Entstehung der Elternselbsthilfe
Die Selbsthilfebewegung begann in Deutschland in den Jahren nach 1950. Zu dieser Zeit wandten sich die Bürger gegen die Entmündigung des Einzelnen durch Fachleute und Institutionen. So galten damals die Gesundheitsorganisationen als zu groß, zu stark bürokratisiert sowie weit entfernt vom Patienten – und überkontrolliert.
Die vor allem medizinische und ärztliche Hilfe der Experten für den Patienten wurde als „koloniales hierarchisches“ Recht der „Wissenden“ über die „Unwissenden“ verstanden. Mit der Gründung der Selbsthilfegruppen – Anonyme Alkoholiker (1953), Lebenshilfe für geistig behinderte Kinder (1958), Verband Deutscher Vereine zur Förderung spastisch gelähmter Kinder (1959) – positionierten sich Eltern mit klar formulierten Forderungen als Wissende. Ihre Bedürfnisse und Sorgen um die Entwicklung ihrer Kinder seien wahrzunehmen und vor allem zu respektieren.
Inzwischen existieren rund 10.000 Elternselbsthilfegruppen zu den unterschiedlichsten – vor allem chronischen und seltenen (ca. 8000) – Krankheiten. Mittlerweile arbeiten in Elternselbsthilfegruppen betroffene Eltern aktiv als Experten zu chronischen und seltenen Krankheiten: z. B. an Forschungsprojekten und Tagungen, Aussagen zu Entwicklungsprognosen bei betroffenen Kindern, Erstellen von Aufklärungsschriften für andere betroffene Eltern, Vernetzen ihres Wissens national und international (vor allem zu seltenen Krankheiten) mit dem Fachwissen von Kinder- und Jugendärzten, Spezialisten und Therapeuten.
Elternselbsthilfegruppen waren es, die die seltenen Krankheiten bei ihren Kindern enttabuisierten. Mit dem Erfahrungswissen der betroffenen Eltern änderten sich massiv vielfach überholte Voraussagen zu der zukünftigen Entwicklung der Kinder mit besonderen Krankheits- und Entwicklungsgefährdungen. Davon profitierten Experten, Kliniken, Forschungsinstitute bis hin zur Pharma- und Heilmittelindustrie (z. B. „Reha-Kind“), aber auch inhaltlich die Lehrbücher.
Mit dem Einzug des Internets in das gesellschaftliche Leben tauschten sich Eltern untereinander mit ihren Erfahrungen aus, sammelten Informationen aus internationalen
Datenbanken und nahmen damit Ärzten und Experten die Arbeit ab, Spezialinformationen im Einzelfall einholen zu müssen.
Dachverband Kindernetzwerk e. V.
Elternselbsthilfegruppen suchten in Deutschland nicht den Konflikt mit Ärzten und medizinischen Institutionen. Im Gegenteil: Sie suchten und fanden konstruktiv miteinander im Jahr 1992 eine Plattform, z. B. in Kindernetzwerk e. V. (Aschaffenburg) als Dachverband für Elternselbsthilfe.
Kindernetzwerk e. V. versteht sich seit Anbeginn als „Lotse in schwierigen Zeiten“ und damit als Vermittler bei der Durchsetzung von Patienteninteressen unter Einbeziehung der Achtung vor dem bei Kinder- und Jugendärzten seit Ende des 2. Weltkriegs erworbenen immensen Fachwissen. Abgebildet wird diese Lotsenfunktion vor allem in den bundesweiten Kindernetzwerk-Wegweisern
Wer hilft weiter?, wobei dieses Buch mit der 4. Neuauflage über Elternselbsthilfegruppen zu einem Standardwerk aufgestiegen ist. Neue jüngst erschienene Kindernetzwerk-Publikationen sind: „Off-label-use im Kindes- und Jugendalter“, „Familienmedizin und familienorientierte Selbsthilfe im Lebenslauf von Kindern und Jugendlichen“, „Der Wert der Beratungsarbeit der Selbsthilfe“, Übersichtsliste über Patientenregister für Kinder und junge Menschen. Weitere Themenkomplexe sind hinzu gekommen und für alle Anfragenden verfügbar: Daten- und Materialsammlungen zu definierten Erkrankungen; ein Leitfaden zu Therapieverfahren bei der Zerebralparese;
Transition und ihre Umsetzung in der Praxis (inklusive in der Kinder- und Jugendpsychiatrie); Kinder psychisch kranker Eltern; psychische Erkrankungen bei jungen Menschen; Migrationsfamilien und psychische Erkrankungen sind Beispiele für die sich ausweitende Arbeit beim Kindernetzwerk. Seltene Erkrankungen waren seit Gründung von Kindernetzwerk ein Thema, welches sich dadurch auszeichnete, dass hier Eltern auf Anfrage kompetente Antworten erhalten konnten, die von einem kontinuierlich arbeitenden Beraterkreis erarbeitet worden waren. Immer komplizierter werdenden diagnostischen Verfahren in der Humangenetik waren Anlass, das humangenetische Glossar ebenso zu entwickeln, wie auch das Fehlbildungsglossar. Beiden gemeinsam ist, dass Begriffe zu diesen Themen allgemein verständlich definiert werden und damit angeborene Fehlbildungen unter Meidung einer „fachchinesischen Sprache“ erklärt werden. Für Migrantenkinder erklärt sich Kindernetzwerk e. V. mit verantwortlich. Die Forschungsstudie von Kindernetzwerk e. V. „Migrantenfamilien, Flüchtlingskinder und psychische Erkrankungen“ hat gezeigt, dass multikulturelle Behandlerteams erforderlich sind, individuelle Gesundheitsgefährdungen rechtzeitig zu erkennen, insbesondere psychische und psychosomatische Gefährdungen. „Kindernetzwerk News“ vernetzen Anliegen von Eltern mit denen aus der Ärzteschaft und berichten aktuell so auch über für Kinder wichtige Entscheidungen der Gerichtsbarkeit. „Kindernetzwerk News“ sind integraler Bestandteil der Zeitschrift
Kinderärztliche Praxis als offizielles Sprachrohr der Deutschen Gesellschaft für Soziale Pädiatrie und
Jugendmedizin e. V.
Die Elternselbsthilfe erlebte in den letzten Jahrzehnten, dass sich die Prognosen für ihre Kinder zu einem menschenwürdigen Leben vielfach zunehmend verbesserten, ihre ehemals kleinen Kinder immer älter werden. Mit der Zunahme hoch technisierter Diagnostik (z. B. Magnetresonanztomografie, Humangenetik, Stoffwechselanalytik) und Therapie (z. B.
Dialyse, Therapieprotokolle bei bösartigen Erkrankungen) etablierte sich aber leider auch bei den Fachleuten eine Fachsprache, die von Eltern und Betroffenen, aber auch von Ärzten und Therapeuten untereinander vielfach als „Geheimsprache“ nicht mehr verstanden wird.
Hinzu kam, dass mit einer Verfeinerung der Diagnostik und Therapie zunehmend die durch chronische oder seltene Krankheit ausgelösten psychosozialen Entwicklungsprobleme bei den Kindern und Jugendlichen, aber auch die Entwicklungsgefährdungen bei dem Übergang in die Adoleszenz aus dem Blickpunkt der Experten gerieten. Deshalb lag die Forderung nahe, Anschlusskonzepte der medizinischen, ärztlichen und therapeutischen Angebote vernetzt aufzubauen. Auch kamen Forderungen für das Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen auf, Bildungschancen und Chancen zur individuellen Lebensplanung insgesamt für alle Kinder aller Altersstufen mit besonderen Bedürfnissen weiter zu verbessern:
-
Ausbau einer interdisziplinären Zusammenarbeit aller am Kind orientierten Fachdisziplinen,
-
Erweiterung familienorientierter und longitudinal ausgerichteter psychosozialer Beratungs- und Behandlungskonzepte,
-
Ausbau und Erhalt von
Schnittstellen zur Hochleistungsmedizin, inklusive Vernetzung des Wissens über nationale und internationale
Datenbanken,
-
Vernetzung mit Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Sozialämtern, Schulämtern, Frühförderstellen, Kinderkrippen, Kindergärten und Sondereinrichtungen (Sonderschulen) sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Kindernetzwerk e. V. als bundesweit anerkannter Dachverband der Elternselbsthilfe mit einer eigens dafür im Berliner Regierungsviertel eingerichteten Koordinierungsstelle (ab Frühjahr 2016) richtete über 25 Jahre sein Augenmerk unter aktiver Mitwirkung der einzelnen Selbsthilfegruppen somit auf die Etablierung einer großen Koalition (in Politik, Gesellschaft und Fachverbänden) für Kinder und Familien mit besonderen Bedürfnissen (rund 2 Mio. Kinder und Jugendliche mit chronischen und 4 Mio. Menschen mit seltenen Krankheiten).
Ohne Zweifel haben Elternselbsthilfegruppen in Deutschland einen besonderen Weg der Kooperation mit Fachleuten der Pädiatrie, Sozialpädiatrie, Psychologen, Therapeuten und anderen für die Entwicklungsförderung von Kindern ausgewiesenen Fachgruppen gesucht und gefunden. Konfrontationen untereinander und mit Fachgruppen sowie Verbänden werden mehr und mehr als kontraproduktiv abgelehnt. Die Mitwirkung der Elternselbsthilfegruppen ist mittlerweile anerkannt und erwünscht. So haben Elternselbsthilfegruppen Anteil an dem Erhalt und Ausbau von pädiatrischen und sozialpädiatrischen Versorgungsstrukturen bis hin zur Erarbeitung von Leitlinien der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation zu besonderen Krankheitsgruppen. Besonders häufig wird dabei immer wieder auf die zweite bundesweite Befragung „Familien mit chronisch kranken und pflegebedürftigen Kindern“ von Kindernetzwerk e. V. zurückgegriffen. Diese enthält aufschlussreiche Daten und Fakten zur psychosozialen Situation von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit besonderen Bedürfnissen. Sichtbar wird auch in Deutschland die gewachsene Elternkompetenz und der Respekt vor Kindernetzwerk e. V. an der gemeinsamen Erarbeitung eines 1. und 2. Berliner Appells aus den Jahren 2002 und 2012 und damit verbundenen Handlungskatalogen, die sich vor allem an die Gesundheits- und Sozialpolitik wenden:
-
Ausbau individueller Versorgung, Förderung und Beratung;
-
Ausbau einer individualisierten Bildung, flächendeckenden Integration und Inklusion;
-
Patientenorientierung in der universitären Ausbildung unter Mitwirkungen von Selbsthilfegruppen;
-
Mitsprache bei der Gesetzgebung mit dem Ziel, das Kindeswohl generell und im Speziellen für Kinder aller Altersgruppen mit besonderen Bedürfnissen zu sichern,
-
Etablierung eines Teilhabe- und Leistungsgesetzes auf der Basis der vorhandenen 12 Sozialgesetzbücher und damit Schaffung einer neuen Transparenz zur Inanspruchnahme aller sozialen Hilfs- und Stützmöglichkeiten für alle;
-
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention bei zukünftigen Gesetzgebungsverfahren, z. B. zur Pflege bei Kindern;
-
Ausbau von Präventionskonzepten für Kinder aller Altersgruppen mit besonderen Bedürfnissen;
-
Verbesserung der psychosozialen Nachsorge bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen und seltenen Krankheiten über tragfähige interdisziplinäre Versorgungskonzepte;
-
nationales Gesundheitsforschungszentrum mit dem Ziel, die Kindergesundheit weiter zu verbessern und Versorgungsforschung und Forschung zu neuen kindgerechten Medikamenten anzustoßen;
-
Forderung nach regelmäßiger bundesweiter Berichterstattung zur gesundheitlichen und psychosozialen Situation von Kindern und Adoleszenten mit besonderen Bedürfnissen sowie
-
Aufbau eines Referenz- und Dokumentationszentrums und eines pädiatrischen Gesundheitsforschungszentrums zu chronischen und seltenen Krankheiten bei Kindern etc.
Über die Elternselbsthilfe und mit Kindernetzwerk e. V. äußern sich mittlerweile Jugendliche mit fortbestehenden besonderen Bedürfnissen selbst zu ihren Anliegen. So haben sie z. B. – vollständig frei und unabhängig – mit der Pharmaindustrie verständliche Aufklärungsschriften zu Medikamenten erarbeitet.
In der gegründeten Kindernetzwerk Akademie erhalten zukünftig Jugendliche, Eltern und pflegende Angehörige Angebote zur Weiterbildung.
Und die Eltern selbst sind es, die bereits aktiv und konstruktiv an der Errichtung von Kompetenzzentren der Vernetzung in Heidelberg (Zentrum für Kinder- und
Jugendmedizin der Universität), Berlin (Charité, Otto-Heubner Centrum für Kinder- und Jugendmedizin) mitwirkten.
Insbesondere bei Kindern mit seltenen und vor allem auch lebenslang fortbestehenden chronischen Krankheiten sollen unter Beachtung der individuellen Transitionsbedürfnisse (= Vermittlung von pädiatrisch und sozialpädiatrisch erworbenem Fachwissen hinein in die Fachgebiete der Erwachsenenmedizin mit allen komplementären Fachbereichen) vorhandene Ressourcen gebündelt werden, damit Synergieeffekte zu einem Anstieg der Effizienz in den Bereichen früher Diagnostik und Therapie auch in höheren Altersstufen führen können. Elternselbsthilfegruppen fordern zu Recht den Ausbau von Versorgungsforschung, Verbesserung bei der Lehre und Ausbildung von Fachleuten. Medizin und ärztliches Handeln sollen wieder enger an die Bedürfnisse der Patienten und Familien herangeführt werden. Die „sprechende Medizin“ benötigen Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und ihre Familien mehr denn je.
Nach einer repräsentativen Befragung des Allensbach-Instituts aus dem Jahre 2011 gibt mehr als ein Drittel der Bevölkerung (37 %) an, jemanden mit Behinderung in seiner Familie oder im eigenen Verwandten- und Bekanntenkreis zu haben. Diese Beobachtung bestätigt, dass die Menschen an der Behinderung nicht generell vorbeisehen wollen. Demnach hat die Bevölkerung einen ambivalenten, tendenziell eher negativen Eindruck von der aktuellen Situation von Menschen mit Behinderung und ist zu 48 % der Ansicht, dass die Situation dieses Personenkreises als weniger gut (39 %) oder gar nicht gut zu bezeichnen ist.
Kinder mit seltenen und chronischen Krankheiten erreichen mehr und mehr das Erwachsenenalter. Hieraus resultieren neue Herausforderungen für Fachleute und Institutionen, sich vertrauensvoll miteinander zu vernetzen. Viele dieser Patienten benötigen lebenslange fachspezifische Betreuung. Fachleute und nicht nur Institutionen müssen Transitionskonzepte einer Individualhilfe auf höchstem Niveau entwickeln und zukünftig garantieren. Elternselbsthilfegruppen wissen, dass im Erwachsenenbereich parallel zur Pädiatrie sich nun Sozialmedizin neu definieren muss und zwar als Anschlusskonzept der Sozialpädiatrie.
Kindernetzwerk e. V. verfolgt im Interesse der von ihr vertretenen Elternselbsthilfegruppen die Stärkung und den weiteren Ausbau von sozialpädiatrischen Zentren (SPZs) in Deutschland. Hierbei weist sie darauf hin, dass Kinder und Jugendliche mit chronischen und seltenen Krankheiten auf kurzen Wegen SPZs bei kurzen Wartezeiten bis zum ersten Vorstellungstermin in einem SPZ erreichen können müssen. Nichtstaatliche Institutionen, gar die Gerichtsbarkeit sind aufgerufen zu entscheiden, wie lange ein betroffenes Kind warten soll, bis es über umfassende Diagnostik in einem SPZ Hilfe erhalten kann. Es sind die Eltern, die hierzu klare Vorstellungen und Erwartungen haben, die erfüllt werden müssen. Auch stellt Kindernetzwerk e. V. fest, dass die Bezugsgröße „Bemessungszahl Einwohner“ ein denkbar ungeeignetes Instrument ist darüber entscheiden zu wollen, wo und wann weitere SPZs in Deutschland zu gründen sind.