Skip to main content
Orthopädie und Unfallchirurgie
Info
Publiziert am: 05.05.2022

Unterschenkelbrüche bei Kindern: Allgemeines

Verfasst von: Johannes Mayr und Annelie M. Weinberg
Durch die paarige Anordnung der Unterschenkelknochen sind Beinlängendifferenzen nach Unterschenkelfrakturen im Wachstumsalter selten. Brüche des Unterschenkels im Kindesalter weisen häufig eine Reststabilität auf und können somit konservativ im Gipsverband behandelt werden. Partielle stimulative Wachstumsstörungen treten vor allem nach in Valgusfehlstellung verzögert heilenden, proximal metaphysären Tibiafrakturen und distalen metaphysären Tibiafrakturen auf. Hemmende Wachstumsstörungen treten im Unterschenkelbereich vor allem nach distalen epimetaphysären Tibiafrakturen im Innenknöchelbereich auf (Salter-Harris-lV-Verletzungen). Brüche im Unterschenkelbereich können vorübergehend zu einer deutlichen Einschränkung der Mobilität der Kinder führen. Eine begleitende Physiotherapie kann mithelfen, die Mobilität rasch wieder zu erlangen und nach Abheilung der Fraktur ein normales Gangbild schneller wieder zu erlernen. An Komplikationen werden im Unterschenkelbereich vor allem unerwünschte Gipsbehandlungsfolgen und verzögerte Frakturheilungen beobachtet. Die wichtigste Akutkomplikation nach Frakturen im Unterschenkelbereich stellt das Kompartmentsyndrom dar. Insgesamt ist jedoch die Prognose von Frakturen im Unterschenkelbereich bei Kindern sehr günstig.

Einleitung

Die untere Extremität weist die häufigsten, nicht die Wachstumsfuge betreffenden Knochenbrüche im Kindesalter auf. Der Frakturtyp, der Unfallmechanismus, die Häufigkeit der verschiedenen Läsionen und die Lokalisation der Brüche werden entscheidend durch das Alter der Patienten beeinflusst. Die meisten Frakturen des Unterschenkels können mit gutem Erfolg konservativ und komplikationsarm behandelt werden (Raducha et al. 2019). Dennoch muss insbesondere die metaphysäre proximale Biegungsfraktur der Tibia (Yang et al. 2019) und die Salter-Harris-Typ-III- und -Typ-IV-Verletzung der distalen Tibia (Cottalorda et al. 2008) erkannt und entsprechend behandelt werden, um die Gefahr einer Wachstumsstörung zu minimieren.
Ein Bruch des distalen Unterschenkels und insbesondere das Sprunggelenkdistorsionstrauma sind häufige Verletzungen im Wachstumsalter. Der Aufwand der Therapie muss einem klaren Konzept folgen, da hier aus ökonomischen Gesichtspunkten ein Potenzial zu Einsparungen besteht. In den letzten 25 Jahren ist ein Trend hin zur vermehrten operativen Stabilisation von Unterschenkelfrakturen besonders bei jugendlichen Mädchen (über 10 Jahre alt) und Knaben (über 12 Jahre alt) zu beobachten (Ho 2016).

Entwicklung und Wachstum

Ossifikationskerne und Zeitpunkt des Fugenschlusses

Zu Beginn der 5. Schwangerschaftswoche werden die paddelförmigen Knospen der unteren Extremität sichtbar. Sie bestehen aus einem mesenchymalen Kern, der aus dem parietalen Mesoderm aussprosst, und sind von Ektoderm bedeckt. In der 6. Schwangerschaftswoche treten die Knorpelspangen des Beinskeletts auf, und die Fußplatte grenzt sich durch eine zirkuläre Einschnürung ab.
Die Tibiadiaphyse beginnt am Ende des 2. Schwangerschaftsmonats (Scheitel-Steiß-Länge: 19 mm) zu verknöchern. Wie bei allen diaphysären Knochenanteilen handelt es sich im Bereich des Tibiaschafts um eine perichondrale Knochenbildung. Der Knochenkern der proximalen Epiphyse ist in 77 % der Neugeborenen zum Zeitpunkt der Geburt, spätestens aber einige Monate postpartal, ausgebildet. Im Bereich der distalen Epiphyse entsteht der Knochenkern erst im 6. Lebensmonat. Im Bereich der Innenknöchelspitze kann es gelegentlich zur Ausbildung eines multifokalen Ossifikationszentrums kommen. Dieses kann auch noch später (10.–11. Lebensjahr) entstehen und verschmilzt anschließend mit dem Innenknöchelossifikationskern. Nur in seltenen Fällen bleibt dieser Zusammenschluss aus, sodass ein akzessorischer Knochenkern bis zum endgültigen Fugenschluss verbleibt (Love et al. 1990).
Im Gegensatz zu den langen Röhrenknochen der oberen Extremität und des Oberschenkels erfolgt das Längenwachstum der Tibia zu nahezu gleichen Anteilen an der proximalen und distalen Epiphyse. Es besteht lediglich ein geringes Überwiegen der proximalen Epiphyse mit 55 % gegenüber 45 % der distalen Fuge. Das Längenwachstum endet distal früher als proximal. Der vollständige Verschluss der distalen Fuge erfolgt zwischen dem 16.–19. Lebensjahr, während der proximale Verschluss erst nach dem 19. Lebensjahr stattfindet. Man muss allerdings davon ausgehen, dass mit Beginn des partiellen Verschlusses der distalen Wachstumsfuge, der individuell sehr unterschiedlich und mitunter schon ab dem 10. Lebensjahr erfolgt, kein signifikantes Längenwachstum distal mehr erfolgt (Abb. 1).

Spontankorrektur

Die biologischen Korrekturmechanismen, die der spontanen Korrektur posttraumatischer Fehlstellungen im Rahmen des Skelettwachstums zugrunde liegen, unterscheiden sich am Unterschenkel nicht von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Prinzipiell gilt, dass Fehlstellungen in Richtung der Hauptbewegungsachsen der benachbarten Gelenke besser korrigiert werden können als Fehlstellungen in anderen Ebenen. Für den Unterschenkel bedeutet dies, dass besonders gelenknahe Ante- und Rekurvationsfehlstellungen besser ausgeglichen werden als Varus- oder Valgusfehlstellungen. Rotationsfehlstellungen werden hingegen nur bei jungen Kindern (unter 6 Jahre alt) in geringem Umfang remodelliert.
Die Korrektur dieser Achsenfehlstellungen erfolgt sowohl über direkte periostale/endostale als auch über epiphysäre Mechanismen. Im Bereich der Fehlstellung erfolgt die Korrektur durch endostalen Abbau an der konvexen und periostalen Anbau an der konkaven Seite, während gleichzeitig die durch die Fehlstellung direkt betroffene Fuge durch ungleichmäßiges Längenwachstum wieder horizontal ausgerichtet wird. Bei isolierten Seit-zu-Seit-Verschiebungen erfolgt das Remodeling ebenfalls durch periostalen und endostalen Umbau. Als Faustregel gilt, dass Achsenfehlstellungen nur bis zum 10. Lebensjahr gut spontan korrigiert werden.
Das Korrekturpotenzial ist größer, wenn die Fehlstellung in der Nähe einer Wachstumsfuge liegt. Auch in der Frontalebene sind Unterschiede in der Spontankorrektur zu verzeichnen. Varusfehlstellungen korrigieren sich besser als Valgusfehlstellungen. Gründe hierfür könnten einerseits der dominante Muskelzug an der lateralen Unterschenkelseite und andererseits die physiologische Korrektur der angeborenen Varusfehlstellung darstellen. Gerade an der unteren Extremität sollte jedoch das Potenzial der Spontankorrektur nicht ausgereizt werden.
Die spontane Korrektur von Rotationsfehlstellungen, wie sie für den Oberschenkel und den Oberarm nachgewiesen wurden (v. Laer 1977; Oberhammer 1980), scheint am Unterschenkel zwar denkbar, ist aber bislang nicht sicher nachgewiesen worden. Eine gewisse Korrekturfähigkeit für Rotationsfehler ist im Rahmen der Detorsion der Tibia erklärbar. Da diese Detorsion aber zu rund 90 % vor dem 8. Lebensjahr abläuft und anschließend nur noch sehr langsam erfolgt (Keppler 2018) und Rotationsfehlstellungen am Unterschenkel klinisch gut diagnostiziert werden können, sind diese Überlegungen besser nicht in die Primärtherapie zu integrieren. Wir empfehlen die primäre Korrektur von Rotationsfehlstellungen durch Reposition.

Stimulative Wachstumsstörung

Nicht nur während der Frakturheilung, sondern auch während der Reparationsvorgänge werden die Wachstumsfugen durch Hyperämie angeregt. Partiell stimulierende Wachstumsstörungen treten besonders nach wachstumsfugennahen, metaphysären Frakturen im Bereich der proximalen und distalen Tibia auf, wenn diese verzögert in Valgusfehlstellung verheilen (Cozen 1953; Yang et al. 2019). Das überschießende Längenwachstum der Tibia ist deutlich weniger stark ausgeprägt als jenes des Femurs und beträgt selten >1,0 cm. Das Ausmaß der Verlängerung hängt dabei vor allem von der Dauer der Knochenheilung ab (Konsolidierungszeit und Reparationszeit). Ebenso ist die primäre Frakturverkürzung zur Prävention des Längenüberschusses kritisch zu sehen, da die entstehende Seit-zu-Seit-Verschiebung das Längenwachstum erst recht fördert und beide Knochen ja weder synchron gebrochen sind noch in ihren Längenalterationen synchron reagieren.

Hemmende Wachstumsstörungen

Die partielle sowie die vollständige, hemmende Wachstumsstörung kann an den distalen wie auch an den proximalen Wachstumsfugen auftreten.

Chirurgische und spezielle Anatomie

Die Tibia unterliegt im Rahmen des Wachstums in allen 3 Ebenen zum Teil ausgeprägten Veränderungen der Achsen. Zum Zeitpunkt der Geburt besteht eine ausgeprägte Varus- und Innenrotationsstellung der unteren Extremität. Zusätzlich können Hüft- und Kniegelenk nicht vollständig gestreckt werden. Im Bereich des Fußes liegt eine kombinierte Adduktions-Supinations-Stellung in Hakenfußposition vor. Die „Varuskorrektur“ beginnt am Oberschenkel. Die O-Bein-förmige Krümmung des Unterschenkels bleibt ungefähr bis zum Ende des 3. Lebensjahrs bestehen. Im 4.–5. Lebensjahr beschränkt sich diese Krümmung auf das distale Unterschenkeldrittel. Da die Kniegelenke noch weiter nach medial wandern, entsteht eine physiologische Valgusstellung, die erst im 1. Lebensjahrzehnt ausgeglichen wird.
Korrespondierend zu diesen Veränderungen ändert sich der Winkel zwischen Wachstumsfuge und Schaftachse ebenso wie der Winkel zwischen Wachstumsfuge und Gelenkspalt. Während der proximale Epiphysenachsenwinkel nur sehr geringen Veränderungen unterliegt, zeigt sich die Korrektur der angeborenen O-Stellung im Winkel zwischen Gelenkfläche und Schaftachse, der von knapp über 100° zum Zeitpunkt der Geburt auf 93° im Erwachsenenalter abnimmt. Ebenso wird die Rekurvation der proximalen Tibia von 27° des Neugeborenen auf 17° im 3. Lebensjahr reduziert. Ab dem 10. Lebensjahr erfolgt nur noch eine geringe Veränderung der Retroversion.
Die distale Wachstumsfuge verläuft bei Geburt von medial nach lateral abfallend, während der Gelenkspalt umgekehrt von medial nach lateral aufsteigend verläuft. Die horizontale Ausrichtung erfolgt bis etwa zum 8. Lebensjahr.
Vor der Geburt besteht eine Innenrotation der Sprunggelenksebene von 10° gegenüber der Kniegelenksebene. Beim Neugeborenen decken sich die Achsen und werden zunehmend im Sinne einer Außenrotation verdreht. Diese Rotation ist um das 10. Lebensjahr abgeschlossen. Die Derotation ist in den ersten 6 Monaten mit 10° am größten. Vom 6. Monat bis zum Ende des 3. Lebensjahrs werden etwa 5° und vom 4. bis zum 10. Lebensjahr etwa 8° außenrotiert (Lang und Wachsmuth 1972).

Zusammenfassung

Durch die paarige Anordnung der Unterschenkelknochen sind Beinlängendifferenzen nach Unterschenkelfrakturen im Wachstumsalter selten. Brüche des Unterschenkels im Kindesalter weisen häufig eine Reststabilität auf und können somit konservativ im Gipsverband behandelt werden. Partielle stimulative Wachstumsstörungen treten vor allem nach in Valgusfehlstellung verzögert heilenden, proximal metaphysären Tibiafrakturen und distalen metaphysären Tibiafrakturen auf. Ihre Häufigkeit kann durch exakte Reposition der Fehlstellung und entsprechende stabile Retention reduziert werden. Hemmende Wachstumsstörungen treten im Unterschenkelbereich vor allem nach distalen epimetaphysären Tibiafrakturen im Innenknöchelbereich auf (Salter-Harris-lV-Verletzungen). Dabei kommt es infolge eines vorzeitigen, partiellen oder kompletten, knöchernen Wachstumsfugenverschlusses zur hemmenden Wachstumsstörung. Durch korrekte Reposition und stabile Retension kann das Risiko eines vorzeitigen Wachstumsfugenverschlusses zwar reduziert, jedoch nicht völlig beseitigt werden.
Auch im Unterschenkelbereich zeigen Fehlstellungen, die in der Hauptbewegungsebene von Kniegelenk oder oberem Sprunggelenk liegen, im Wachstumsalter ein höheres Korrekturpotenzial als Fehlstellungen in anderen Ebenen. Dieses Korrekturpotenzial ist umso höher, je näher die Fraktur an der Wachstumsfuge liegt und je jünger das Kind ist. Brüche im Unterschenkelbereich können vorübergehend zu einer deutlichen Einschränkung der Mobilität der Kinder führen. Eine begleitende Physiotherapie kann mithelfen, die Mobilität rasch wieder zu erlangen und nach Abheilung der Fraktur ein normales Gangbild schneller wieder zu erlernen.
An Komplikationen werden im Unterschenkelbereich vor allem unerwünschte Gipsbehandlungsfolgen, die jedoch durch eine gute Gipstechnik großteils vermeidbar sind, und verzögerte Frakturheilungen beobachtet. Verzögerte Frakturheilungen können durch eine korrekte Reposition und stabile Retension sowie ggf. zusätzliche Gabe von Vitamin D3 und Vitamin K2 (Osteocalcin) günstig beeinflusst werden.
Die wichtigste Akutkomplikation nach Frakturen im Unterschenkelbereich stellt das Kompartmentsyndrom dar, das sich häufig durch ungewöhnlich starke Unterschenkelschmerzen, eine Sensibilitätsstörung im Fußrückenbereich und sehr schmerzhafte Beweglichkeit der Zehen ankündigt. Betroffene Kinder zeigen mitunter deutliche Angst und Unruhe während der Entwicklung des Kompartmentsyndroms. Geschlossene Gipsverbände müssen in dieser Situation rasch breit geöffnet oder entfernt werden. Die Behandlung des akuten Kompartmentsyndroms erfolgt im Kindesalter wie im Erwachsenenalter mittels notfallmäßiger Logenspaltung. Insgesamt ist jedoch die Prognose von Frakturen im Unterschenkelbereich bei Kindern sehr günstig.
Literatur
Cottalorda J, Béranger V, Louahem D et al (2008) Salter-Harris Type III and IV medial malleolar fractures: growth arrest: is it a fate? A retrospective study of 48 cases with open reduction. J Pediatr Orthop 28(6):652–655. https://​doi.​org/​10.​1097/​BPO.​0b013e318182f74c​CrossRefPubMed
Cozen L (1953) Fracture of the proximal portion of the tibia in children followed by valgus deformity. Surg Gynecol Obstet 97(2):183–188PubMed
Ho CA (2016) Tibia shaft fractures in adolescents: how and when can they be managed successfully with cast treatment? J Pediatr Orthop 36(Suppl 1):S15–S18. https://​doi.​org/​10.​1097/​BPO.​0000000000000762​CrossRefPubMed
Keppler P (2018) Behandlung von Torsionsabweichungen am Unterschenkel [Treatment of rotational malalignment of the lower leg]. Unfallchirurg 121(3):191–198. https://​doi.​org/​10.​1007/​s00113-017-0452-9CrossRefPubMed
Laer L. von, Beinlängendifferenzen und Rotationsfehler nach Oberschenkelschaftfrakturen im Kindesalter. Arch Orthop Unfall-Chir 1977; 89:121–137. https://​doi.​org/​10.​1007/​BF00415337
Lang J, Wachsmuth W (1972) Bein und Statik, 2. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg/New YorkCrossRef
Love SM, Ganey T, Ogden JA (1990) Postnatal epiphyseal development: the distal tibia and fibula. J Pediatr Orthop 10(3):298–305. https://​doi.​org/​10.​1097/​01241398-199005000-00002CrossRefPubMed
Oberhammer J (1980) Degree and frequency of rotational deformities after infant femoral fractures and their spontaneous correction. Arch Orthop Trauma Surg 97(4):249–255. https://​doi.​org/​10.​1007/​BF00380705CrossRefPubMed
Raducha JE, Swarup I, Schachne JM, Cruz AI Jr, Fabricant PD (2019) Tibial shaft fractures in children and adolescents. JBJS Rev 7(2):e4. https://​doi.​org/​10.​2106/​JBJS.​RVW.​18.​00047CrossRefPubMed
Weinberg A-M, Kutschera C, Kutscha-Lissberg F, Mayr J, Kal E (2006) Unterschenkel. In: Weinberg A-M, Tscherne H (Hrsg) Unfallchirurgie im Kindesalter. Teil 2: Untere Extremität, Wirbelsäule, Körperhöhlen, Besonderheiten des kindlichen Skeletts. Springer, S 741–805
Yang BW, Shore BJ, Rademacher E, May C, Watkins CJ, Glotzbecker MP (2019) Prevalence of Cozen‘s phenomenon of the proximal tibia. J Pediatr Orthop 39(6):e417–e421. https://​doi.​org/​10.​1097/​BPO.​0000000000001354​CrossRefPubMed