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Pädiatrie
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Publiziert am: 28.05.2019

Funktionsstörungen des Hämoglobins und Polyzythämie bei Kindern und Jugendlichen

Verfasst von: Joachim Kunz und Andreas Kulozik
Funktionsstörungen des Hämoglobins können entweder, bei den Thalassämien, durch eine verminderte Synthese einer der Globinketten oder, bei den Hämoglobinanomalien, durch die Produktion eines fehlerhaften Hämoglobins verursacht sein. Dieses Kapitel fokussiert auf die hereditären Varianten und erworbenen Funktionsstörungen des Hämoglobins, die entweder zur Instabilität, zur veränderten Sauerstoffaffinität, zur Methämoglobinbildung oder zur Polyzythämie führen.
Funktionsstörungen des Hämoglobins können entweder, bei den Thalassämien, durch eine verminderte Synthese einer der Globinketten oder, bei den Hämoglobinanomalien, durch die Produktion eines fehlerhaften Hämoglobins verursacht sein. Dieses Kapitel fokussiert auf die hereditären Varianten und erworbenen Funktionsstörungen des Hämoglobins, die entweder zur Instabilität, zur veränderten Sauerstoffaffinität, zur Methämoglobinbildung oder zur Polyzythämie führen.

Instabile Hämoglobinvarianten

Instabile Hämoglobinvarianten führen zu einer autosomal-dominant vererbten hämolytischen Anämie mit charakteristischen Heinz-Körpern. Eine detaillierte Beschreibung dieser Form der Hämoglobinanomalien findet sich in Kap. „Anämien bei Kindern und Jugendlichen“.

Thalassämische Hämoglobinvarianten

Bei thalassämischen Hämoglobinvarianten ist ein Strukturdefekt des Hämoglobins mit einer verminderten Synthese verbunden. Die häufigste dieser Varianten ist das HbE, bei dem eine Mutation des β-Globins sowohl die mRNA-Prozessierung als auch die Stabilität des Proteins beeinträchtigt. Homozygot Betroffene leiden unter einer leicht ausgeprägten hämolytischen Anämie. Die gemischte Heterozygotie für HbE und eine β0-Mutation verläuft meist als transfusionsbedürftige Thalassaemia major oder aber, in Abhängigkeit von genetischen Modifikatoren, auch als milde Thalassaemia intermedia. Ein Thalassämiephänotyp ergibt sich auch bei hyperinstabilen Globinvarianten, die schon vor Einbau in das Hämoglobintetramer degradiert werden.

Hämoglobinvarianten mit veränderter Sauerstoffaffinität

Liegt eine erhöhte O2-Affinität und damit eine verminderte O2-Abgabe ins Gewebe vor, führt dies zu einer Polyglobulie. Bei der Therapie dieser seltenen Hämoglobinanomalien ist zu bedenken, dass die Polyglobulie eine Adaptation an eine verminderte Sauerstoffabgabe an das Gewebe darstellt und eine Aderlasstherapie im Grundsatz nicht indiziert ist. Ausnahme kann sein, wenn Symptome der Hyperviskosität des Blutes auftreten bzw. konkret zu befürchten sind (Abschn. 5). Eine verringerte O2-Affinität resultiert in einer verbesserten O2-Abgabe ins Gewebe, jedoch einer geringeren Funktionsreserve und damit geringeren körperlichen Belastbarkeit. Die Untersättigung kann durch die verminderte Erythropoetinausschüttung zu einer leichtgradigen Anämie und zur Zyanose führen. Oft durchlaufen solche Patienten einen aufwändigen diagnostischen Parcours, bevor die Diagnose durch Hämoglobinanalyse oder molekulargenetisch gestellt werden kann.

Methämoglobinämie

Methämoglobin, also oxidiertes Hämoglobin mit an Häm gebundenem Fe3+, entsteht unter physiologischen Umständen ständig spontan und wird durch die Methämoglobinreduktase zu Hämglobin reduziert. Eine Methämoglobinämie von >1,5 g/dl äußert sich aufgrund des veränderten Absorptionsspektrums als schmutzig grau-braune Zyanose. Da Methämoglobin nicht zur reversiblen Sauerstoffbindung befähigt ist, führt ein Methämoglobinanteil von >40 % zu Allgemeinsymptomen wie Dyspnoe und Tachykardie, noch höhere Methämoglobinanteile können letal sein.

Toxische Methämoglobinämie

Die toxische Methämoglobinämie tritt auf, wenn die Exposition gegenüber oxidierenden Substanzen wie Nitrit oder Sulfonamiden die Kapazität der Erythrozyten zur Methämoglobinreduktion überschreitet. Aufgrund der leichteren Oxidierbarkeit des HbF und der relativ geringen Methämoglobinreduktaseaktivität sind besonders Früh- und Neugeborene anfällig für die toxische Methämoglobinämie. Auslöser können die Therapie mit Stickstoffmonoxid oder die Zubereitung der Milchnahrung mit nitrathaltigem Wasser sein.
Therapeutisch wird neben der Meidung auslösender Noxen die intravenöse Gabe von Methylenblau eingesetzt, wodurch ein Teil des Methämoglobins wieder reduziert werden kann.

Kongenitale enzymopenische Methämoglobinämie

Seltene Ursache einer Methämoglobinämie ist der autosomal-rezessiv vererbte Mangel der NADH-Methämoglobinreduktase. Eine Therapie ist meist nicht notwendig, die Gabe von Ascorbinsäure kann den Methämoglobinanteil senken.

Hämoglobin-M-Varianten

Bei den seltenen Hämoglobin-M-Varianten ist die Häm-Bindungsstelle durch Mutationen so verändert, dass oxidiertes Häm durch die Methämoglobinreduktase nicht wieder reduziert werden kann. Die Krankheit wird autosomal-dominant vererbt und führt trotz der ausgeprägten Zyanose nur zu einer geringen Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Diagnose wird, als Differenzialdiagnose kardiopulmonaler Ursachen einer Zyanose, durch die Hämoglobinanalyse oder durch Sequenzierung der Globingene gestellt. Reduzierende Agenzien wie Methylenblau sind bei Hämoglobin-M-Varianten wirkungslos. Eine Therapie ist meist nicht erforderlich.

Polyzythämien

Definition und klinische Symptome
Unter Polyzythämie oder Erythrozytose versteht man eine Vermehrung der Erythrozytenmasse. Wenn diese auf einer autonomen, nicht von Erythropoetin abhängigen Proliferation der Erythrozyten beruht, spricht man von einer primären Polyzythämie. Wird die Erythropoese durch erhöhte Erythropoetinspiegel verursacht, wie sie bei chronischer Hypoxie oder deregulierter EPO-Sekretion vorliegen, spricht man von sekundärer Polyzythämie (Tab. 1). Alle Polyzythämien im Kindesalter sind extrem selten, die häufigste Form ist die erworbene sekundäre Polyzythämie bei chronischer Hypoxie.
Tab. 1
Klassifikation und Differenzialdiagnose der Polyzythämie
Art der Polyzythämie
Erworben/kongenital
Pathogenese
Beschreibung
Primäre Polyzythämie
Erworben
Polyzythämia vera
Myeloproliferative Erkrankung mit Veränderungen aller 3 Zellreihen und Splenomegalie
Kongenital
EPO-Rezeptor-Mutationen
Autosomal-dominant vererbt mit unvollständiger Penetranz
Sekundäre Polyzythämie
Erworben
Bei Hypoxie
SaO2 anhaltend <92 % (zyanotische Vitien, chronische pulmonale Insuffizienz)
Bei autonomer EPO-Sekretion
Unter anderem bei Nephroblastom, Hämangioblastom
Kongenital
Erhöhtes EPO bei Gewebshypoxie
2,3-BPG-Mutasemangel
Erhöhte O2-Affinität durch niedrige 2,3-BPG-Spiegel
Mutationen im von Hippel Lindau- Gen oder in HIF2a
Unkontrollierte EPO-Sekretion
EPO Erythropoietin, BPG Biphosphoglycerat
Gemeinsam ist allen Polyzythämien der rosige, bei Hypoxie jedoch schnell ins zyanotische wechselnde Teint. Die subjektiv wahrgenommenen Symptome, nämlich Kopfschmerz, Schwindel, Tinnitus, Sehstörungen und Synkopen, werden durch die Hyperviskosität und die mit ihr im Zusammenhang stehende Minderperfusion ausgelöst. Die bedrohlichste Komplikation der Polyzythämie sind thrombotische Ereignisse, insbesondere das Budd-Chiari-Syndrom.
Diagnose und Therapie
Eine Polyzythämie wird vermutet, wenn bei wiederholten Untersuchungen ein Hämatokrit- bzw. Hämoglobinwert oberhalb der 97,5-Perzentile gemessen wird. Dann sollten neben den genannten Parametern O2-Sättigung und Erythropoetinspiegel insbesondere Ursachen einer Hypoxie gesucht werden. Hierzu zählt u. a. auch die obstruktive Schlafapnoe. Die im Kindesalter extrem seltene Polyzythaemia vera kann durch eine Knochenmarkhistologie und den Nachweis typischer klonaler Mutationen bestätigt werden. Hämoglobinvarianten mit erhöhter O2-Affinität werden durch Sequenzierung der β- und α-Globingene nachgewiesen.
Wichtigste Therapiemaßnahme bei symptomatischer Polyzythämie ist der regelmäßige Aderlass. Bei zugrunde liegender Hypoxie dient die Polyglobulie der Kompensation der Hypoxie. Dann ist ein Aderlass zurückhaltend zu indizieren und vorsichtig durchzuführen, da sonst eine kardiale Dekompensation die Folge sein könnte. Die Polyzythaemia vera kann zusätzlich zytoreduktiv behandelt werden und indiziert zumindest bei Risikopatienten eine Antikoagulation.
Weiterführende Literatur
Cario H (2005) Childhood polycythemias/erythrocytoses: classification, diagnosis, clinical presentation, and treatment. Ann Hematol 84(3):137–145CrossRef
Kulozik AE (1999) Hemoglobin variants and the rarer hemoglobin disorders. In: Lilleyman JS, Hann IM, Blanchette VS (Hrsg) Pediatric hematology, 2. Aufl. Churchill Livingstone, London, S 231–256