Orthopädie und Unfallchirurgie
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Verfasst von:
Max Mann
Publiziert am: 19.08.2022

Polydaktylie

Von Polydaktylie spricht man bei überzähligen Fingern oder Fingeranteilen. Die Doppelungen können einfach und mit wenig Funktionsverlust sein oder aber komplex mit massiven Skelettveränderungen und Funktionsverlusten. Die Veränderungen betreffen nicht nur die Knochen, sondern es sind auch Sehnen, Sehnenscheiden, Ringbänder, Gelenke und Muskeln betroffen.

Einleitung

Von Polydaktylie spricht man bei überzähligen Fingern oder Fingeranteilen. Die Doppelungen können einfach und mit wenig Funktionsverlust sein (Abb. 1) oder aber komplex mit massiven Skelettveränderungen und Funktionsverlusten (Abb. 2). Die Veränderungen betreffen nicht nur die Knochen, sondern es sind auch Sehnen, Sehnenscheiden, Ringbänder, Gelenke und Muskeln betroffen.

Epidemiologie

In 30–40 % der Fälle ist ein beidseitiges Vorkommen beschrieben. Doppelungen können isoliert oder, vor allem bei gleichzeitigem Vorkommen von Doppelung an den Füßen, im Rahmen eines Fehlbildungssyndroms auftreten.

Genetische Disposition

Bei Kombination mit Polysyndaktylien der Füße und bei ulnaren Polydaktylien ist häufig eine Erblichkeit vorhanden. Diese tritt in unterschiedlicher Ausprägung auf und ist häufig autosomal dominant vererbt. Ulnare Polydaktylien sind bei der aus Afrika stammenden Bevölkerungsgruppe 10-mal häufiger als bei der aus Europa stammenden.

Ätiologie

Zwischen der 4. und 8. Schwangerschaftswoche wird die obere Extremität ausgebildet. Die Ausbildung der Hand erfolgt in dieser Zeit entlang der dorsoventralen, der radial-ulnaren und der proximal-distalen Achse. Die Differenzierung und das Wachstum gehen von spezielle Zellbereichen, die genetisch und molekular gesteuert werden, aus. Bei der Polydaktylie liegt die Störung zumeist in der radial-ulnaren Achse (Oberg et al. 2004).

Klassifikation

Die Klassifikation erfolgt nach Lokalisation:

Präaxiale Polydaktylie, Doppelung der radialen Finger, Doppeldaumen

Definition
Doppelung des Daumens oder Anteile des Daumens. Je nach Ausprägung ohne Funktionsverlust oder mit relevanten Funktionseinschränkungen und Achsabweichungen (Abb. 3).
Epidemiologie
Die Häufigkeit der Daumendoppelung wird mit 2,3 auf 10.000 Lebendgeburten angegeben (Ekblom et al. 2010). Sie tritt in der asiatisch stämmigen Bevölkerung am häufigsten auf.
Ätiologie
In der 4. bis 8. Schwangerschaftswoche kann es durch eine Störung der SHH-Expression zur radialen Polydaktylie kommen. Bei Mutationen von SHH und GlI3 sind Daumendoppelungen beschrieben (Lettice und Hill 2005).
Klassifikation
Die am meisten gebräuchliche Einteilung ist die Klassifikation nach Wassel (1969), 2007 erweitert um die atypischen Doppeldaumen in der Rotterdam-Klassifikation (Abb. 4) (Zuidam et al. 2008). Es ist eine radiologische Klassifikation, die wenig Aussage über die zusätzlich veränderten Strukturen (atypische Sehnenverläufe, Gelenkinstabilitäten) macht.
Die häufigste Form ist der Typ IV mit über 30 % der Fälle (Al-Qattan 2010).
Klinik
Die Daumendoppelungen reichen von einem rudimentären Anhängsel über unterschiedliche Höhen bis zur vollständigen Doppelung des Daumenstrahls. Die Klinik und Komplexität sind abhängig von der Höhe der Duplikation und der betroffenen Strukturen.
Meist ist die ulnare Doppelung die besser strukturierte Doppelung.
Aufgrund der Veränderungen an Sehnen und Sehnenansatzorten kann es zu Deviationen oder aber auch fehlender aktiver Beweglichkeit kommen. In vielen Fällen ist die aktive Streckung oder Beugung im Endgelenk eingeschränkt.
Radiologisch stellt sich die Doppelanlage mit knöchernen Deformitäten dar (s. Klassifikation).
Therapieziel
Einen stabilen, möglichst achsgerechten und gut funktionierend Daumen zu schaffen.
Therapie
Operativ durch Entfernung der störenden gedoppelten Strukturen und Stabilisierung, ggf. Aufbau der bleibenden Doppelung.
Beispiel 1: Einfacher Doppeldaumen Wassel IV (Abb. 5 und 6)
Therapie: Resektion des schmächtigeren Daumens, Rekonstruktion des Grundgelenks und der Seitenbänder, Verschmälerung des Metakarpaleköpfchens, Reinsertion der Thenarmuskulatur, Anpassung der Weichteile.
Beispiel 2: Komplizierter Doppeldaumen Wassel IV Tph u/r
Bei symmetrischen Doppelungen (Abb. 7) kann über eine Fusion der gedoppelten Knochen ein kräftiger achsgerechter Daumen geschaffen werden (Abb. 8). Beschrieben wurde diese Technik durch Bilhaut 1890 (Bilhaut 1890). Die Beweglichkeit im fusionierten Endgelenk ist meist schlecht. Häufig verbleibt am Nagel ein zentraler Spalt oder eine Aufwerfung. Es resultiert aber meist ein kräftiger Daumen ohne wesentliche Achsabweichung.
Beispiel 3: Komplexer Doppeldaumen mit Triphalangie
Bei komplexen Doppeldaumen (Abb. 9) kommen auch andere Techniken in Betracht. In diesem Fall wurde das distale Grund- und Endglied der ulnaren Doppelung auf das proximale Grundglied der radialen Doppelung transponiert (Abb. 10).
Zusammenfassung
Bei der großen Variabilität der radialen Polydaktylie bedarf es einer differenzierten und vom Ausgangsbefund abhängigen, teilweise sehr komplexen operativen Therapie, die zu einem funktionell und ästhetisch guten Ergebnis führt und möglichst sekundäre Korrekturoperationen vermeidet.
Dennoch kommt es selbst bei sehr erfahrenen Operateuren in 15 % der Fälle zu Fehlstellungen oder Instabilitäten im Verlauf des Wachstums, die eine erneute operative Korrektur erfordern (Dijkman et al. 2016).

Zentrale Polydaktylie, meist mit einer Syndaktylie als zentrale Polysyndaktylie vorkommend

Definition
Eine Doppelung von Anteilen des 4. und ggf. auch 3. Strahls mit komplexen Syndaktylien (Abb. 11).
Ätiologie
Die zentralen Polysyndaktylien sind häufig erblich (autosomal dominant, HOX-Gen-Mutation).
Klassifikation
Die Polysyndaktylien weisen radiologisch eine erhebliche Varianz auf. Die radiologische Klassifikation erfolgt nach der Höhe und Art der Doppelung (Abb. 12) (Wall et al. 2015).
Klinik
Die betroffenen Strahlen weisen meist eine eingeschränkte Beweglichkeit auf. Betroffen ist am häufigsten der Ringfinger. Je weiter proximal die Doppelung auftritt, desto größer ist meist die Einschränkung von Form und Funktion.
Im Wachstum kommt es meist zu einer Verschlechterung der Stellung der Finger wegen Dysbalance der intrinsischen Muskulatur und häufig atypisch verlaufender Beugesehnen.
Die operativen Ergebnisse der Polysyndaktylien Typ 1 und 2 sind oft nicht befriedigend.
Therapieprinzip
Syndaktylietrennung und Resektion der Doppelung, je nach Ausprägung mit zusätzlichen Korrekturosteotomien und Arthrodesen.
Beispiel 1: Komplexe Polysyndaktylie Typ 3 mit nur rudimentärer Doppelung des Endglieds (Abb. 13)
Klassische Trennung der Syndakylie mit Kuppenplastiken unter Resektion der rudimentären Endglieddoppelung (Abb. 14).
Beispiel 2: Komplexe Polysyndaktylie Typ 1A mit komplexen Doppelungen ab Metakarpale 3 (Abb. 15)
Trennung der Syndakylie mit Kuppenplastiken unter Resektion der rudimentären Doppelung des 4. Fingers und partieller Resektion des kreuzenden Metakarpalknochens (Abb. 16) mit deutlicher Funktionseinschränkung von Mittel und Ringfinger.

Postaxiale Polydaktylie, Doppelung der ulnaren Finger, Kleinfingerdoppelung

Definition
Bei den postaxialen Polydaktylien kommt es zur Doppelung des Kleinfingers bzw. Kleinfingeranteilen.
Epidemiologie
Die Inzidenz der postaxialen Polydaktylie in Europa wird mit lediglich 3,5/10.000 angegeben. Sie tritt in der afrikanisch-stämmigen Bevölkerung am häufigsten auf.
Klassifikation
Aufgrund der geringeren Komplexität hat sich eine recht einfache Klassifikation bewährt. Unterschieden wird die gut ausgebildete (Typ A, Abb. 17) und die rudimentäre Form (Typ B, Abb. 18) (Temtamy und McKusuck 1978).
Therapie
Bei der Resektion der gut ausgebildeten Form müssen die gemeinsamen Gelenke stabilisiert, ggf. der Abductor minimi transponiert und häufig auch der proximale Gelenkanteil (meist das gemeinsame MHK5-Köpfchen) verschmälert werden.
Die rudimentäre Form hat keine knöcherne Verbindung zu der meist normal ausgebildeten radialen Doppelung. Hier reicht eine einfache Abtragung unter der Berücksichtigung der in die Doppelung ziehenden Gefäß-Nerven-Bündel. In der Literatur werden flottierende Kleinfinger mit einem schmalen Steg häufig einfach abgebunden. Das Resultat sind oft kleine warzenförmige Narben.
Die Kombination von radialer/ulnarer Polydaktylie, zentraler/ radialer Polydaktylie oder zentraler/ulnarer Polydaktylie treten selten auf.
Literatur
Al-Qattan MM (2010) The distribution of the types of thumb polydactyly in a Middle Eastern population: a study of 228 hands. J Hand Surg Eur 35(3):182–187CrossRef
Bilhaut M (1890) Guerison d’un pouce bifide par un nouveau procède operatoire. Congres Franç de Chir 4:576–580
Dijkman RR, van Nieuwenhoven CA, Hovius SE, Hülsemann W (2016) Clinical presentation, surgical treatment, and outcome in radial polydactyly. Handchir Mikrochir Plast Chir 48(1):10–17. https://​doi.​org/​10.​1055/​s-0042-100460CrossRefPubMed
Ekblom AG, Laurell T, Arner M (2010) Epidemiology of congenital upperlimb anomalies in 562 children born in 1997 to 2007: a total popu-lation study from Stockholm, Sweden. J Hand Surg Am 35(11):1742e1754CrossRef
Lettice LA, Hill RE (2005) Preaxial polydactyly: a model for defective long-range regulation in congenital abnormalities. Curr Opin Genet Dev 15(3):294–300CrossRef
Oberg KC, Greer LF, Naruse T (2004) Embryology of the upper limb: the molecular orchestration of morphogenesis. Handchir Mikrochir Plast Chir 36(2–3):98–107PubMed
Temtamy SA, McKusuck VA (1978) The genetics of hand malformations. Alan R. Liss, New York, S 364–372
Wall LB, Bae DS, Oishi SN, Calfee RP, Goldfarb CA (2015) Synpolydactyly of the hand: a radiographic classification. J Hand Surg Eur Vol 41(3):301–307. https://​doi.​org/​10.​1177/​1753193415598281​CrossRefPubMed
Wassel HD (1969) The results of surgery for polydactyly of the thumb. A review. Clin Orthop 64:175–193PubMed
Zuidam JM, Selles RW, Ananta M, Runia J, Hovius SER (2008) A classification system of radial polydactyly: inclusion of triphalangeal thumb and triplication. J Hand Surg 33(3):373–377CrossRef