Größenordnung der jeweiligen Invaliditätsbemessung nach der Gliedertaxe. Bestehen anderweitige, häufig dann auch wesentlichere Unfallfolgen mit Funktionsstörungen, ist die Bemessung nach dem hierfür zur Verfügung stehenden Bemessungsvorschlägen vorzunehmen. Die Thrombosefolgen sind dann in subsumierender Weise mit zu berücksichtigen (Tab. 23).
Tab. 23
Thrombosefolgen
Bemessung nur anhand der Weichteilsituation
Mehrumfang am Unterschenkel bis 1 cm (Messfehlerbreite)
keine Invalidität
Mehrumfang bis 2 cm und Besenreiserzeichen
1/10 B
Mehrumfang mehr als 2 cm mit Pigmentablagerung,
Kompressionsstrumpf erforderlich
 + schwere trophische Störungen
 + rezidivierendes Ulcus cruris
 + chronisches Ulcus cruris, nicht mehr therapiefähig
2/10 B
3/10 B
4/10 B
5/10 B

Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen außerhalb der Gliedertaxe

Zu den nachfolgend aufgeführten aktuellen Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen außerhalb der Gliedertaxe darf zunächst auf die grundsätzlichen Überlegungen in Abschn. 5.3 verwiesen werden.

Wirbelbrüche

Wirbelbrüche sind in der Regel durch ein Unfallereignis verursacht, also durch eine plötzliche Einwirkung von außen auf den Körper des Versicherten. Sind sie Folge einer erhöhten Kraftanstrengung – in aller Regel Folge einer osteoporotisch veränderten Wirbelsäule –, fallen sie nicht unter die Deckungserweiterung des § 1 IV AUB 88, 94 bzw. der Ziff. 1.4 AUB 99, 2008, 2010, 2014.
Auch im Bereich der Wirbelsäule ist das Kernstück des ärztlichen Gutachtens die klinische und bildtechnische Untersuchung, wobei diese falls erforderlich um eine fachneurologische Untersuchung zu ergänzen ist. Die klinische Untersuchung der Wirbelsäule erfordert besondere Sorgfalt. Mangels Seitenvergleich ist die Erhebung der Befunde weitgehend von der Mitarbeit des Untersuchten abhängig. Die Wirbelsäule ist zudem in besonderem Ausmaß Erfolgsorgan von Befindensstörungen. Die Befunde sind in unterschiedlichen Körperpositionen (Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen) zu erheben und wechselseitig auf ihre Stimmigkeit zu hinterfragen. Wenn der Untersuchte z. B. im Langsitz mit den Fingerspitzen die Zehenspitzen erreicht, ist es nicht plausibel, dass im Stehen ein Fingerspitzen-Fußboden-Abstand von 40 cm verbleibt, obwohl die Schwerkraft die Beugung der Wirbelsäule im Vergleich zum Langsitz eher unterstützt.
Als objektives Kriterium kommen bildtechnische Aufnahmen in Betracht. Diese korrelieren aber nur eingeschränkt mit den daraus resultierenden Funktionseinbußen. Bildtechnische Befunde sind im Bereich der Wirbelsäule nicht funktionsspezifisch. So haben z. B. mit anderer Indikation durchgeführte computertomographische Untersuchungen der Wirbelsäule Bandscheibenveränderungen (siehe unten) bis zur Verlegung des Wirbelkanals zur Darstellung gebracht, ohne dass Funktionsdefizite bzw. Beschwerden bestanden.
Wenn Hinweise auf Nervenversorgungsstörungen bestehen, ist die fachneurologische Untersuchung unverzichtbar. Der Unfallchirurg kann zwar Hinweise auf Nervenversorgungsstörungen feststellen, er kann sie aber letztlich nicht sichern.
Für die Bemessung der Invalidität nach Wirbelfrakturen kommt es maßgeblich darauf an, wie stark die Deformierung in den verschiedenen Ebenen mit den daraus resultierenden Auswirkungen auf die Wirbelsäulenstatik und -dynamik ist.
Die außerordentlich weit verbreiteten vorzeitigen Veränderungen (Texturstörungen, Arthrose) im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule werfen meist Fragen nach der Kausalität und der Vorinvalidität auf. Hierzu 2 Beispiele:
Beispiel
Die Versicherte erlitt durch einen Sturz auf das Gesäß eine Stauchung der Lendenwirbelsäule. Die am Unfalltag angefertigten Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule konnten Unfallfolgen ausschließen. Unfallfremd fand sich – anlagebedingt – eine erhebliche Drehverbiegung der Lendenwirbelsäule (Skoliose) mit schweren knöchernen Reaktionen. Vorbeschwerden, Vorerkrankungen und Vorbehandlungen konnten nicht gesichert werden.
Die Frage nach einer unfallbedingten Invalidität, also einer „dauernden Beeinträchtigung der normalen körperlichen Leistungsfähigkeit“, war gutachtlich zu verneinen. Die Beschwerden der Versicherten waren nicht Folge des Sturzes, sondern der vorbestehenden Veränderungen der Lendenwirbelsäule. Es bestand kein Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Beschwerdebild, über das auch zum Ende des dritten Unfalljahres weiter geklagt wurde. Daran ändert auch der Einwand nichts, dass die Versicherte vor dem Unfall beschwerdefrei war. Einmal ist zu beachten, dass die Bemessung der Invalidität auf den Zustand zum Ende des dritten Unfalljahres abstellt. Es ist nicht zu begründen, dass eine Stauchung ohne jegliche strukturelle Veränderung bis zu diesem Zeitpunkt fortwirkt. Zum anderen verlaufen derartige bildtechnisch zur Darstellung kommende vorzeitige Veränderungen weitgehend klinisch stumm, können jedoch jederzeit klinisch manifest werden, wobei ein Unfall allenfalls der Auslöser dafür ist. Zwar ist auch ein sog. Auslöser adäquat kausal für geklagte Beschwerden, dies jedoch nicht über das dritte Unfalljahr hinaus. Zum Dritten darf daran erinnert werden, dass die Wirbelsäule häufig der Zielort allein psychisch bedingter Beschwerden ist, von über das dritte Unfalljahr hinaus geklagten Beschwerden also nicht auf eine unfallbedingte strukturelle Ursache geschlossen werden kann.
Beispiel
Die Versicherte stürzte von einer Leiter und zog sich dabei einen geschlossenen Stauchungsbruch des ersten Lendenwirbelkörpers mit einer Höhenminderung der Wirbelkörpervorderkante um 2/3 zu. Die am Unfalltag angefertigten Röntgenaufnahmen brachten – wie im Sachverhalt I – eine erhebliche Drehverbiegung der Lendenwirbelsäule (Skoliose) mit schweren knöchernen Reaktionen zur Darstellung. Vorbeschwerden, Vorerkrankungen und Vorbehandlungen konnten nicht gesichert werden. Zum Ende des dritten Unfalljahres wurde gutachtlich eine Invalidität von 25 % bemessen.
Zu entscheiden war, ob von der „Gesamtinvalidität“ in Höhe von 25 % eine – vom Versicherer zu beweisende – Vorinvalidität abzuziehen war. Die Frage nach einer bereits vor dem Unfall bestehenden Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit, die von der Versicherten ausdrücklich verneint wurde, konnte mangels Vorbefunden nur aufgrund der am Unfalltag angefertigten Röntgenaufnahmen beurteilt werden. Wirbelsäulenveränderungen können – je nach Ausprägung – eine mehr oder weniger deutliche Einschränkung der Funktion zur Folge haben, auch wenn sie nicht mit Beschwerden verbunden und dem Versicherten nicht bewusst sind. Lässt der Röntgenbefund den sicheren Schluss auf vorbestehende Funktionseinbußen zu, ist eine Vorinvalidität gesichert und damit ein Abzug von der „Gesamtinvalidität“ gerechtfertigt, auch wenn keine Vorbeschwerden, Vorerkrankungen oder Vorbehandlungen zu sichern sind. Im vorliegenden Fall wurde die Vorinvalidität mit 10 % bemessen. In dieser Höhe war von der mit 25 % bemessenen Gesamtinvalidität ein Abzug zu machen, sodass der Invaliditätsleistung für die Folgen des – unfallbedingten – Bruches des ersten Lendenwirbelkörpers ein Invaliditätsgrad von 15 % zugrunde zu legen war.
Geringfügige Wirbelkörperverletzungen, z. B. eine Deckplattenimpression oder eine gut verheilte Vorderkantenverletzung, heilen funktionell regelhaft folgenlos aus, hinterlassen auch keine Minderbelastbarkeit des Achsenorgans, rechtfertigen somit im Regelfall auch keine messbare Invalidität.
Nach gesicherter ärztlicher Erfahrung korrelieren die funktionellen Beeinträchtigungen der Wirbelsäule mit dem Ausmaß der verbliebenen Verformung am Wirbelkörper, sodass insoweit die Röntgenanatomie Anhaltspunkte bietet, wie eine plausible Invaliditätsbemessung vorzunehmen ist.
Wesentlich für die Beurteilung ist zudem eine eventuelle Störung im segmentalen Gefüge, z. B. durch eine Begleitschädigung der Bandscheibe mit Instabilität des Bewegungssegments.
Mündet eine solche Verletzung ein in eine spondylotische Restabilisierung, ggf. mit Überbrückung der Bandscheibe, entspricht dies dem denkbar günstigsten Ausheilungsergebnis einer Segmentschädigung und rechtfertigt allenfalls eine geringfügig höhere Bemessung der Invalidität – zunächst abgestellt auf die Wirbelkörperverformung.
Verbleibt jedoch eine segmentale Gefügelockerung oder gar eine – nur selten zu beobachtende, dann aber auch objektiv belegbare – Instabilität eines Bewegungssegments, bedarf die Invaliditätsbemessung, abgestellt auf die Verformung eines Wirbelkörpers, einer Erhöhung um 5 % (Gefügelockerung) bzw. 10 % (Instabilität).
Nach operativer Behandlung einer Wirbelkörperfraktur kann nur dann eine höhere Bemessung erfolgen, wenn der zugangsbedingte Weichteilschaden auch tatsächlich nachweisbare nachteilige funktionelle Folgen bewirkt. Allein die OP-Narbe und/oder das reizfrei einliegende Implantat können keine höhere Bemessung als die auf die Verformung abgestellte nach sich ziehen. Eine auf diesem Wege begründete Erhöhung um 5 % oder gar 10 % bedarf daher einer besonderen, auch plausiblen und nachvollziehbaren Begründung (Tab. 24).
Tab. 24
Wirbelsäule
Befund
Invalidität (%)
Verheilte Deckplattenimpression, da ohne Auswirkungen
Nicht messbar
Vorderkanten-Höhenminderung nach Kompressionsfraktur um
• 1/5 der ursprünglichen Höhe
• 2/5 der ursprünglichen Höhe
• 3/5 der ursprünglichen Höhe
• 4/5 der ursprünglichen Höhe
5 %
10 %
15 %
20 %
Grobe Wirbelkörperverformungen nach Berstungsfraktur
20 %
Anatomiegerecht fusioniert mit Ausschaltung zweier Bewegungssegmente
10 %
Zuzüglich Segmentschaden:
• Gefügelockerung eines Segments
5 % Zuschlag
• Objektiv belegte Instabilität
10 % Zuschlag
Nach operativer Versorgung:
• Reizfrei einliegendes Implantat
Kein Zuschlag
• OP-Narbe
Kein Zuschlag
Gemeinsam mit einer eventuellen zusätzlichen Berücksichtigung und Bemessung eines Segmentschadens können im unfallchirurgisch-orthopädischen Bereich maximal 30 % Invalidität erreicht werden. Es bedarf also einer ganz ungewöhnlichen Ausheilungssituation, um allein auf unfallchirurgisch-orthopädischem Gebiet 30 % zu überschreiten. Ansonsten ist dies nur möglich bei zusätzlich bestehenden neurologischen Funktionsstörungen, die grundsätzlich in ihrer Bemessung einem nervenärztlichen Sachverständigen überlassen bleiben müssen und – im Falle eines kompletten Querschnitts – bis zu 100 % betragen können.

Beckenringverletzungen

Invaliditätsbemessungen nach Beckenringverletzungen können – ähnlich wie die Frakturfolgen an der Wirbelsäule – in Orientierung an dem röntgenanatomischen Ausheilungsergebnis vorgenommen werden. Dies gilt insbesondere bei stabilen Ausheilungsformen, bei denen kein Beckenverwindungsschmerz etc. mehr nachweisbar ist. Instabile Ausheilungsformen werden beim heute erreichten Stand der rekonstruierenden Chirurgie selten beobachtet, sodass die entsprechenden tabellarischen Bemessungsvorschläge auch nur selten zum Zuge kommen (Tab. 25).
Tab. 25
Becken
Befund
Invalidität (%)
Stabile Ausheilungsformen:
 • Ohne relevante Verformung – dann ohne Auswirkungen
 • Leichte Beckenringasymmetrie
 • Symphysenverknöcherung
 • Reaktive Umformungen eines SIG-Gelenkes mit Symptomatik
 • Doppelseitig mit Symptomatik
Nicht messbar
5 %
5 %
10 %
15 %
Ausheilungsergebnisse nach instabilen Verletzungsformen:
 • Symphysale Diastase 10–15 mm
5 %
 • Symphysale Diastase über 15 mm
- Verschiebung in einem SIG-Gelenk (mindestens 10 mm)
- Verschiebung in beiden SIG-Gelenken (mindestens 10 mm)
10 %
15 %
20 %

Rippenfrakturen

Fehlverheilte Rippenfrakturen können restriktive Atemstörungen hinterlassen, die durch den hierfür kompetenten Internisten zu objektivieren und zu bemessen sind.
Eine Interkostalneuralgie bedarf einer neurologischen Abklärung.
Die Bemessungen auf mehreren Fachgebieten sind nach den AUB 88 und 94 additiv, nach den AUB 99 ff. subsumierend zusammenzuführen (Tab. 26).
Tab. 26
Brustkorb: Brustbein, Rippen
Befund
Invalidität (%)
Stabil verheilte Brustbeinfraktur (auch in Fehlform)
Nicht messbar
Brustbeinpseudarthrose
5
Stabil und weitgehend anatomiegerecht verheilte Rippenfraktur(en)
Nicht messbar
Fehlverheilte Rippenfraktur(en) mit Beeinträchtigung der Atemmechanik
10

Bauchdecke

Bei der Bemessung von Unfallfolgen im Bereich der Bauchdecken ist stets zu prüfen, ob eine operative Sanierung angebracht erscheint, was dem Probanden mitzuteilen ist. In solchen Fällen sollte die Bemessung der Invalidität bis zum Ende des dritten Unfalljahres zurückgestellt werden (Tab. 27)
Tab. 27
Bauchdecken: Narben, Hernien
Befund
Invalidität (%)
Reizlos und stabil verheilte Bauchwandnarbe nach Laparotomie
0
Narbige Umwandlungen eines Teiles der Bauchwandmuskulatur
5
Kleine Bauchwandhernie (bis Tischtennisballgröße)
10
Bauchwandhernie (bis Faustgröße)
15
Großer Bauchwandbruch
20
„Landkarten-Bauchdecke“ mit grober muskulärer Insuffizienz
25
.

Abdominalverletzungen

Abdominalverletzungen machen nur einen verschwindend kleinen Bruchteil aller Invaliditätsfälle aus. Folglich fehlen weitgehend Erfahrungswerte zur Bemessung der Invalidität. Nur ganz vereinzelt finden sich in der Standardliteratur Empfehlungen zur Invalidität nach derartigen Verletzungen (Lehmann et al. 2018).
Vorgaben zur Bewertung nach Abdominalverletzungen/-erkrankungen finden sich im Schwerbehindertenrecht und im Sozialen Entschädigungsrecht in den „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ unter Teil B:
10.2
Magen- und Darmkrankheiten
11
Brüche (Hernien)
12.1
Nierenschäden
13
Männliche Geschlechtsorgane
14
Weibliche Geschlechtsorgane
16.1
Verlust der Milz
Zum einen betreffen diese Vorgaben überwiegend „Krankheiten“. Zum anderen sind sie „ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen“ einer Funktionsbeeinträchtigung (Teil A 2. a) der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“, während die Invalidität sich danach bemisst, „inwieweit die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit“ (Ziff. 2.1.2.2.2 AUB 99 ff.) beeinträchtigt ist.
Die Invalidität ist unter „ausschließlich medizinischen Gesichtspunkten“ zu bemessen (Ziff. 2.1.2.2.2 AUB 99 ff.), während der GdB/GdS auch den Verlust an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben berücksichtigt. Die in den „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ aufgeführten Werte können deshalb nicht auf die Private Unfallversicherung übertragen werden.
Das Gleiche gilt für die MdE-Erfahrungswerte der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV). Geschütztes Rechtsgut der GUV ist die Erwerbsfähigkeit – bezogen abstrakt auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt. Eingeschätzt wird also „der Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens“ (§ 56 (2) SGB VII) – ein Einschätzungskriterium, das für die Private Unfallversicherung irrelevant ist, da nicht ausschließlich medizinische Gesichtspunkte Berücksichtigung finden.
Es kommt hinzu, dass sowohl die Werte des Schwerbehindertenrechts und des Sozialen Entschädigungsrechts, die ab dem 01.01.2009 durch Verordnung festgeschrieben sind, als auch – vor allem – die Erfahrungswerte der GUV, die im Sinne der Gleichbehandlung aller Versicherten anzuwenden sind, sich über einen langen Zeitraum entwickelt haben und sich von der Beeinträchtigung der „normalen körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit“ unter rein „medizinischen Gesichtspunkten“, wie sie dem aktuellen medizinischen Standard entspricht, entfernt haben.
Auszugehen ist bei der Bemessung für die Private Unfallversicherung von einer Invalidität von 100 % für alle „Körperteile und Sinnesorgane“, die nicht durch die Gliedertaxe erfasst sind. Darunter fallen der Schädel, das Hirn, die Wirbelsäule, das Rückenmark, der Thorax mit seinen Organen, die Abdominalorgane, das Becken und der Urogenitaltrakt.
Vergleichsmaßstab für die Bemessung der Invalidität ist der „normale“ Versicherte, also nicht z. B. die Lungenkapazität des Profiradrennfahrers. Unter einem „normalen“ (Ziff. 2.1.2.2.2 AUB 99 ff.) Menschen wird der Mensch in altersentsprechendem Zustand verstanden. Die unfallbedingte Invalidität bemisst sich beim Erwachsenen nach dem körperlichen und geistigen Verlust an Funktionen zum Ende des dritten Unfalljahres – voraussichtlich auf Dauer (§ 287 ZPO). Zu berücksichtigen sind jedoch, wie bei allen Empfehlungen für die Private Unfallversicherung, die Vorinvalidität und die Mitwirkung unfallfremder Krankheiten oder Gebrechen. Soweit nachfolgend Empfehlungen ausgesprochen werden, sind Abzüge dafür nicht berücksichtigt.

Verlust der Milz

Das OLG Koblenz (Urteil vom 17.04.2009 – 10 U 691/07) hat dem Kläger – zwar nur unzureichend gutachtlich beraten – nach Milzverlust eine unfallbedingte Invalidität von 5 % zugesprochen. Dieser Entscheidung kann jedoch unter rein „medizinischen Gesichtspunkten“, die in der Privaten Unfallversicherung maßgeblich sind, nicht gefolgt werden.
Der unfallbedingte Milzverlust, der Organverlust, hinterlässt beim Erwachsenen nach einer Anpassungsphase von etwa 6 Monaten und bei Kleinkindern nach Erreichen des siebten/achten Lebensjahres in der Regel keine objektivierbaren Funktionseinbußen. Das OLG Koblenz unterstellte ein fortbestehendes Erkrankungsrisiko, jedoch ohne dass dafür konkret irgendwelche Anhaltspunkte vorlagen. Selbst wenn bei einem vergleichbaren Sachverhalt das Risiko, an einer Infektion zu erkranken, auf Dauer erhöht sein sollte, resultieren allein aus diesem Risiko weder eine gegenwärtige Funktionseinbuße – denn Prävention ist nicht möglich – noch Funktionseinbußen voraussichtlich auf Dauer (§ 287 ZPO). Denn eine solche Infektion ist zwar möglich, aber nicht hinreichend wahrscheinlich. Es ist also völlig offen, ob sich das Risiko in einer Infektionskrankheit verwirklichen wird. Mangels objektiver Funktionseinbußen lässt sich grundsätzlich eine Invalidität zum Ablauf des dritten Unfalljahres nicht begründen – es sei denn, es hat sich eine durch den Milzverlust bedingte Infektionsanfälligkeit konkretisiert, z. B. durch Vergleich der Infektionshäufigkeit vor und nach dem Unfall.

Nierenverlust

Der einseitige unfallbedingte Nierenverlust hat im Allgemeinen keine dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit zur Folge, weil die verbliebene Niere im Laufe des Genesungsprozesses alle Funktionen des verloren gegangenen Organs übernimmt. Eine Invalidität lässt sich in solchen Fällen nicht konkretisieren und auch nicht mit der latenten Gefahr des Verlustes der Restniere begründen, dies deshalb nicht, weil eine Prognose nur mögliche Gesundheitsschädigungen nicht umfasst (§ 287 ZPO). Dementsprechend hat das OLG Celle (Urteil 13.09.2007 – 8 U 100/07) eine unfallbedingte Invalidität verneint.
Bei einem beidseitigen Nierenverlust hängt der Grad der Beeinträchtigung davon ab, welche Funktionsdefizite im konkreten Fall vorliegen, wie häufig die Dialyse durchgeführt werden muss und welche Tätigkeiten der Versicherte noch oder nicht mehr ausführen kann. Ein hoher Invaliditätsgrad wird die Regel sein; u. U. ist Vollinvalidität anzunehmen.
Grundlegend anders stellt sich die Situation bei Verlust der Niere bei Einnierigkeit dar.
Beispiel
Eine 13-jährige Schülerin verliert unfallbedingt die rechte Niere, die operativ entfernt wurde. Postoperativ kam es zu einem akuten Funktionsverlust. Es hatte sich bei dem verletzten Organ um eine Einzelniere gehandelt. Das paarige Organ fehlte anlagebedingt.
Die prätraumatische Einnierigkeit begründet keine Vorinvalidität mit der Folge eines Abzugs bei Verlust der Einzelniere nach Ziff. 2.1.2.2.3 AUB 99 ff. Denn es fehlen jegliche Leistungsbeeinträchtigungen. Es ist jedoch einleuchtend, dass der hohe Invaliditätsgrad bei völligem Nierenverlust in einem solchen Fall nicht allein dem Unfall (mit Verlust der Einzelniere), sondern teilweise auch dem vorbestehenden Fehlen einer zweiten Niere anzulasten ist. Das vorbestehende Fehlen einer Niere ist als Gebrechen im Sinne eines objektiv feststellbaren regelwidrigen Zustandes aufzufassen, sodass eine Leistungskürzung wegen der Mitwirkung eines Gebrechens an der unfallbedingten Invalidität bei Verlust der Restniere in Betracht kommt. Zu entscheiden ist über die Höhe des Mitwirkungsanteils des Gebrechens (Ziff. 3 AUB 99 ff.). Es ist vertretbar, den Anteil des Unfalls einerseits, der zum Verlust der letzten Niere führt, und die Mitwirkung der vorbestehenden Einnierigkeit andererseits am dialysepflichtigen Endzustand jeweils mit 50 % zu bemessen mit der Folge, dass eine Kürzung der Invaliditätsleistung um die Hälfte zu rechtfertigen ist.

Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen auf internistischem Gebiet

Im Vordergrund der Invaliditätsbewertung auf internistischem Fachgebiet stehen neben Lungenfunktionsstörungen die Folgen von Minderungen der Herzleistung (Herzinsuffizienz), soweit der Kausalzusammenhang mit dem Unfallereignis bzw. der primären Gesundheitsschädigung gegeben ist. Gieretz hat Vorschläge für die Bemessung von Funktionsbeeinträchtigungen des Herzens in der Privaten Unfallversicherung veröffentlicht, die mit Genehmigung des Autors hier wiedergegeben werden:

Herz

(siehe Tab. 28, 29, 30)
Tab. 28
Bemessung des Invaliditätsgrades anhand von Belastungstests
Symptome und Befunde
Invalidität (%)
Keine kardiopulmonalen Symptome bei mittlerer und schwerer Belastung; Belastungstest unauffällig
0
Auftreten kardiopulmonaler Symptome bei mittelschwerer Belastung; Belastungs-EKG, Spiroergometrie und/oder Myokardszintigraphie bei 75 Watt (2 Minuten) pathologisch; pathologische Daten bei hoher pharmakologischer Belastung (z. B. 40 μg Dobutamin/kg KG/min) in der Stresskardiographie
20
Auftreten kardiopulmonaler Symptome bei Alltagsbelastungen; pathologische Messdaten im Belastungs-EKG, der Spiroergometrie, der Myokardszintigraphie bei 50 Watt, in der Stressechokardiographie pathologisch verändertes linksventrikuläres Kontraktionsverhalten bei geringer pharmakologischer Belastung (z. B. 20 μg Dubotamin/kg KG/min)
50
Tab. 29
Bemessung des Invaliditätsgrades entsprechend der linksventrikulären Funktion anhand der „ejection fraction“ (= Auswurfleistung, EF)
Ejection Fraction
Befund
Invalidität (%)
≥70 %
Normalbefund
Keine Beeinträchtigung
60–70 %
Leichtgradig eingeschränkte Ventrikelfunktion
0
45–55 %
Mäßiggradig eingeschränkte Ventrikelfunktion
30
30–40 %
Deutlich eingeschränkte Ventrikelfunktion
50
<30 %
Schwer eingeschränkte Ventrikelfunktion
80–100
Tab. 30
Bemessung des Invaliditätsgrades bei erhöhten Mitteldrucken in der Lungenschlagader
Werte in Ruhe (mmHg)
Werte unter Belastung (mmHg)
Invalidität (%)
20–30
30–40
10
30–40
40–50
40
40–50
50–60
70
Druckwerte annähernd gleich den Werten im arteriellen System
100
Bezüglich der Untersuchungsmethoden und der Befundauswertung sowie der Unfallfolgen auf kardiologischem Gebiet darf auf die Ausführungen von Gieretz (Gieretz et al. 2019) verwiesen werden.

Lunge

Für unfallbedingte Beeinträchtigungen der Lungenfunktion gibt es, soweit ersichtlich, noch keine speziellen Empfehlungen zur Bemessung des Invaliditätsgrades für das Rechtsgebiet der Privaten Unfallversicherung. Die grundsätzlichen Überlegungen sollen anhand eines Fallbeispiels erörtert werden:
Beispiel
Ein 41-jähriger Versicherter erlitt beim Waffenreinigen eine Schussverletzung, als sich nach Entfernen des Pistolenmagazins eine übersehene Kugel aus dem Lauf löste. Der Schuss durchbohrte die linke Lunge, ohne das Herz oder die großen Gefäße zu verletzen. In einer Notoperation musste dennoch die gesamte linke Lunge entfernt werden.
7 Monate nach dem Unfall, zum Zeitpunkt der gutachtlichen Untersuchung, klagte der Versicherte über Herzschmerzen, über Luftnot in Ruhe und bei Belastung sowie über eine verminderte Belastbarkeit.
Zur Verbesserung der rechten Lungenfunktion wurde noch eine bronchialerweiternde medikamentöse Therapie (Tabletten und Bronchialsprays) durchgeführt.
Befunde: Auskultatorisch vollständige Aufhebung des Atemgeräusches über der linken Brustkorbhälfte. In der Lungenfunktion deutliche Verminderung fast aller Messwerte im Sinne einer kombinierten obstruktiven und restriktiven Belüftungsstörung. Die farbdopplersonographisch approximativ bestimmten Druckwerte im kleinen (Lungen-)Kreislauf liegen noch im Normbereich.
Die Sauerstoffsättigung ist mit 96 % in Ruhe ebenfalls normal. Die Röntgenaufnahme des Thorax zeigt, wie erwartet, eine völlige Verschattung der linken Brustkorbhälfte.
Im oben geschilderten Fall sind 2 Dinge zu berücksichtigen: Zum einen sind – neben der erforderlichen Medikamenteneinnahme – die einzelnen Lungenfunktionsparameter zu bewerten, zum anderen ist von Bedeutung, ob sich durch die Verringerung des Gefäßquerschnitts in der rechten Lunge bereits eine Druckerhöhung im Lungenkreislauf entwickelt hat. Dieser Befund lässt sich heute relativ leicht mit großer Sicherheit farbdopplerechokardiographisch durch Untersuchung des Herzens und der unteren Hohlvene bestimmen, sodass in vielen Fällen auf die – zustimmungspflichtige – Rechtsherzkatheteruntersuchung verzichtet werden kann, wobei auch eine Befunderhebung durch moderne Kernspintomographen möglich ist.
Für die Innere Medizin gilt ebenso wie für alle anderen Fachrichtungen die Rangordnung der Befunde:
  • Objektiv
  • Semiobjektiv
  • Subjektiv.
Die Wertigkeit der Befunde nimmt proportional zur Abhängigkeit von der Mitarbeit ab. Bei der Lungenfunktionsprüfung handelt es sich um eine erheblich der Mitarbeit des Probanden unterliegende Messung, sodass insbesondere mitarbeitsunabhängigere Parameter (z. B. FEV 1 % VC-Wert, MEF 25-Wert) zur Bewertung heranzuziehen sind. Die Messung der Druckwerte im kleinen Kreislauf und der Blutgaswerte sind ohnehin mitarbeitsunabhängig.
Bei dem 41-jährigen Versicherten zeigte die Lungenfunktion eine deutliche Belüftungsstörung bei allerdings noch normaler Sauerstoffsättigung und noch normalen Druckwerten im Lungenkreislauf. Die – mitarbeitsabhängigen – Lungenfunktionswerte lagen z. T. deutlich unterhalb der Norm (z. B. PEF-Wert 15 %), die weniger der Mitarbeit des Versicherten unterworfenen Parameter waren jedoch nicht in diesem Maße verändert.
Unter Berücksichtigung der normalen Sauerstoffsättigung und der normalen Druckwerte sowie der derzeit noch erforderlichen Medikation (objektive Bemessungskriterien) resultierte zum Zeitpunkt der gutachtlichen Untersuchung (7 Monate nach dem Unfall) eine unfallbedingte Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit von 30 %.
Maßgeblich für die Bemessung der unfallbedingten Invalidität ist aber die Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit voraussichtlich auf Dauer auf der Grundlage der Befunde, wie sie zum Ende des dritten Unfalljahres vorliegen. Ob sich die Lungenfunktion durch die bronchialerweiternde Therapie weiter verbessern wird und ob die derzeitige Therapie dann schrittweise reduziert oder ganz abgesetzt werden kann, muss aufgrund einer Nachuntersuchung zum Ende des dritten Unfalljahres beurteilt werden. Ist auch dann eine abschließende Prognose nicht möglich, liegt also sowohl eine positive als auch eine negative Entwicklung im Bereich des Möglichen, sind die aktuellen Befunde der Beurteilung der unfallbedingten Invalidität zugrunde zu legen.

Bauchorgane

Unfallfolgen an den Bauchorganen (Teilverlust des Darmes etc.) sind internistisch zu objektivieren und zu bemessen. In solchen Fällen ist der internistische Sachverständige gehalten, auch die Unfallfolgen an den Bauchdecken bei seiner Invaliditätsbemessung mit zu berücksichtigen, sodass dann eine diesbezügliche Bemessung durch den Chirurgen entfällt (Tab. 31).
Tab. 31
Bemessungsvorschläge nach Verletzungen einzelner Bauchorgane
Bauchorgane
Invalidität (%)
Kunstafter (Dünndarm)
30
Kunstafter (Dickdarm)
15
Verlust von Dünndarmanteilen (um mehr als 1/3)
10
Verlust von Kolonanteilen bei normalem After
<10
Leberteilverlust (ca. 50 %)
<10
Magenresektion (Teilverlust)
10
Magenresektion (Totalverlust)
20

Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen auf neurologischem Gebiet

Auf neurologischem Gebiet sind
  • Schädigungen peripherer Nerven,
  • Schädigungen des Rückenmarks sowie
  • Schädigungen des Gehirns
zu unterscheiden.
Funktionsausfälle durch periphere Nervenschädigungen werden überwiegend nach der Gliedertaxe zu beurteilen sein. Das gilt auch, wenn Hirnverletzungen zu Funktionsstörungen an den Gliedmaßen oder den Sinnesorganen führen – z. B. zu Gesichtsfeldausfällen, Doppelbildern, Verlust des Geruchssinnes. Im Übrigen sind Dauerfolgen nachweisbarer Hirnsubstanzdefekte außerhalb der Gliedertaxe zu bemessen. Die Schädigungsformen sind vielfältig und können die Leistungsfähigkeit des Versicherten in unterschiedlichem Ausmaß beeinträchtigen. Psychische Störungen, die durch eine organische Hirnschädigung verursacht sind, fallen nach § 2 IV AUB 88, 94 sowie nach Ziff. 5.2.6 AUB 99, 2008, 2010, 2014 unter den Versicherungsschutz.
BGH, Urteil vom 23.06.2004 – IV ZR 130/03
„Fehlt es an körperlichen Traumata oder kann die krankhafte Störung des Körpers nur mit ihrer psychogenen Natur erklärt werden, will der Versicherer keinen Versicherungsschutz übernehmen.“ „Anders dagegen soll – wie schon das Berufungsgericht zutreffend sieht – Versicherungsschutz bestehen, wenn er durch den Unfall beispielsweise hirnorganisch beeinträchtigt wird, was dann seine Psyche krankhaft verändert.“ „Die organische Schädigung oder Reaktion, die zu einem psychischen Leiden führt, vermag den Ausschlusstatbestand nicht auszulösen; diese seelischen Beschwerden beruhen dann nicht, wie von der Klausel wörtlich verlangt, ihrerseits auf psychischen Reaktionen, sondern sind physisch hervorgerufen und mithin nicht vom Ausschluss erfasst.“
Konzentrationsschwäche, Antriebsarmut, depressive Verstimmung, Affektlabilität und ähnliche Phänomene, die durch eine unfallbedingte substanzielle Hirnschädigung verursacht sind, sind deshalb nicht vom Versicherungsschutz ausgenommen. Art und Umfang der Dauerfolgen werden zunächst von Lokalisation und Schwere der Primärverletzung am Gehirn bestimmt. Zu berücksichtigen sind außerdem Komplikationen, etwa durch einen Atemstillstand bei schweren Kopfverletzungen, der durch den Sauerstoffmangel zusätzliche Funktionsdefizite verursachen kann.
Wichtig für die Abschätzung des Ausmaßes der Schädigung ist der Grad der Bewusstseinsstörung unmittelbar nach dem Unfall. Dieser wird mit der Glasgow Coma Scale (GCS) gemessen. Daraus lässt sich die initiale Schwere einer Hirnverletzung gradmäßig ablesen. Je höher der Wert (bis 15), umso schwerer ist die Schädigung. Diese Information sollte – als wichtige Grundlage der späteren Begutachtung zur Frage einer Invalidität – stets eingeholt werden, wird jedoch leider bei einer Direkteinweisungen in die Klinik nicht immer erhoben. In den Notarzteinsatzprotokollen wird die GCS regelmäßig vermerkt. Steht sie nicht zur Verfügung, ist auf die Dauer der posttraumatischen Amnesie (PTA) zurückzugreifen, die als die Dauer vom Unfallzeitpunkt bis zum Einsetzen einer kontinuierlichen, also nicht mehr nur nebelhaften Erinnerung definiert ist. Anhand der PTA wird die Schwere eines Schädel-Hirn-Traumas wie in Tab. 32 dargestellt eingeteilt.
Tab. 32
PTA (posttraumatische Amnesie) als Einteilungskriterium für die Schwere eines Schädel-Hirn-Traumas
PTA
Schweregrad
Bis 5 Minuten
Sehr leicht
Bis 1 Stunde
Leicht
1–24 Stunden
Mittelschwer
1–7 Tage
Schwer
1–4 Wochen
Sehr schwer
Über 4 Wochen
Äußerst schwer
Ältere Begriffe zur Beschreibung einer Hirnschädigung, die aber noch immer gebraucht werden, sind Hirnerschütterung (Commotio cerebri) und Hirnprellung (Contusio cerebri). Die letztgenannte Unfallfolge ist durch organische Substanzdefekte gekennzeichnet. In der Bildgebung erkennt man Prellungsherde (Kontusionsherde) im Gehirn. Sie führen in der Regel zu dauernden Funktionsstörungen, wenn auch gelegentlich völlige Wiederherstellung beobachtet wird. Bei einer Hirnerschütterung geht man davon aus, dass keine Schädigung des Hirngewebes vorliegt und deshalb keine dauernden Funktionsdefizite zurückbleiben. Die gesicherte Diagnose einer Commotio cerebri schließt deshalb die Annahme einer (entschädigungspflichtigen) Invalidität aus.
Diese Diagnose wird allerdings nicht selten nachträglich infrage gestellt, um damit die Grundlage für einen Invaliditätsanspruch zu schaffen. Wenn jedoch für die behaupteten Beschwerden keine organische Ursache zu objektivieren ist, dürfen der Beurteilung dramatisierende Angaben des Versicherten (z. B. hinsichtlich der Dauer der Bewusstlosigkeit) nicht zugrunde gelegt werden, die über die ursprünglich erhobenen Befunde hinausgehen. Maßgebend für die Diagnose sind vielmehr stets die Primärbefunde. Bei Einsatz des Notarztes ist die Beschaffung seines Protokolls einschließlich des dort dokumentierten GCS-Werts zur Vorbereitung einer Begutachtung dringend anzuraten.
Hirnprellungen sind nicht selten von Blutungen innerhalb des Hirnschädels begleitet. Dazu gehören die Blutung in das Hirngewebe (intrazerebrale Blutung), die Blutung in den Subarachnoidalraum – also in den Raum unter der Spinngewebshaut sowie die arterielle Blutung zwischen harter Hirnhaut und Schädelkalotte (epidurales Hämatom) und die venöse Blutung zwischen harter Hirnhaut und Spinngewebshaut (subdurales Hämatom).
Die Kompetenz für die Begutachtung der Erstgesundheitsschädigung liegt beim Fachgebiet Unfallchirurgie/Orthopädie. Gutachtliche Aussagen zur Invalidität auf Dauer nach Schädel-Hirn-Verletzungen fallen demgegenüber in das Fachgebiet Neurologie/Psychiatrie. Hinzuzuziehen ist ggf. ein Neuropsychologe, soweit es sich um Beeinträchtigungen der mentalen Leistungen, also um kognitive und neuropsychologische Ausfälle, handelt. Dazu gehören Einschränkungen der Konzentrationsfähigkeit, im Denkvermögen, beim Problemlösen, in der Daueraufmerksamkeit, in der Sprach- und Sprechfähigkeit sowie in der Verarbeitung optischer Informationen einschließlich der Orientierung. Bei Verletzungen des Rückenmarks empfiehlt es sich, einen Gutachter zu beauftragen, der in einem Querschnittszentrum tätig ist.

Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen auf urologischem Gebiet

Schädigungen bzw. Funktionsstörungen an den Harn- und Geschlechtsorganen können durch Verletzungen im Beckenbereich, an Wirbelsäule und Rückenmark sowie durch Hirnschädigungen verursacht werden. Der Invaliditätsgrad hängt vom Ausmaß der dadurch bedingten Funktionsstörungen ab.

Potenzstörungen

Ein besonderes Problem stellen Potenzstörungen dar, die durch eine Unfallverletzung verursacht sein können, weil die „Impotentia coeundi“ in der Mehrzahl der Fälle mehr oder weniger stark psychisch überlagert ist. Nach den AUB 88, 94 bzw. AUB 99, 2008, 2010, 2014 ist ein Invaliditätsanspruch jedenfalls für die organische Funktionsstörung nicht unbegründet, weil durch die Impotenz zwar nicht die Arbeitsfähigkeit, wohl aber die Leistungsfähigkeit des menschlichen Organismus beeinträchtigt ist (Lehmann 2001). Die Schwierigkeit besteht darin, die organischen von den psychischen Folgen zu trennen, weil Letztere auch nach diesen Versicherungsbedingungen als „krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen“ nicht unter den Versicherungsschutz fallen (§ 2 IV AUB 88, 94; Ziff. 5.2.6 AUB 99, 2008, 2010, 2014).
Bei Bichler (2004) finden sich zur Frage der gutachtlichen Bewertung für die Ermittlung der MdE (!) bei Erektionsstörungen folgende Bewertungsvorschläge:
Kompletter Erektionsverlust
  • Ohne subjektive Beeinträchtigung: 0 % MdE
  • Bei durchschnittlicher psychischer Beeinträchtigung: 10–20 % MdE
  • Bei außergewöhnlicher psychischer Beeinträchtigung: 30 % MdE
Mit diesen Prozentsätzen wird offensichtlich nur der psychische Anteil des Erektionsverlustes erfasst; das organische Funktionsdefizit bleibt hingegen unberücksichtigt, weil es die Erwerbsfähigkeit des (gesetzlich) Unfallversicherten nicht mindert. In der Privaten Unfallversicherung kann jedoch die Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit in solchen Fällen nicht mit 0 % bewertet werden. Ein Invaliditätsgrad von 5 bis 10 % – je nach Alter des Versicherten – für das organische Funktionsdefizit ist dagegen angemessen. Die psychische Reaktion auf das sexuelle Versagen bleibt nach § 2 IV AUB 88 bzw. Ziff. 5.2.6 AUB 99, 2008, 2010, 2014 vom Versicherungsschutz ausgeschlossen.
Die Probleme, die sich auf urologischem Fachgebiet bei der Bemessung von sexuellen Funktionsstörungen ergeben können, illustriert der nachfolgende, wenn auch außergewöhnliche und seltene Beispielsfall:
Beispiel
Der 21-jährige Versicherte wurde am 12.11.2002 in eine Schlägerei verwickelt. Er erlitt eine Verletzung mit einem Funktionsverlust des rechten Hodens. Unfallfremd hatte der Versicherte infolge einer frühkindlichen Überbeweglichkeit des linken Hodens und einer dadurch indizierten operativen Fixierung einen Funktionsverlust des linken Hodens erlitten. Der Versicherte war also nicht mehr zeugungsfähig (Impotentia generandi) bei ansonsten ungestörter Sexualität und intakter Hormonproduktion.
Strittig sind die Bemessung der unfallbedingten Invalidität und die Bemessung der unfallfremden Krankheit (Funktionsverlust des linken Hodens in der Kindheit), also die Vorinvalidität.
Die Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten durch die Fortpflanzungsunfähigkeit zum Ablauf des dritten Unfalljahres und auf Dauer ist – unter Berücksichtigung der außerhalb der Gliedertaxe zu bemessenden körperlichen und geistigen Gesamtleistungsfähigkeit – von eher untergeordneter Bedeutung, sodass die Invalidität entsprechend gering anzusetzen ist.
In einem fachurologischen Gutachten wurde eine unfallbedingte MdE von 30 % vorgeschlagen. Abgesehen davon, dass in der Privaten Unfallversicherung die MdE nicht zur Diskussion steht, war das fachurologische Gutachten aber auch in Bezug auf das Sozialrecht (Gesetzliche Unfallversicherung, Soziales Entschädigungsrecht und Schwerbehindertenrecht) und das Verwaltungsrecht (Dienstunfallfolgen), in denen die MdE, der GdS bzw. der GdB einzuschätzen sind, nicht richtig. Denn nach allen ärztlichen Informationen wurden psychische Folgen der Fortpflanzungsunfähigkeit beim Versicherten nicht gesichert (objektiviert), sodass die MdE – in der Gesetzlichen Unfallversicherung – unter 10 % (wirtschaftlich nicht messbar) anzusetzen ist, während im Sozialen Entschädigungsrecht, Schwerbehindertenrecht und Dienstunfallrecht die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ gelten, die einen GdS, GdB bzw. eine MdE von 20(%) vorsehen.
In der Privaten Unfallversicherung spielen demgegenüber weder ideelle Gesichtspunkte noch psychische Reaktionen eine Rolle. Es kann deshalb im vorliegenden Fall allenfalls eine Invalidität von 5 % als Obergrenze diskutiert werden.
Zu diskutieren sind die Vorinvalidität und die Mitwirkung unfallfremder Krankheiten oder Gebrechen durch den vorbestehenden Verlust der Funktionsfähigkeit des linken Hodens in Bezug auf die Spermiogenese (Bildung der Samenzellen). Es fragt sich also, ob bzw. wie der unfallfremde Funktionsverlust des linken Hodens in die Bemessung der Invalidität Eingang findet.
In Orientierung an den „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ wäre die dauernde vorbestehende Funktionsbeeinträchtigung mit annähernd 0 % anzusetzen, denn der rechte Hoden war bis zum Unfallzeitpunkt intakt. Der Versicherte war also zeugungsfähig, wenn auch in gering eingeschränktem Umfang. Der Funktionsverlust links wirkte nicht messbar nach außen. Dies entspricht auch der Systematik der Privaten Unfallversicherung.
Ob sich eine Vorinvalidität begründen lässt, hängt bei paarigen Organen davon ab, ob das verbleibende Organ annähernd vollkommen die Funktion des nicht mehr funktionsfähigen Organs übernimmt. Versicherungsrechtlich vergleichbar ist der Funktionsverlust eines Hodens nach vorbestehendem Verlust des anderen Hodens dem Verlust der Niere bei Einnierigkeit. Zwar sinkt die Zeugungsfähigkeit eines Versicherten nach Verlust eines Hodens bei um 50 % gesunkener Zahl der Spermien. Dieser Funktionsverlust ist aber nicht messbar, solange der zweite Hoden funktionstüchtig ist, da eine Vielzahl von Spermien ohnehin nicht zur Befruchtung führen. Auch bei Verlust einer Niere wird deren Funktion weitgehend von der zweiten noch verbliebenen Niere übernommen. Auch insofern besteht bei Einnierigkeit kein messbarer Funktionsverlust. Das bedeutet aber, dass eine Vorinvalidität sowohl bei vorbestehendem Verlust eines Hodens als auch bei Einnierigkeit nicht zu begründen ist.
Dennoch ist der Funktionsverlust eines Hodens als Krankheit, also als objektiv regelwidriger Zustand, aufzufassen. Dies gilt sowohl in Bezug auf den Verlust einer Niere als auch eines Hodens. Verliert ein Versicherter unfallbedingt die letzte Niere, führte das in der Vergangenheit zu seinem Tod. Heute bei der möglichen Dialysebehandlung ist dieses Risiko zwar nicht mehr gegeben, führt aber zu einer hohen Invaliditätsleistung, für deren Höhe der Verlust der ersten Niere mit ursächlich ist. Der Ursachenbeitrag des Verlustes der ersten Niere für den dialysepflichtigen Endzustand nach Verlust der zweiten Niere ist mit 50 % anzusetzen. Das ist vergleichbar dem Verlust eines Hodens bei vorbestehender Funktionsunfähigkeit des anderen Hodens. Eine Leistungskürzung in Höhe von 50 % infolge der Mitwirkung unfallfremder Krankheiten oder Gebrechen ist also begründet. Ausgehend von einer Invalidität von 5 % nach Hodenverlust ist also eine Leistungskürzung um 50 % auf 2,5 % gerechtfertigt.
Literatur
Bichler KH (2004) Das urologische Gutachten, 2. Aufl. Springer, Heidelberg/New YorkCrossRef
Gieretz HG, Ludolph E (2019) Bemessung der Invalidität bei Funktionseinbußen des Herzens. Kursbuch der ärztlichen Begutachtung, Hrsg. Ludolph, Schürmann, Gaidzik, ecomed Medizin, Landsberg am Lech
Kellgren JM, Jeffrey MR, Ball J (Hrsg) (1963) Proposed diagnostic criteria for use in population studies. In: The epidemiology of chronic rheumatism, Bd I. Blackwell, Oxford, S 326
Lehmann R (2001) Die Bewertung der erektilen Dysfunktion in der privaten Unfallversicherung. Versicherungsmedizin 53:144 ff
Lehmann R, Ludolph E (2018) Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung, 5. Aufl. VVW Verlag, Karlsruhe
Ludolph E (2018) Private Unfallversicherung: Die Bemessung von Unfallfolgen im Bereich der Schulter. MedSach 114 2/2018: 69 ff
Ludolph E, Lehmann R (2007) Die Bemessung der Invalidität nach Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenks sowie nach Versteifung des Hand- bzw. des Schultergelenks in der privaten Unfallversicherung. MED SACH 103(2):45 ff
Widder B, Gaidzik PW (2018) Begutachtung in der Neurologie, 3. Aufl. Georg Thieme, Stuttgart