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Pädiatrie
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Publiziert am: 27.03.2019

Entwicklungsstörungen und Behinderungen

Verfasst von: Ute Moog und Rainer Blank
Die Beurteilung der kindlichen Entwicklung ist eine zentrale Aufgabe des Kinder- und Jugendarztes. Sie ist Bestandteil der Vorsorgeuntersuchungen (U1–U11, J1-2) oder erfolgt auf Nachfrage der Eltern. Die Abklärung der Ätiologie einer Entwicklungsstörung ist im Hinblick auf die Einleitung oder Anpassung einer adäquaten Therapie und Entwicklungsförderung, Erfassung von Komorbiditäten, Integration in die Familienbiografie und weitere Familienplanung von großer Bedeutung. Mit zunehmender Kenntnis und Abklärungsmöglichkeit genetischer Ursachen (besonders Chromosomenstörungen, monogene Ursachen) gewinnt die Mitbeurteilung durch einen Humangenetiker an Bedeutung. Eine medizinisch-kausale Therapie ist bisher allerdings nur bei einzelnen behandelbaren Krankheitsbildern (u. a. einige angeborene Stoffwechselkrankheiten) möglich. Für die Mehrzahl der Entwicklungsstörungen stehen medizinisch orientierte (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie) und psychologisch-pädagogische Fördermaßnahmen im Vordergrund. Diese sollten rational begründet und an die Symptomkonstellation angepasst eingesetzt werden. Hierzu ist der Bezugsrahmen der International Classification of Functioning, Disability and Health, Children and Youth (ICF-CY) der WHO nutzbar.

Einleitung

Die Beurteilung der kindlichen Entwicklung ist eine zentrale Aufgabe des Kinder- und Jugendarztes. Sie ist immer Teil der 1971 eingeführten und zuletzt 2016 überarbeiteten Vorsorgeuntersuchungen (U1–U11, J1-2). Oft fragen aber auch die Eltern nach der Entwicklung ihres Kindes, vor allem in den ersten Lebensjahren. In diesem Lebensabschnitt werden sowohl genetisch bedingte wie auch prä- und perinatal erworbene Entwicklungsstörungen überwiegend manifest. Die Abklärung der Ätiologie und die Einleitung einer adäquaten Behandlung und Entwicklungsförderung stellen bei abweichender Entwicklung die weiteren Bausteine des Vorgehens dar. Wenngleich eine medizinisch-kausale Therapie bisher nur bei einzelnen Krankheitsbildern möglich ist, wozu einige angeborene Stoffwechselkrankheiten zählen, gewinnt die auf Kenntnis der Ätiologie gründende Behandlung von Teilaspekten und Anpassung des Managements zusehends an Bedeutung. Zur symptomatischen Behandlung stehen für die Mehrzahl der Entwicklungsstörungen medizinisch orientierte (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie) und psychologisch-pädagogische Fördermaßnahmen im Vordergrund. Diese sollten rational begründet und an die Symptomkonstellation angepasst eingesetzt werden. Hierzu ist heute der Bezugsrahmen der International Classification of Functioning, Disability and Health, Children and Youth (ICF-CY) der WHO nutzbar.
Definitionen
Nach ICD-10 ist geistige Behinderung „ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten. Besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten. Eine Intelligenzstörung kann allein oder zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftreten. Der Schweregrad einer Intelligenzstörung wird übereinstimmungsgemäß anhand standardisierter Intelligenztests festgestellt. Die Diagnose hängt wesentlich von der Beurteilung durch einen erfahrenen Diagnostiker ab. Intellektuelle Fähigkeiten und soziale Anpassung können sich verändern. Sie können sich, wenn auch oft nur in geringem Maße, durch Übung, Training und Rehabilitation verbessern.“
Die Definition der American Association on Intellectual and Developmental Disabilities lautet: „Geistige Behinderung ist eine Behinderung, die durch signifikante Einschränkungen sowohl im funktionell-intellektuellen Bereich als auch im adaptiven Bereich charakterisiert ist. Der adaptive Bereich umfasst hierbei viele soziale und praktische Fertigkeiten im Alltag. Die Behinderung beginnt vor dem Alter von 18 Jahren.“
Intelligenzminderungen zwischen einem IQ von 50 und 69 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von etwa 9 bis unter 12 Jahren) werden als leicht bezeichnet. Hierbei bestehen Lernschwierigkeiten in der Regelschule. Allerdings können viele Personen im Erwachsenenalter einfache Arbeiten selbstständig ausführen und soziale Beziehungen eingehen. Mittelgradige Intelligenzminderungen (IQ 35-49) entsprechen bei Erwachsenen etwa einem Intelligenzalter von 6 bis unter 9 Jahren. In Abhängigkeit von den häufig begleitenden psychischen Störungen oder körperlichen Beeinträchtigungen können die Kinder und Jugendlichen ein gewisses Maß an Unabhängigkeit erreichen und eine sprachliche bzw. nichtsprachliche Kommunikationsfähigkeit erwerben. Sie sind oft in praktischen Alltagsbereichen zumindest teilweise selbstständig, brauchen aber in unterschiedlichem Ausmaß Unterstützung im täglichen Leben und bei Beschäftigungen. Eine selbstständige berufliche Tätigkeit ist in der Regel nicht möglich. Bei einer schweren geistigen Behinderung (IQ von 20–34, bei Erwachsenen Intelligenzalter etwa von 3 bis unter 6 Jahren) ist eine andauernde Unterstützung in allen Lebensbereichen notwendig. Aufgrund deutlich eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit sind Verhaltensauffälligkeiten häufig. Eine schwerste geistige Behinderung (IQ unter 20, bei Erwachsenen Intelligenzalter unter 3 Jahre) bedingt vollständige Pflegefähigkeit und Fürsorge. In vielen Studien werden Intelligenzminderungen unter einem IQ von 50 als schwere geistige Behinderung zusammengefasst.
Nach dem deutschen Sozialrecht sind Behinderungen „wesentliche körperliche, geistige oder seelische Funktionseinschränkungen, die als Folge von Anlage- und Entwicklungsstörungen oder bei chronischen Erkrankungen eintreten können, mehr als 6 Monate überdauern, und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigen“ (SGB IX, § 2). Als drohende Behinderung wird ein Zustand definiert, bei dem eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Geistige Behinderung ist definiert als eine signifikante Einschränkung kognitiver (IQ <70) und adaptiver Fähigkeiten mit einem Beginn im Kindesalter (ICD-10).
Dieses Kapitel behandelt im Folgenden globale Entwicklungsstörungen und geistige Behinderung. Umschriebene Entwicklungsstörungen der Sprache und schulischer Fertigkeiten (Dyslexie, Dyskalkulie) werden in Kap. „Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“, die umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (UEMF, „developmental coordination disorder“) als die häufigste motorische Störung des Kindesalters und separate neurobiologische Entität im Rahmen von Kap. „Umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen“ abgehandelt. Autismusspektrumstörungen sind in Kap. „Autistische Störungen“ eingegliedert.

Globale Entwicklungsstörungen – geistige Behinderung

Prävalenz
Nach Daten aus verschiedenen Ländern weisen ca. 3 % aller Kinder bis zum Alter von 6 Jahren eine signifikante globale Entwicklungsstörung auf. Eine geistige Behinderung wäre bei Normalverteilung der Intelligenz statistisch bei ca. 2,3 % der Bevölkerung zu erwarten, die erfasste Prävalenz liegt jedoch auch aktuellen Metaanalysen zufolge bei ca. 1 % (0,22–1,55 %). Im Bereich der schweren geistigen Behinderung (IQ <50) scheint der IQ nicht der Normalverteilung zu folgen: Die Prävalenz wird hier in mehreren Studien mit 0,38 % beziffert und liegt somit deutlich über der statistisch erwarteten Prävalenz von 0,04 %. Das Verhältnis männlicher zu weiblicher Personen mit geistiger Behinderung beträgt ca. 1,5:1 und ist u. a. auf Mutationen in X-chromosomalen Genen zurückzuführen.
Klinische Diagnose
Menschen mit geistigen Behinderungen fallen als Säugling häufig zunächst durch eine globale Störung der Entwicklung und hier durch Änderungen von Bewegungsmustern, Haltung, Tonus, Vigilanz und Regulationsfähigkeit auf. Neurologische Zeichen, wie z. B. Störungen des Tonus, der Motorik oder des Verhaltens können sich spontan wieder normalisieren, zumal wenn diese Auffälligkeiten kein organisches Korrelat haben. Erst mit zunehmendem Alter des Kindes können geistige Funktionen differenzierter beurteilt werden.
Da die Frage einer geistigen Behinderung in der Regel erst ab einem bestimmten Lebensalter bzw. mit der Durchführung standardisierter Intelligenztest abschließend geklärt werden kann, spricht man in den ersten Lebensjahren oft von einer globalen Entwicklungsstörung. Eltern und Kinderärzte orientieren sich in der Praxis meist an „Meilen- oder Grenzsteinen“ der kognitiven und sprachlichen Entwicklung. Von Eltern mithilfe von Meilensteinen ausgefüllte Fragebögen führten jedoch nur bei ca. 1/3 der entwicklungsauffälligen Kinder zu einer korrekten Einschätzung. Im kognitiven Bereich haben sich im Kleinkindalter Testverfahren wie z. B. nach Bayleys (derzeit Version III) sowie der Snijders-Oomen non-verbale Intelligenztest (SON-R 2,5–7 Jahre) bewährt. Im Kindes- und Jugendalter wären dann z. B. der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (HAWIK) zu nennen.
Ätiologie
Die ätiologische Abklärung bei Störung der globalen und geistigen Entwicklung ist aus verschiedenen Gründen wichtig. Zum einen hängen Vorsorgeuntersuchungen im Hinblick auf Komorbiditäten sowie weitere Therapie- und Fördermaßnahmen oft wesentlich von einer ursächlichen Diagnose ab. Zudem dient die Diagnosestellung der für die Eltern sehr wichtigen Frage nach der Prognose. Sie ist Grundlage für die weitere Familienplanung, die in einer humangenetischen Sprechstunde erörtert werden sollte. Zum anderen dient die Diagnose aber auch dem Ziel, falsche Verursachungstheorien zu korrigieren, die Behinderung des Kindes zu verstehen und in die Familienbiografie zu integrieren. Hier kann die Aufklärung der Ätiologie befreiend und hilfreich sein.
Generell können genetische und exogene Ursachen unterschieden werden.
Exogene Ursachen für globale Entwicklungsstörungen und geistige Behinderung können prä-, peri- oder postnatal erworben sein. Zu den pränatal erworbenen Ursachen, die oft auch Fehlbildungen und/oder kleine Anomalien verursachen, zählen u. a. toxische Schädigungen durch Alkohol, Medikamente, Drogen etc., Fehl- und Mangelernährung, z. B. Folsäure- oder Vitamin-B12-Mangel, Infektionen (Toxoplasma gondii, „other infectious microorganisms“, Rubella-, Zytomegalie- und Herpes-simplex-Viren) und Erkrankungen der Mutter. Perinatale Ursachen können Asphyxien mütterlicher oder kindlicher Genese sein. Postnatal können erworbene geistige Behinderungen Folgen von zentralnervösen Infektionen, schweren Schädel-Hirn-Traumata, endokrinen Störungen wie z. B. Hypothyreose, frühen Schädigungen des Gehirns durch exogene Toxen oder Noxen (z. B. Chemotherapie) sein. Länger dauernder bzw. extremer Ernährungsmangel bei Säuglingen kann ebenfalls zu nachhaltigen negativen Folgen für die geistige Entwicklung führen. Belastbare Angaben zur Prävalenz exogen bedingter geistiger Behinderung liegen nicht vor. Besonders der Anteil, der auf perinatale Asphyxie zurückzuführen ist, wird jedoch häufig überschätzt und dürfte unter 5 % liegen. Psychosozial bedingte kognitive Auffälligkeiten infolge Deprivation und Misshandlung sind möglich, jedoch oft nach Änderungen der Umweltbedingungen wieder reversibel.
Neue Technologien der genetischen Abklärung haben gezeigt, dass der Anteil genetischer Ursachen sehr hoch ist. Chromosomenstörungen können in insgesamt ca. 20–25 % nachgewiesen werden. Zu den mit der klassischen Chromosomenuntersuchung nachweisbaren numerischen und groben strukturellen Aberrationen kommen besonders mit Micro-Array-Verfahren (Array-CGH, SNP-Array) identifizierbare Mikrodeletionen und -duplikationen. Zum Nachweis monogener Ursachen werden neben der herkömmlichen Einzelgenanalyse besonders neue Verfahren der Hochdurchsatzsequenzierung (Next Generation Sequencing, NGS) als Multi-Gen-Panel oder genomweite Analyse, meist Exomsequenzierung, eingesetzt. An inzwischen auch großen Kohorten durchgeführte Exom-Analysen haben gezeigt, dass ca. 42 % (Literatur insgesamt: 16–60 %) der Fälle schwerer geistiger Behinderung auf meist seltene, monogene Veränderungen zurückzuführen sind. Besonders häufig sind hierbei heterozygote de novo-Mutationen mit dann sehr niedrigem Wiederholungsrisiko. Das früher gültige Konzept der multifaktoriellen und oft nicht nachweisbaren Genese geistiger Behinderungen ist hierdurch revidiert worden. Durch Veränderungen von Genen auf dem X-Chromosom bedingte Formen der geistigen Behinderung, die sich besonders bei Jungen manifestieren, machen bei diesen etwa 8–10 % aus. Das bekannteste ist hierbei das Fragile-X-Syndrom, das als Trinukleotid-Expansions-Erkrankung derzeit nicht durch NGS-Analysen erfasst wird. Die große Gruppe monogen bedingter angeborener Stoffwechselerkrankungen bildet bei fehlenden spezifischen Hinweisen zusammen ca. 1 % der geistigen Behinderung ab. Aufgrund der zunehmenden Kenntnis genetischer Ursachen geistiger Behinderung kommt dem Humangenetiker eine zentrale Rolle in der ätiologischen Abklärung zu (Moog 2014). Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Suche nach der Ursache einer geistigen Behinderung nicht bei allen Kindern erfolgreich ist. Insbesondere bei der größten Gruppe der leicht geistig behinderten Kinder lässt sich, besonders bei Fehlen zusätzlicher Symptome, derzeit oft noch keine eindeutige Ursache nachweisen.
Diagnostisches Vorgehen
Die Abklärung einer geistigen Behinderung umfasst:
  • Eigenanamnese: Schwangerschaftsverlauf, Geburt, Hinweise auf vorgeburtliche (Infektionen, Alkoholabusus, Medikamente) oder perinatale Schädigungen (Frühgeburtlichkeit, Asphyxie, auffällige Apgar-Werte oder Nabelschnur-pH), angeborene Fehlbildungen, Neugeborenenscreening, Entwicklungsverlauf, Hinweise für krisenhafte Verschlechterung oder Regression, Auxiologie, aktuelle Situation, zusätzliche Erkrankungen (Epilepsie, häufige Infektionen).
  • Familienanamnese: Stammbaum, Konsanguinität der Eltern, multiple Aborte in der Familie, Hinweise für X-chromosomale geistige Behinderung, Schulabschluss der Eltern.
  • Klinische Untersuchung: Körpermaße, Habitus und Körperhaltung, Proportionen, Dysmorphiezeichen, Untersuchung der Haut (gegebenenfalls Wood-Lampe), Haare, Zähne, neurologische und internistische Untersuchung.
  • Verhaltensbeobachtung: Beschreibung des Spontanverhaltens und von spezifischem, evtl. syndromgebundenem Verhalten, autismusspezifisches Verhalten, Schlafverhalten.
  • Testdiagnostik: Feststellung, ob nur Teilbereiche der Entwicklung betroffen sind, z. B. isolierte Störung des Spracherwerbs, oder das Kind eine abklärungsbedürftige globale Entwicklungsstörung aufweist. Verwendung aktuell normierter Entwicklungs- und Intelligenztests.
  • Klinische Zusatzdiagnostik: Untersuchung durch einen Augenarzt (Sehschärfe, Spaltlampenuntersuchung, Augenhintergrund), Hörtest (OAE, BERA). Bei Verdacht auf syndromale geistige Behinderung und/oder Wunsch nach umfassender genetischer Abklärung sollte ein Humangenetiker hinzugezogen werden.
  • Labor: Chromosomenuntersuchung (klassische Zytogenetik und Array-Analyse), Fragiles-X-Syndrom falls mit Klinik vereinbar, gezielte molekulargenetische Diagnostik, (z. B. Rett-, Prader-Willi-, Angelman-Syndrom) bei deutlicher Verdachtsdiagnose, sonst Abklärung monogener Ursachen über umfassende Sequenzierung (Paneldiagnostik, genomweite Analysen), Stoffwechseldiagnostik (Blut: Aminosäuren, Sterole, angeborene Glykolisierungsstörungen [CDG], Homocystein; Urin: organische Säuren, Mukopolysaccharide, Guanidinoverbindungen, Purine/Pyrimidine)
  • Apparative Diagnostik: Kraniale MRT, EEG und Schlaf-EEG (bei Verdacht auf Epilepsie), Neurophysiologie (Nervenleitgeschwindigkeit, NLG; sensibel evozierte Potenziale, SEP); Elektromyografie, EMG (bei neuromuskulären Symptomen); Röntgenaufnahme der Handwurzel (bei Kleinwuchs).
In der MRT-Untersuchung des Gehirns ergeben sich bei geistig behinderten Kindern sehr häufig auffällige Befunde (hohe Sensitivität), diese sind aber nur zu einem kleinen Anteil richtungsweisend und damit im engeren Sinne diagnostisch (niedrige Spezifität). Bei nicht normozephalen Kindern, insbesondere bei Mikrozephalie, ist die diagnostische Aussage einer MRT-Untersuchung allerdings deutlich größer. Auch durch die systematische Erfassung wichtiger Zusatzsymptome kann die diagnostische Effizienz deutlich verbessert werden.
In Tab. 1 ist die diagnostische Wertigkeit einiger häufig angewandter Untersuchungsmethoden auf der Grundlage mehrerer Metaanalysen zusammengefasst.
Tab. 1
Wertigkeit diagnostischer Methoden bei der ätiologischen Abklärung geistiger Behinderung. (Nach Ashwal et al. 2009; Michelson et al. 2011; Moeschler et al. 2014; Ropers 2010; Shevell et al. 2003)
Diagnostische Methoden
Nachweis der Ursache (%)
Kraniales MRT
30–65 allgemeine Auffälligkeiten, davon ~1–2 spezifisch
Bei Mikrozephalie
43–80 spezifische Auffälligkeiten
Genetische Labordiagnostik
 
4–10
Micro-Array (z. B. CGH-Array)
7–15
FMR1- Analyse (Fragiles-X-Syndrom)
~2
Exom-Analyse (bei schwerer geistiger Behinderung)
30–60
Stoffwechseldiagnostik
~1
EEG
~1
Beratung und Intervention
Alle diagnostischen Ergebnisse und die sich daraus ergebenden Konsequenzen müssen den Eltern in verständlicher Weise vermittelt werden. Die Prognose sollte einfühlend und doch klar dargelegt werden. Eine Beratung über Betreuungsmöglichkeiten (Kindergarten, Schule), Fördermaßnahmen und über sozialrechtliche Aspekte sollte vom diagnostischen Prozess nicht abgetrennt werden. Oft können die Ergebnisse einer diagnostischen Abklärung den Eltern nicht in einer Sitzung ausreichend vermittelt werden, da zunächst die Sorge um das Kind und die Betroffenheit der Eltern im Vordergrund stehen. Bei Nachweis einer genetischen Ursache sollte eine Beratung zur Bedeutung der Diagnose für das Kind und die Familie auch in einer humangenetischen Sprechstunde erfolgen, besonders in Hinblick auf weiteren bzw. zukünftigen Kinderwunsch von Eltern und Geschwistern.
Mit der ICF-CY hat die WHO 2007 ein System zur Funktionsbeurteilung bei Kindern und Jugendlichen veröffentlicht und in der deutschen Übersetzung autorisiert, das nicht die einzelnen Defizite, sondern die ganze Person und ihre Teilhabe an der Gesellschaft ins Zentrum stellt. Für die unterschiedlichen Altersgruppen stehen Checklisten u. a. über die Webseite der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. zur Verfügung. Therapieziel ist damit weniger die isolierte Funktionsverbesserung, sondern mehr die längerfristig orientierte Entwicklung von Selbstständigkeit, die selbstbestimmte Teilhabe an der gesellschaftlichen Wirklichkeit und die Entwicklung befriedigender zwischenmenschlicher Beziehungen im Rahmen der geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Individuums. Die ICF-CY ermöglicht eine multiaxiale länder- und fächerübergreifende Beschreibung von Schädigungen, Entwicklungsverzögerungen oder abweichenden Entwicklungen, aber auch von Fähigkeiten und Ressourcen. Damit wurde eine Grundlage zur Feststellung des Förderbedarfs, zur interdisziplinären und an den Bedürfnissen der Familien orientierten Förder- und Interventionsplanung und deren Evaluation geschaffen. Interventionen sollten an den Ressourcen orientiert und auf die Erweiterung der Handlungsfähigkeit und Partizipation ausgerichtet sein.
In diesem Rahmen haben auch individuumzentrierte Maßnahmen weiterhin ihren Platz. In Deutschland steht einerseits die durch Krankenkassen und Sozialhilfeträger gemeinsam finanzierte pädagogische oder interdisziplinäre Frühförderung zur Verfügung, deren rechtliche Grundlagen im SGB IX dokumentiert sind (Abschn. 4 in Kap. „Chronische Krankheiten und Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen“). Die medizinischen und heilpädagogischen Leistungen zur Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder werden in § 30 SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) als interdisziplinäre „Komplexleistung“ gelistet und bis zum Schuleintritt angeboten. Andererseits können vom Kinderarzt zu Lasten der Krankenkassen als therapeutische Heilmittel Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie verordnet werden. Daneben suchen viele Familien zusätzlich Hilfe durch eigenfinanzierte Therapiemethoden, wie Reittherapie, Petö-Behandlung, Osteopathie und das gesamte Spektrum der komplementärmedizinischen Verfahren. Als übergeordnete Anlaufstellen für schwierige Fragen der Diagnostik und die interdisziplinäre Erstellung von Förderplänen dienen die über ganz Deutschland verteilten und meist an Kinderkliniken angebundenen Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ).
Trotz des breiten Einsatzes von Fördermaßnahmen und Therapien, gibt es nur wenige gute Studien zu deren Wirksamkeit. Eine häufig zitierte ältere Metaanalyse von Dunst et al. aus dem Jahre 1989 hatte aus einer Vielzahl von Studien zum Thema „early intervention“-Wirksamkeitsfaktoren extrahiert. Wirksam waren ganz besonders Interventionen, die die Familie und die Interaktion des Kindes mit seinen Bezugspersonen, die Bindung an die Eltern, den Selbstwert des Kindes und die Eigenmotivation zum Handeln betonten. Dabei spielen die Responsivität zwischen Bezugsperson und Kind, eine positive emotionale Zuwendung zum Kind und eine dauerhaft positive verbale Verstärkung eine wichtige Rolle. Eher negativ wirkten Interventionen, die das Kind in eine passive Rolle brachten, indem sie direktiv und kontrollierend auf das kindliche Verhalten einwirkten. Auch die häufig von Eltern erwartete Korrelation zwischen Umfang und Intensität und dem Behandlungserfolg bestätigte sich nicht. Deshalb ist neben Vernachlässigung und Unterversorgung ebenso häufig „Übertherapie“ zu beachten.
Die Behandlung von Kindern mit geistigen Behinderungen sollte sich vor allem auf die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit – auch zur Vorbeugung von Verhaltensstörungen – ferner auch die Behandlung von Verhaltensstörungen und insbesondere auch Störungen der Aktivität und Aufmerksamkeitsregulation konzentrieren. Hier können durch pharmakologische Interventionen, z. B. Stimulanzientherapie nicht selten auch signifikante Verbesserungen in Intelligenztests festgestellt werden. Aufgabenorientierte Förderung und Behandlungen, die auf den schrittweisen Aufbau von Alltagsfunktionen und Teilhabe abzielen, gelten heute als State of the Art, während z. B. Interventionen, die überwiegend auf unspezifische Förderung mentaler oder psychomotorischer Funktionen abzielen und die das soziale Umfeld nicht einbeziehen, wegen mangelhafter Transferierbarkeit in den Alltag als nicht nachhaltig zu sehen sind.
Zunehmende Bedeutung für die Behandlung und Vorsorge gewinnt die Kenntnis einer spezifischen Ätiologie. Zum einen kann in regelmäßigen Kontrolluntersuchungen auf assoziierte Komorbiditäten geachtet und frühzeitiger gehandelt werden, zum anderen können besonders wirksame medikamentöse Optionen (z. B. Melatonin und Betablocker bei Schlaf-Wachstörungen von Kindern mit Smith-Magenis-Syndrom) gezielt frühzeitiger eingesetzt werden. Das frei zugängliche e-book GeneReviews (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK1116/) bietet zu zahlreichen genetischen Entitäten zuverlässige Informationen zum Krankheitsmanagement.
Für Kinder mit Behinderungen, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen hat sich in Deutschland seit den 2000er-Jahren mit dem Ziel einer optimalen Förderung ein differenziertes System der sonderpädagogischen Betreuung etabliert. Schulkindergärten und auf die Behinderungsart ausgerichtete Sonderschulen sind aber gleichzeitig Orte, die die förderbedürftigen Kinder von ihrem Wohnort und den dort ansässigen Kindern absondern. Insbesondere auf dem Land bedeutet dies oft lange Anfahrtswege. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland verpflichtet, das pädagogische System Deutschlands in Richtung einer inklusiven Kindergartenbetreuung und Beschulung zu ändern, womit Kinder mit besonderen Bedürfnissen in die Regelschule integriert werden. Während diese verbesserte regionale soziale Integration für normal intelligente körperbehinderte Kinder oft einen deutlichen Zugewinn an Lebensqualität bedeutet, sind bei geistig behinderten Kindern gehäuft Verhaltensstörungen infolge von Überforderung zu beobachten. So ist in inklusiven Schulen oft eine spezifische bzw. umfassende sonderpädagogische Betreuung in kleinen Gruppen nicht zuletzt aus Mangel an zusätzlichem hoch qualifiziertem Personal weniger möglich als in Sonderschulen. Vor diesem Hintergrund haben sich „Hybrid-Modelle“ wie z. B. inklusive Außenklassen von Sonderschulen entwickelt, von denen zumindest Kinder mit leichter geistiger Behinderung im Grundschulbereich profitieren können.
Weiterführende Literatur
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