Die ätiologische Abklärung bei Störung der globalen und geistigen Entwicklung ist aus verschiedenen Gründen wichtig. Zum einen hängen Vorsorgeuntersuchungen im Hinblick auf Komorbiditäten sowie weitere Therapie- und Fördermaßnahmen oft wesentlich von einer ursächlichen Diagnose ab. Zudem dient die Diagnosestellung der für die Eltern sehr wichtigen Frage nach der Prognose. Sie ist Grundlage für die weitere Familienplanung, die in einer humangenetischen Sprechstunde erörtert werden sollte. Zum anderen dient die Diagnose aber auch dem Ziel, falsche Verursachungstheorien zu korrigieren, die Behinderung des Kindes zu verstehen und in die Familienbiografie zu integrieren. Hier kann die Aufklärung der Ätiologie befreiend und hilfreich sein.
Generell können genetische und exogene Ursachen unterschieden werden.
Exogene Ursachen für globale Entwicklungsstörungen und geistige Behinderung können prä-, peri- oder postnatal erworben sein. Zu den pränatal erworbenen Ursachen, die oft auch Fehlbildungen und/oder kleine Anomalien verursachen, zählen u. a. toxische Schädigungen durch Alkohol, Medikamente, Drogen etc., Fehl- und Mangelernährung, z. B. Folsäure- oder Vitamin-B
12-Mangel, Infektionen (
Toxoplasma gondii, „other infectious microorganisms“, Rubella-, Zytomegalie- und Herpes-simplex-Viren) und Erkrankungen der Mutter. Perinatale Ursachen können Asphyxien mütterlicher oder kindlicher Genese sein. Postnatal können erworbene geistige Behinderungen Folgen von zentralnervösen Infektionen, schweren
Schädel-Hirn-Traumata, endokrinen Störungen wie z. B.
Hypothyreose, frühen Schädigungen des Gehirns durch exogene Toxen oder Noxen (z. B. Chemotherapie) sein. Länger dauernder bzw. extremer Ernährungsmangel bei Säuglingen kann ebenfalls zu nachhaltigen negativen Folgen für die geistige Entwicklung führen. Belastbare Angaben zur
Prävalenz exogen bedingter geistiger Behinderung liegen nicht vor. Besonders der Anteil, der auf
perinatale Asphyxie zurückzuführen ist, wird jedoch häufig überschätzt und dürfte unter 5 % liegen. Psychosozial bedingte kognitive Auffälligkeiten infolge Deprivation und Misshandlung sind möglich, jedoch oft nach Änderungen der Umweltbedingungen wieder reversibel.
Neue Technologien der genetischen Abklärung haben gezeigt, dass der Anteil genetischer Ursachen sehr hoch ist. Chromosomenstörungen können in insgesamt ca. 20–25 % nachgewiesen werden. Zu den mit der klassischen Chromosomenuntersuchung nachweisbaren numerischen und groben strukturellen Aberrationen kommen besonders mit Micro-Array-Verfahren (
Array-CGH, SNP-Array) identifizierbare Mikrodeletionen und -duplikationen. Zum Nachweis monogener Ursachen werden neben der herkömmlichen Einzelgenanalyse besonders neue Verfahren der Hochdurchsatzsequenzierung (Next Generation Sequencing, NGS) als Multi-Gen-Panel oder genomweite Analyse, meist Exomsequenzierung, eingesetzt. An inzwischen auch großen Kohorten durchgeführte Exom-Analysen haben gezeigt, dass ca. 42 % (Literatur insgesamt: 16–60 %) der Fälle schwerer geistiger Behinderung auf meist seltene, monogene Veränderungen zurückzuführen sind. Besonders häufig sind hierbei heterozygote de novo-Mutationen mit dann sehr niedrigem Wiederholungsrisiko. Das früher gültige Konzept der multifaktoriellen und oft nicht nachweisbaren Genese geistiger Behinderungen ist hierdurch revidiert worden. Durch Veränderungen von Genen auf dem X-Chromosom bedingte Formen der geistigen Behinderung, die sich besonders bei Jungen manifestieren, machen bei diesen etwa 8–10 % aus. Das bekannteste ist hierbei das Fragile-X-Syndrom, das als Trinukleotid-Expansions-Erkrankung derzeit nicht durch NGS-Analysen erfasst wird. Die große Gruppe monogen bedingter
angeborener Stoffwechselerkrankungen bildet bei fehlenden spezifischen Hinweisen zusammen ca. 1 % der geistigen Behinderung ab. Aufgrund der zunehmenden Kenntnis genetischer Ursachen geistiger Behinderung kommt dem Humangenetiker eine zentrale Rolle in der ätiologischen Abklärung zu (Moog 2014). Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Suche nach der Ursache einer geistigen Behinderung nicht bei allen Kindern erfolgreich ist. Insbesondere bei der größten Gruppe der leicht geistig behinderten Kinder lässt sich, besonders bei Fehlen zusätzlicher Symptome, derzeit oft noch keine eindeutige Ursache nachweisen.