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Pädiatrie
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Publiziert am: 25.06.2020

Hämorrhagische Diathesen bei Kindern und Jugendlichen

Verfasst von: Frauke Bergmann und Ralf Knöfler
Hierbei handelt es sich um angeborene oder erworbene Störungen der Blutstillung im Sinne einer verstärkten Blutungsneigung (hämorrhagische Diathese), bedingt durch Defekte und Veränderungen der Gefäßwand (Vasopathie), Verminderung (Thrombozytopenie) oder Dysfunktion (Thrombozytopathie) der Thrombozyten sowie durch Defekte und Verminderung bzw. Fehlen der Gerinnungsfaktoren (Koagulopathie).
Definition
Es handelt sich um angeborene oder erworbene Störungen der Blutstillung im Sinne einer verstärkten Blutungsneigung (hämorrhagische Diathese), bedingt durch Defekte und Veränderungen der Gefäßwand (Vasopathie), Verminderung (Thrombozytopenie) oder Dysfunktion (Thrombozytopathie) der Thrombozyten sowie durch Defekte und Verminderung bzw. Fehlen der Gerinnungsfaktoren (Koagulopathie).

Störungen der primären Hämostase

Definition
Bei den Störungen der primären Hämostase besteht eine Blutungsneigung aufgrund von Defekten im Bereich der Gefäßwand, der Thrombozyten oder im Rahmen des Von-Willebrand-Syndroms (Abschn. 1.5).
Epidemiologie
Störungen der primären Hämostase sind die häufigste Ursache einer Blutungsneigung im Kindes- und Erwachsenenalter. Bei den hereditären Störungen steht das Von-Willebrand-Syndrom (VWS) an erster Stelle. Die häufigsten Ursachen insgesamt sind die erworbenen Thrombozytopenien und -pathien; die angeborenen Thrombozytopenien und -pathien sowie die Vasopathien sind wesentlich seltener.
Physiologie und Pathophysiologie
Bei einer Gefäßverletzung ändert sich (s.a. Tab. 1) durch den Kontakt mit subendothelialen Strukturen die Form der Thrombozyten und es kommt zur Adhäsion der Thrombozyten am subendothelialen Kollagen sowie am plasmatischen und thrombozytären Von-Willebrand-Faktor (VWF). Es folgen die Ausbreitung der Thrombozyten und die Sekretion von Inhaltsstoffen aus ihren Speichergranula. Unterschieden werden α- und δ- bzw. dense-Granula sowie Lysosomen. Die durch Stimulation sezernierten Substanzen, wie Thromboxan, ADP, ATP, Serotonin, Fibrinogen, VWF, Plättchenfaktor 4 etc. führen zur weiteren Autoaktivierung.
Die Thrombozyten haften aneinander und formen Aggregate; es entsteht der Thrombozytenpfropf. Zusätzlich kommt es durch die Freisetzung von Gewebsthromboplastin in Anwesenheit von Kalzium und weiteren Faktoren zur Thrombinbildung, wodurch die Bildung und Stabilisierung des Fibringerinnsels – sekundäre Hämostase – beschleunigt wird, in das sich weitere Thrombozyten einlagern.
Thrombozytenmembranrezeptoren
Voraussetzung für diesen Reaktionsablauf ist das Vorhandensein intakter Rezeptoren (Abb. 1) der Thrombozytenmembran. Die Identifizierung dieser Membranrezeptoren war essenziell zur Klärung wichtiger pathophysiologischer Mechanismen bei Patienten mit Störungen der primären Hämostase infolge von Thrombozytopenie oder Thrombozytenfunktionsstörung. Jeder Thrombozyt verfügt über multiple Rezeptoren, multifunktionelle Glykoproteine eingelagert in eine Phospholipiddoppelschicht. Diese Glykoproteine, allein oder in Komplexen, sind Rezeptoren für verschiedene Liganden und spielen eine entscheidende Rolle für bestimmte Thrombozytenfunktionen. Zudem besitzen sie wichtige allo- und autoantigene Eigenschaften und vermitteln die Interaktion mit Neutrophilen und Endothelzellen. Im Folgenden werden klinisch relevante Krankheitsbilder behandelt, die u. a. durch angeborene oder erworbene Störungen dieser Rezeptoren bedingt sind.
Tab. 1
Thrombozytenphysiologie
Charakteristikum
Beschreibung für Thrombozyten
Produktionsort
Vorläuferzelle
Megakaryozyt
Form
Diskoid
Durchmesser
1–4 μm
MPV
7–9 fl
Lebensdauer
7–10 Tage
Struktur
Kernlos, Zytoplasma mit Organellen, Membranrezeptoren
Funktion
Primäre Hämostase
Abbauort
RES
Thrombopoetin
Für die Ausreifung von Stammzellen zu Megakaryozyten und Thrombozyten bedarf es eines komplexen Wechselspiels verschiedener Zytokine, als dessen Schlüsselhormon der Megakaryozytenwachstumsfaktor Thrombopoetin (TPO) identifiziert wurde. Mit seiner Entdeckung konnten die Megakaryopoese und die Regelung der Thrombozytenproduktion weiter aufgeklärt werden. In Anwesenheit von TPO nehmen Größe und Anzahl der Megakaryozyten zu. Es kommt zur vermehrten Expression thrombozytenspezifischer Oberflächenmarker wie CD41 und CD61. TPO beeinflusst die Ausreifung und Freisetzung der Thrombozyten aus dem Knochenmark stärker als alle anderen Zytokine. Hohe TPO-Konzentrationen finden sich in Leber, Niere, glatter Muskulatur und Knochenmark.
Der TPO-Spiegel im Plasma wird durch die Thrombozyten geregelt. Sie verfügen über Rezeptoren, die TPO binden: In Phasen niedriger peripherer Thrombozytenzahlen ist der TPO-Spiegel hoch, wodurch es zur Stimulation der Megakaryopoese durch freies TPO kommt. Der entsprechend umgekehrte Mechanismus gilt für höhere Thrombozytenzahlen. Hierdurch gelingt es dem Organismus, eine konstante Thrombozytenmasse einzustellen. Die Gabe von Thrombozyten kann daher theoretisch die Megakaryopoese bei thrombozytopenischen Patienten negativ beeinflussen.
Klinische Symptome
Charakteristisch für eine Störung der primären Hämostase sind: Neigung zu Hämatomen, spontan oder nach Bagatelltrauma, Petechien, Schleimhautblutungen, intra- und postoperative Blutungen, insbesondere bei Operationen im Mund-, Kiefer- und im HNO-Bereich – z. B. Tonsillektomie (seltener bei Tonsillotomie), Zahnextraktion, Adenotomie (seltener), Zirkumzision – sowie Hypermenorrhö.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Bei Verdacht auf eine Störung der primären Hämostase ist neben der Erhebung einer standardisierten Blutungsanamnese des Kindes mittels evaluierter Fragebögen die Familienanamnese von Bedeutung und eine Stufendiagnostik zu veranlassen (AWMF-Leitlinie Registernr. 086-003 von 2/2018, Diagnosealgorithmus):
  • Ausschluss anderer Grundkrankheiten (z. B. Hepatopathie, Herzfehler, Knochenmarkerkrankungen, Malignome, syndromale Erkrankungen), mittels geeigneter bildgebender Diagnostik und Labordiagnostik; gegebenenfalls Knochenmarkpunktion und gezielte genetische Diagnostik,
  • Blutbild mit Thrombozytenzahl und Beurteilung des Ausstrichs, insbesondere bei verminderter Thrombozytenzahl,
  • Gerinnungsstatus mit Thromboplastinzeit (Quick-Test), PTT und Von-Willebrand-Diagnostik (Abschn. 1.5),
  • nach Ausschluss einer plasmatischen Störung die Thrombozytenfunktionsuntersuchung wie Aggregation, Sekretion, Durchflusszytometrie (nach Verfügbarkeit) und bei pathologischem Befunden,
  • gegebenenfalls weitere Untersuchungen zur Klassifikation des zugrunde liegenden Defektes (Immunfluorenzemikroksopie, Molekulargenetik).
Therapie
In Abhängigkeit von der ursächlichen Störung und der Lokalisation der Blutung ergeben sich unterschiedliche Behandlungen: lokale Maßnahmen wie Nasenschleimhautpflege, lokale Hämostyptika und gegebenenfalls Tamponade oder Verätzungsbehandlung bei Epistaxis. Insbesondere bei Schleimhautblutungen im Mund-, Kiefer- und HNO-Bereich kommen Antifibrinolytika zum Einsatz (Tranexamsäure 15–25 mg/kg KG p. o. oder 10–15 mg/kg langsam i. v.), 3-mal (bis maximal 4-mal) täglich (maximale Tagesdosis beachten). Weitere Behandlungsmöglichkeiten sind Desmopressin (DDAVP) in einer Dosierung von 0,3 (bis maximal 0,4)μg/kg KG in NaCl 0,9  % als Kurzinfusion über 30 min (außer bei Kindern <3 Jahre oder mit Neigung zu Krampfanfällen). Bei schweren Thrombozytopathien, wie der Thrombasthenie Glanzmann und Bernard-Soulier-Syndrom müssen Thrombozytentransfusionen oder rekombinanter aktivierter Gerinnungsfaktor VII gegeben werden. Bei Hypermenorrhö ist eine hormonelle Behandlung mit einem Kontrazeptivum indiziert und bei Hb-wirksamen Blutungen unter Umständen eine längerfristige orale Eisensubstitution.
Verlauf und Prognose
In Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Störung ist die Blutungsneigung sehr variabel und die Gefährdung, insbesondere durch eine intrakranielle Blutung, unterschiedlich und in einigen Fällen nur schwer einzuschätzen. Die Prognose ist zumeist abhängig von der Grundkrankheit. Wenn möglich, sollten Risikosituationen vermieden und die Indikation zu elektiven Operationen bei diesen Kindern kritisch hinterfragt werden. Prinzipiell gilt für den Alltag, dass die Gabe von Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln, die die Thrombozytenfunktion negativ beeinflussen, kontraindiziert ist. Dies gilt insbesondere für nichtsteroidale Antirheumatika, wie Ibuprofen und Naproxen, sowie acetylsalicylsäurehaltige (ASS-)Präparate, die aber im Kindesalter sehr selten gegeben werden. Paracetamol und Metamizol beeinflussen die Thrombozytenfunktion nicht. Wie bei allen Patienten mit Blutungsneigung sollten Impfungen bevorzugt s.c. appliziert werden.

Hämorrhagische Vasopathien

Definition
Bei den hämorrhagischen Vasopathien besteht eine Blutungsneigung aufgrund eines angeborenen oder erworbenen Defekts der Gefäßintegrität.
Angeborene Vasopathien finden sich als isolierte Erkrankung oder als Bestandteil eines komplexen Krankheitsbilds. Dazu gehören die Bindegewebsdefekte, wie z. B. das Ehlers-Danlos-Syndrom, das Marfan-Syndrom und die Osteogenesis imperfecta (Kap. „Hereditäre Bindegewebskrankheiten bei Kindern und Jugendlichen“). Eine isolierte Vasopathie findet man bei der hereditären hämorrhagischen Teleangiektasie, dem Morbus Osler-Rendu-Weber. Es handelt sich um eine autosomal-dominant vererbte Vasopathie auf dem Boden einer vaskulären Dysplasie mit Bildung von Teleangiektasien und arteriovenösen Malformationen im Bereich von Haut, Schleimhäuten, Lunge, Koronarien, Leber, Gastrointestinaltrakt und ZNS. Entsprechend vielfältig können die Symptome sein. Neben Schleimhautblutungen, Blutungen aus dem Magen-Darm-Trakt und Hämaturie tragen arteriovenöse Fisteln, z. B. im Bereich der Lunge zu erheblicher Morbidität und zur Mortalität bei. Intrahepatische Shunts können zur Leberzirrhose führen. Die Krankheit verläuft progredient. Das mittlere Alter bei Manifestation, häufig durch eine rezidivierende Epistaxis gekennzeichnet, liegt bei 12 Jahren.
Die Krankheit scheint genetisch heterogen zu sein. Das Gen für die häufigste Form ist auf dem langen Arm von Chromosom 9 lokalisiert (9q33–q34.1). Es werden 3 Kandidatengene aus dieser Region favorisiert.
Eine kausale Therapie existiert nicht. Bei rezidivierendem Nasenbluten kommt neben einer konsequenten Nasenpflege als lokale Behandlung eine Verödung des Locus Kieselbachii – lat. in Betracht. Hämodynamisch bedeutsame arteriovenöse Shunts können evtl. über eine Katheterisierung verschlossen werden. Auch kann die langfristige Einnahme von Tranexamsäure eine Symptombesserung bewirken.
Als klassische Form der erworbenen Vasopathie ist die Purpura Schoenlein-Henoch zu nennen.

Thrombozytopenie

Definition
Die Festlegung der Normwerte für Thrombozytenzahlen im Kindesalter ist umstritten. Im Allgemeinen gelten Werte zwischen 150–450G/l als normal. Insbesondere höhere Werte stellen bei Kindern nur in Ausnahmefällen einen pathologischen Befund dar, da es sich überwiegend um ein reaktives Phänomen handelt (Abschn. 1.3). Eine Thrombozytenzahl <100G/l ist per Definition eine Thrombozytopenie.
Diskutiert wird, ab welcher Untergrenze mit einer gefährlichen Blutung zu rechnen ist. Das Blutungsrisiko ist in Abhängigkeit von der Genese der Thrombozytopenie zu bewerten. Die Größe der Thrombozyten und damit die Thrombozytenmasse sind für die Funktion wichtiger als die absolute Zahl, denn junge, große Thrombozyten sind funktionsfähiger.
Pathogenese
Zur Thrombozytenphysiologie, Tab. 1, Abb. 1. Bei den Ursachen für eine Thrombozytopenie lassen sich zwei große Gruppen unterscheiden:
  • Thrombozytopenie infolge verminderter Produktion oder
  • Thrombozytopenie bei Umsatzsteigerung.
Die für den Pädiater wichtigsten Krankheitsbilder, die mit diesen Mechanismen assoziiert sind, sind in Tab. 2 dargestellt.
Tab. 2
Differenzialdiagnosen der Thrombozytopenie im Kindesalter
Art der Störung
Erkrankungsgruppe
Krankheit
Produktionsstörung
Angeborene und hereditäre Störungen
Hämatologische Grundkrankheiten
- TAR-Syndrom (Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom),
- weitere Thrombozytopenien mit Hypoplasie der Megakaryopoese,
- Bernard-Soulier-Syndroma,
- Wiskott-Aldrich-Syndroma (zusätzlich vermehrte Destruktion),
- mediterrane Makrothrombozytopenie
Metabolische Grundkrankheiten
- Methylmalonazidurie,
- Isovalerianazidurie,
- ketotische Hyperglycinämie,
- Holocarboxylasesynthetasemangel
Chromosomale Defekte
Trisomie 13, 15, 18, 21
Erworbene Störungen
 
- medikamenten- oder strahleninduziert,
- infiltrative Prozesse im Knochenmark,
- Mangelernährung (Eisen-, Vitamin-B12-, Folsäuremangel)
Umsatzsteigerung
Primäre Störungen der Thrombozyten
Immunologische Ursachen
- Autoimmunthrombozytopenie (ITP),
- Posttransfusionspurpura (selten),
- sekundäre ITP bei SLE bzw. anderen Autoimmunkrankheiten, bei Tumoren und bei lymphoproliferativen Syndromen,
- medikamentösinduzierte Thrombozytopenie,
- postinfektiöse Thrombozytopenie (viral),
- Allergie, Anaphylaxie
Nichtimmunologische Ursachen
- thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP)b,
- Herzfehler (kongenital oder erworben),
- kardiopulmonaler Bypass,
- Von-Willebrand-Syndrom Typ 2B,
- Platelet-type-von-Willebrand-Syndrom,
Kombinierte Störungen
 
- Verbrauchskoagulopathie,
- Kasabach-Merritt-Syndrom,
- andere lokale Ursachen
Ursachen beim Neugeborenen
- Asphyxie,
- Fototherapie,
- Rhesus-Alloimmunisation,
- Austauschtransfusion,
- Stoffwechselkrankheiten,
- PFC-Syndrom
Ursachen bei der Mutter
Andere Ursachen
Fettsäureninduzierte Thrombozytopenie
Sequestration
 
- Hypersplenismus
aNormale Megakaryopoese, b immunologische Ursache möglich (Auto-Antikörper gegen Von-Willebrand-Faktor-spaltende Protease; PFC persistierende fetale Zirkulation)
Die Glykoproteine der Thrombozytenmembran verfügen über antigene Eigenschaften. Die bekannten humanen Thrombozytenalloantigene konnten auf bestimmten Glykoproteinen identifiziert werden. Da sich in der Vergangenheit die Nomenklatur geändert hat, sind in Tab. 3 auch die, in der älteren Literatur verwendeten Synonyme aufgeführt. Bei einer Sensibilisierung gegen diese Alloantigene entstehen 2 wichtige klinische Krankheitsbilder mit Umsatzsteigerung der Thrombozyten:
Tab. 3
Thrombozytenalloantigensysteme
Alloantigene
Häufigkeit des Phänotyps (%)
Synonyme
Glykoprotein
HPA-1a
97
Zw(a), PI A1
IIIa
HPA-1b
31
Zw(b), PI A2
IIIa
HPA-2b
12
Ko(a), Sib(a)
Ib
HPA-2a
>99
Ko(b)
Ib
HPA-3a
86
Bak(a), Lek(a)
IIb
HPA-3b
63
Bak(b)
IIb
HPA-4b
<0,1
Yuk(a)
IIIa
HPA-5b
21
Br(a), Zav(a), Hc(a)
Ia
HPA-5a
>98
Br(b), Zav(b)
Ia
HPA-6
   
HPA-7
   
Zusätzlich konnten Autoantigene auf den Glykoproteinen lokalisiert werden. Antikörper gegen diese Autoantigene spielen bei der Genese der erworbenen Thrombozytopenie – Autoimmunthrombozytopenie – eine bedeutende Rolle.
Klinische Symptome
Die Blutungssymptome bei Thromboztopenie entsprechen den bereits beschriebenen Symptomen der primären Hämostasestörung. Bei Neugeborenen kann sie sich auch in Form einer Nabel- und Hirnblutung manifestieren.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Aufgrund der Vielzahl von möglichen Ursachen ist bei diagnostischen Unsicherheiten eine Beurteilung des Knochenmarks indiziert, insbesondere vor einer Behandlung mit Steroiden.
Unabhängig von der Thrombozytenzahl muss die Abklärung jeder symptomatischen Thrombozytopenie erfolgen, um die Behandlung festzulegen. Eine artifizielle Thrombozytopenie, z. B. durch eine angeronnene Probe bei einer erschwerten Blutentnahme, sollte ausgeschlossen sein. Die heutzutage eingesetzten automatischen Zählgeräte können Aggregate oder insbesondere Riesenthrombozyten nicht erkennen, d. h. nicht zählen. Die im Kindesalter extrem seltene EDTA-induzierten Pseudothrombozytopenie (durch das Antikoagulans EDTA kommt es zur Bildung von Thrombozytenaggregaten, die durch die Blutbildautomaten nicht sicher erkannt werden) kann durch parallele Zählung der Thrombozyten im EDTA- und Zitratblut, oder im mittels Spezialmonovette (Thromboexact®, Fa. Sarstedt) antikoaguliertem Blut bzw. durch Anfertigung eines Blutausstrichs aus Kapillarblut, ausgeschlossen werden. Für jede Thrombozytopenie gilt, dass immer eine Beurteilung des peripheren Blutausstrichs zu erfolgen hat.

Neonatale Alloimmunthrombozytopenie

Pathogenese
Die neonatale Alloimmunthrombozytopenie (NAIT) entsteht durch Alloantikörperbildung der Mutter gegen Antigene der kindlichen Thrombozytenmembran. Die Sensibilisierung/Alloimmunisierung erfolgt während der Schwangerschaft nach Übertritt fetaler Thrombozyten auf die Mutter. Die in Mitteleuropa häufigsten Alloantigene sind HPA-1a (PIA1-, Zw(a)-Antigen) und HPA-5b (Br-, Zav-, Hc-Antigen), Tab. 3. Trotz einer Frequenz von 2 % HPA-1a-negativen Müttern und deren zu 85 % HPA-1a-positiven Kindern wird die NAIT jedoch nur bei 1–2:5000 Geburten beobachtet, sodass weitere immunologische Faktoren für die Entwicklung einer NAIT von Bedeutung sein müssen (z. B. HLA-Typ B8, DR3).
Klinische Symptome
Bereits intrauterin kommt es durch den Übertritt mütterlicher Alloantikörper (IgG) zur Zerstörung der fetalen Thrombozyten mit Blutungsgefahr für den Feten. Insbesondere die Rate an ZNS-Blutungen ist mit bis zu 15 % hoch, sodass die betroffenen Kinder unter Umständen bereits mit Folgeschäden wie posthämorrhagischem Hydrozephalus, Porenzephalie oder Krämpfen geboren werden. Postpartal besteht eine schwere Thrombozytopenie mit Petechien und weiteren Blutungssymptomen (Abb. 2). Eine behandlungspflichtige Hyperbilirubinämie kann sich infolge größerer Einblutungen entwickeln. Die Blutungsneigung im Zusammenhang mit der Thrombozytopenie kann durch eine qualitative Thrombozytenfunktionsstörung verstärkt werden. HPA-1a-Antikörper interferieren mit der Thrombozytenfunktion und führen zu einer gestörten Aggregation. Die Kinder, bei denen Blutungskomplikationen auftraten, hatten in der Regel minimale Thrombozytenzahlen von <10G/l. Bei entsprechender Antigen-Konstellation ist die 1. Schwangerschaft zu 50 %, die nachfolgenden sind zu >97 % betroffen. Daher wird die Sicherung der Diagnose nach der 1. Schwangerschaft dringend empfohlen, um die Eltern über das Risiko und über Behandlungsmöglichkeiten für weitere Schwangerschaften aufzuklären. Bei jeder folgenden Schwangerschaft ist mit einer Zunahme der Komplikationsrate zu rechnen.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Die Thrombozyten der Mutter bzw. des Kindes werden mittels spezieller immunologischer Methoden, wie z. B. dem MAIPA-Test (monoclonal antibody immobilization of platelet antigens) auf Expression von HPA-1a (HPA-5b) untersucht. Die Diagnose NAIT wird gestellt, wenn das Serum der Mutter einen thrombozytären Alloantikörper gegen ein Merkmal der Thrombozytenmembran enthält und das entsprechende Antigen auf den kindlichen Thrombozyten nachgewiesen wird.
Differenzialdiagnostisch sind andere Ursachen der neonatalen Thrombozytopenie auszuschließen (Tab. 2). Auf die Knochenmarkpunktion kann im Allgemeinen verzichtet werden, da sie keine wesentliche zusätzlichen Informationen bieten würde und insbesondere im Säuglingsalter die Beurteilbarkeit des Ausstrichs häufig eingeschränkt ist. Man würde eine gesteigerte Megakaryopoese finden.
Auch die Abgrenzung der neonatalen Thrombozytopenie infolge mütterlicher Autoantikörper (Immunthrombozytopenie, Antiphospholipid-Antikörper) ist differenzialdiagnostisch wichtig (Tab. 2).
Therapie und Verlauf
Nach Abfall der Thrombozyten <30G/l hat sich als Therapie der Wahl die Gabe kompatibler Thrombozyten zur raschen Blutstillung und lang anhaltender Anhebung der Thrombozytenzahl bewährt. Bereits bei Verdacht auf NAIT (mit entsprechend erniedrigten Thrombozytenzahlen) erfolgt die sofortige Gabe kompatibler Thrombozyten. Wegen der hohen Blutungsgefahr sollte nicht das Vorliegen der kompletten Untersuchungsergebnisse abgewartet werden. Zur Vermeidung einer Graft-versus-host-Reaktion sollten nur leukozytendepletierte und bestrahlte Thrombozyten infundiert werden. Gegebenenfalls verabreichte mütterliche Thrombozyten sollten von überschüssigem Plasma befreit werden, um mit der Transfusion nicht weitere Alloantikörper zuzuführen.
Die Bereitstellung kompatibler Thrombozyten ist schwierig, da nur ca. 2  % der Bevölkerung HPA-1a-negative Thrombozyten haben. Bis zur Verfügbarkeit mütterlicher oder kompatibler Thrombozyten ist daher ein kurzfristiges Anheben der Thrombozytenzahl durch Gabe von Thrombozytenkonzentrat unselektierter Spender, insbesondere bei Blutungskomplikationen, zu gewährleisten. Die Halbwertszeit der HPA-1a-positiven Thrombozyten beträgt nur wenige Stunden.
Alternativ führt der Einsatz von intravenösem Immunglobulin G (IVIG) zum Anstieg der Thrombozytenzahl, allerdings erst im Verlauf von Tagen. Empfohlen wird eine Dosierung von 0,4 g oder 1 g/kg KG und Tag über 1–3 Tage, d. h. bis die Thrombozytenzahlen zwischen 50 und 100G/l liegen. Eine Normalisierung der Thrombozytenzahl erfolgt nach ca. 1 Woche.
Für weitere Schwangerschaften werden je nach Risikokonstellation folgende Empfehlungen für die Therapie der Schwangeren gegeben:
  • Standardrisiko: IVIG 1 g/kg ab 20. SSW,
  • Risiko hoch: IVIG 1 g/kg ab 20. SSW, gegebenenfalls + Prednison 1 mg/kg ab 20. SSW,
  • Risiko extrem hoch: IVIG, Entbindung bevorzugt per sectio (intrauterine Transfusionen kompatibler Thrombozyten über Nabelschnur wird diskutiert).
Es sind engmaschige Ultraschallkontrollen erforderlich, um Blutungskomplikationen zu erfassen.

Immunthrombozytopenische Purpura

Definition und Epidemiologie
Bei der immunthrombozytopenischen Purpura (ITP) handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung mit isolierter Thrombozytopenie (Thrombozyten <100.000/μl), wobei andere Ursachen der Thrombozytopenie ausgeschlossen wurden. Von einer neudiagnostizierten ITP spricht man innerhalb von 3 Monaten nach Diagnosestellung, einer persistierenden ITP bei einem Verlauf von 3–12 Monaten und einer chronischen ITP bei einem Verlauf über 12 Monaten.
Die ITP ist die häufigste Blutungserkrankung im Kindesalter (ca. 4/100.000 Kinder pro Jahr). Kinder aller Altersgruppen können betroffen sein, der Häufigkeitsgipfel liegt im Kleinkindalter (https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/086-001l-S2k-Neu-diagnostizierte-Immunthrombozytopenie-Kindesalter-Jugendalter_2019-06.pdf).
Vorausgegangen ist häufig ein viraler Infekt 1–3 Wochen vor Auftreten der Purpura.
Pathogenese
In ca. 1/3 der Fälle können Autoantikörper gegen Determinanten der Thrombozytenmembran nachgewiesen werden. Zumeist handelt es sich um Antikörper gegen den GP-IIb/IIIa-, GP-Ib/IX- oder GP-Ia/IIa-Komplex.
Diagnose und Differenzialdiagnose
In der Pädiatrie gibt es kaum ein anderes Krankheitsbild, dessen Diagnose und Therapie ähnlich umstritten ist wie die der ITP. Einen spezifischen Test gibt es nicht. Zur Sicherung der Diagnose ITP werden neben Anamnese und klinischer Untersuchung ein Differenzialblutbild und eine Beurteilung des Blutausstrichs gefordert.
Für die Diagnose ITP spricht:
  • isolierte Thrombozytopenie, normal große und/oder leicht vergrößerte Thrombozyten, hohe immature Plättchenfraktion (IPF) und
  • unauffällige Erythrozyten- und Leukozytenmorphologie.
Gegen die Diagnose ITP spricht:
Eosinophilie und atypische Lymphozyten sprechen nicht gegen die Diagnose!
Bei differenzialdiagnostischer Unsicherheit bzw. atypischen Merkmalen wird eine weitere Diagnostik empfohlen: Beurteilung des Knochenmarks, antinukleäre Antikörper und direkter Coombs-Test, Thrombozytenantikörper (mit geeigneten Methoden).
Als unnötig und unangemessen gelten laut der Konsensusempfehlung der American Society of Hematology: Bestimmung der Thrombozytenüberlebensdauer, bildgebende Diagnostik (Abdomen, Thorax) , Blutungszeit, Gerinnungsanalysen (inklusive Antiphospholipidantikörper), Komplementanalyse, thrombozytenassoziiertes IgG, Schilddrüsenparameter sowie weitere Serum- bzw. Urinanalysen.
Therapie
Da es bis heute keine durch ausreichend große Studien statistisch gesicherten Daten zur Behandlungseffektivität bzw. Prophylaxe der gefürchteten Hirnblutung bei der ITP gibt und diese auch nicht zu erwarten sind, basiert eine Therapieentscheidung weiterhin auf Leitlinien und der individuellen Erfahrung des Behandlers. Weiterhin gilt, dass Vor- und Nachteile einer Therapie sowie deren Kosten gegenüber einer abwartenden Haltung abgewogen werden sollten.
In den meisten Fällen kann die Betreuung des Kindes ambulant erfolgen, Kindergarten- und/Schulbesuch sind mit Einschränkungen möglich. Es gilt Blutungen zu behandeln, nicht aber die Thrombozytenzahl. Daher kann auf häufige Laborkontrollen verzichtet werden.
Das Dilemma, ob behandelt werden soll oder nicht, wird durch die Tatsache verstärkt, dass 30–70 % der Kinder auch ohne Behandlung binnen 3 Wochen Thrombozytenzahlen zwischen 50 und 100G/l erreichen. Durch Steroidtherapie oder Gabe von IVIG wird letztlich nur das zeitliche Intervall bis zum Erreichen ausreichender Thrombozytenzahlen verkürzt. Es bleibt ungeklärt, ob ein rascherer Anstieg der Thrombozytenzahl einen Einfluss auf Morbidität und Mortalität hat. Auch konnte durch Behandlungsstudien nicht belegt werden, dass sich das Risiko der Entwicklung einer chronischen ITP durch eine frühzeitige Intervention vermindern ließe.
Ein einheitliches therapeutisches Vorgehen konnte bisher nicht konsentiert werden. So wird in einigen Zentren weiterhin eine Thrombozytenzahl <20G/l als Indikation zur Intervention gesehen. Die aktuellen AWMF-Leitlinien stellen jedoch die klinische Symptomatik in den Vordergrund und geben die WHO-Definition der unterschiedlichen Blutungsgrade wider:
  • Moderate Blutungszeichen: in der Regel keine medikamentöse Therapie.
  • Bei beeinträchtigenden Schleimhautblutungen wäre Prednison oral 2 mg/kg KG/Tag für 4 Tage sowie eine antifibrinolytische Therapie zu erwägen (z. B. Tranexansäure lokal oder p. o. 3-mal 10–20 mg/kg KG/Tag), lokale Maßnahmen wie eine Nasentamponade, gegebenenfalls hämostyptische Watte.
  • Bei Thrombozytenzahlen <20G/l und deutlichen Blutungszeichen bzw. bei Thrombozytenzahlen <10/nl und geringer Purpura ist eine Behandlung mit IVIG (einmalig 1 g/kg KG oder 2 g/kg KG verteilt über 2–5 Tage) oder hochdosierten Steroiden (Prednison oral 2 mg/kg KG für 14–21 Tage oder 60 mg/m2 und Tag für 21 Tage, alternativ 4 mg/kg KG für 7 Tage und Reduktion bis Tag 21) indiziert.
Bei schweren Blutungszeichen und/oder anhaltenden Schleimhautblutungen wird folgendes Vorgehen als Standardtherapie empfohlen:
  • Steroide: Prednison 4 mg/kg KG/Tag für 4 Tage oder 2 mg/kg KG für 14 Tage gefolgt von 7 Tagen Dosisausschleichen oder
  • IVIG 0,8–1,0 g/kg KG/d 1–2 Dosen je nach Ansprechen,
  • und bei jungen Mädchen: hormonelle Beeinflussung einer Hypermenorrhö.
Bei schweren, evtl. lebensbedrohlichen Blutungen ist die Gabe eines Thrombozytenkonzentrats indiziert bzw. auch die Gabe von Methylprednisolon 30 mg/kg KG (maximal 1 g) i.  v. über 20–30 min. Inwieweit die (Teil-)Splenektomie indiziert sein kann, ist weiterhin umstritten und sollte insbesondere bei Erstdiagnose nicht erwogen werden.
Prognose
Unabhängig von der Therapieform erreichen etwa 90 % der Fälle eine Remission binnen 1–6 Monaten. Bei 30–70 % der unbehandelten Kinder ist eine Spontanremission zu beobachten. Für die gefürchtete Hirnblutung wurde lange eine Häufigkeit von 1:100 angenommen, nach neueren Daten liegt diese jedoch nur bei 1:500. Mit einem ca. 8-fach erhöhten Risiko ist jedoch bei Kindern mit einer chronischen Verlaufsform oder bei zusätzlichen Risikofaktoren zu rechnen. Die Mortalität der Hirnblutung liegt deutlich <1 %. Etwa 10 % der Kinder entwickeln eine chronische Verlaufsform (Werlhof-Krankheit), bei deren Therapie darauf zu achten ist, dass der Patient nicht unter den Nebenwirkungen der Therapie mehr leidet als unter der Thrombozytopenie selbst. An diesem Punkt ist die Diagnose ITP kritisch zu hinterfragen und weitere Diagnostik zu veranlassen. Zur Behandlung der chronischen ITP bzw. den Zweitlinientherapien wie Rituximab oder Thrombopoetin-Mimetika verweisen wir auf die entsprechende Leitlinie.

Medikamenteninduzierte Thrombozytopenie

In der Übersicht sind Medikamente aufgeführt, die eine Thrombozytopenie auslösen können.
Medikamente, die eine Thrombozytopenie auslösen können
  • Aciclovir
  • Cephalosporine
  • Chinin, Chinidin
  • Chloramphenicol
  • Cimetidin
  • Colchicin
  • Cotrimoxazol
  • Digitalisglykoside
  • Furosemid
  • Ganciclovir
  • Heparin
  • Lamivudin
  • Hydroxyurea
  • Indomethazin
  • Isoniazid
  • Methyldopa
  • Nichtsteroidale Antirheumatika
  • Nitrofurantoin
  • Penicillin
  • Phenacetin
  • Prednison
  • Pyrazolonderivate
  • Ranitidin
  • Reserpin
  • Rifampicin
  • Sulfonamide
  • Streptomycin
  • Spironolacton
  • Tetrazykline
  • Thiamazol
  • Thiazide
  • Tolbutamid
  • Zytostatika
Als ein Beispiel für die durch Medikamente ausgelöste Thrombozytopenie wird im Folgenden die heparininduzierte Thrombozytopenie ausführlich beschrieben.
Heparininduzierte Thrombozytopenie
Epidemiologie
Die heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT) gilt allgemein als häufigste medikamenteninduzierte Thrombozytopenie. Bei Kindern ist sie eine Rarität.
Pathogenese
Heparin bindet an den aus aktivierten Thrombozyten freigesetzten Plättchenfaktor 4 (PF4). Der Komplex aus Heparin und dem Plättchenfaktor 4 wirkt immunogen. Gegen den Medikament/Proteinkomplex – das Antigen – entwickeln einige Patienten Antikörper. Nach der Bindung an den Komplex binden die Antikörper mit ihrem Fc-Teil an einen Rezeptor auf den Thrombozyten. Dies führt zur weiteren Aktivierung der Thrombozyten mit weiterer Freisetzung von PF4 und konsekutiver Komplexbildung.
Die Thrombozytopenie ist nicht Folge einer Destruktion, sondern einer gesteigerten Aggregatbildung, d. h. eines intravasalen Verbrauchs mit Thromboseneigung. Typischerweise kommt es 5–14 Tage nach der Heparinzufuhr zum Abfall der Thrombozyten und mit einer variablen Latenzzeit zur Ausbildung lebensbedrohlicher arterieller und venöser Thrombosen.
Diese Nebenwirkung tritt unter der Gabe von unfraktioniertem Heparin 10-mal häufiger auf als bei Behandlung mit niedermolekularem Heparin.
Diagnose
Bei Entwicklung einer Thrombozytopenie oder Abfall der Thrombozytenzahl auf 50 % des Ausgangswerts unter Heparingabe (dosisunabhängig) sollte an diese gefährliche Nebenwirkung gedacht und die Diagnostik zur Sicherung der Diagnose veranlasst werden. Unabhängig von der Thrombozytenzahl ist eine HIT bei arteriellen oder venösen Thrombosen unter Heparintherapie sowie bei zunehmendem Heparinbedarf und inadäquater PTT-Verlängerung in die differenzialdiagnostischen Überlegungen mit einzubeziehen.
Therapie
Ist die Diagnose durch immunologische und/oder funktionelle Tests gesichert, muss jede Heparinzufuhr sofort gestoppt und wegen des hohen Thromboserisikos auch bei extremer Thrombozytopenie eine alternative Antikoagulation mit Argatroban (Argatra) oder Danaparoid-Natrium (Orgaran) begonnen werden. Eine Umstellung von Standardheparin auf niedermolekulares Heparin ist wegen der hohen Rate an Kreuzreaktionen kontraindiziert. Sind bereits thromboembolische Verschlüsse aufgetreten und besteht eine Indikation zur Lysetherapie, so stellt die Thrombozytopenie keine Kontraindikation dar, da diese wegen der Gerinnungsaktivierung nicht zu einer Blutungsneigung führt.
Prognose
Bei Nichterkennen ist von einer hohen Rate an arteriellen und venösen Verschlüssen auszugehen mit einem erhöhten Risiko von Amputationen. Bei Erwachsenen sind Todesfälle beschrieben.

Hereditäre hyporegeneratorische Thrombozytopenie

Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom
Die seltenen, angeborenen, amegakaryozytären Thrombozytopenien sind häufig mit Skelettfehlbildungen assoziiert. Charakteristisch für das Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom (thrombocytopenia-absent-radius-syndrome; TAR-Syndrom) ist die Fehlbildung des Unterarms und des Daumens. Eine molekulargenetische Abklärung ist möglich. Weitere Missbildungen der unteren Extremität sowie des Herzens können assoziiert sein. Die Thrombozytopenie ist sehr variabel mit unterschiedlich ausgeprägter Blutungsneigung. Im Allgemeinen wird von einer Besserung der Symptomatik mit zunehmendem Alter berichtet. Bei kleineren operativen Eingriffen kann die Hämostase durch Infusion von Desmopressin (DDAVP) verbessert werden. Die Effektivität der DDAVP-Behandlung könnte durch Verkürzung der Blutungszeit dokumentiert werden. Für größere Operationen oder zur Behandlung stärkerer Blutungen erfolgt die Gabe von Thrombozytenkonzentrat.
May-Hegglin-Anomalie
Die betroffenen Individuen fallen durch eine verminderte Thrombozytenzahl auf, im Blutausstrich zeigen sich Riesenthrombozyten und charakteristischerweise Neutrophile mit Döhle-Körperchen (Abb. 3). Es handelt sich bei dieser autosomal-dominant vererbten Störung in der Regel um eine Anomalie ohne Krankheitswert (Genort: 22q11.2; Myosin-heavy-chain-9[MYH9]-Gen). Nur in seltenen Fällen ist die Thrombozytopenie symptomatisch, es sollten dann zusätzliche, angeborene oder erworbene Ursachen einer Blutungsneigung, wie das Von-Willebrand-Syndrom abgeklärt werden. Die Splenektomie ist nicht effektiv und nicht indiziert.
Wiskott-Aldrich-Syndrom
Der genetische Defekt des von Wiskott, einem deutschen Kinderarzt, 1937 erstmals als familiärer, angeborener Morbus Werlhof beschriebenen Wiskott-Aldrich-Syndroms (WAS) ist auf Mutationen des WASP-Gens zurückzuführen, die eine Funktionsstörung von T-Lymphozyten und Thrombozyten hervorrufen (Genort: Xp11.23–p11.22; Kap. „T-zelluläre und kombinierte Immundefekte bei Kindern und Jugendlichen“). Klinisch auffällig sind nur Jungs (X-chromosomal vererbt).
Die Thrombozytopenie ist durch den vermehrten Abbau der defekten Thrombozyten bedingt. Nach Splenektomie kann daher ein deutlicher Anstieg von Zahl und Größe der Thrombozyten beobachtet werden. Die Megakaryopoese des Knochenmarks ist unauffällig.
Der periphere Blutausstrich zeigt eine Verminderung der Thrombozytenzahl auf bis zu 10 % der Norm sowie auffallend kleine Thrombozyten. Dies spiegelt sich in einem verminderten mittleren Thrombozytenvolumen (MPV) sowie in einer Linksverschiebung der Thrombozytenvolumenverteilungskurve wider. Bedingt durch eine Kombination von Thrombozytopenie und Thrombozytenfunktionsstörung ist die Blutungszeit verlängert. Bei der Thrombozytenaggregation, sofern technisch möglich, fallen die fehlende Antwort auf den Agonisten ADP und eine gestörte Freisetzungsreaktion der α-Granula auf. Bei einigen Patienten zeigt sich eine Verminderung der GP-Ib-Rezeptoren auf der Thrombozytenmembran und mittels FACS-Analyse die Verminderung von CD43 auf den Lymphozyten. Zu immunologischen Auffälligkeiten, Therapie und Prognose Kap. „T-zelluläre und kombinierte Immundefekte bei Kindern und Jugendlichen“, Abschn. „Syndromale Immundefekte“.
Familiäre Thrombozytopenie
Die familiäre Thrombozytopenie (familary platelet dysfunction, FPD/AML) geht mit einer mäßigen Thrombozytopenie (Werte zwischen 60 und 140G/l) und einer Dysfunktion der Plättchen einher. Die Patienten sind heterozygot für Mutationen des hämatopoetischen Transkriptionsfaktors CBF-A2 (früher AML-1) auf Chromosom 21, der auch an der chromosomalen Translokation t (8; 21) bei der akuten myeloischen Leukämie FAB-M2 beteiligt ist (AML-1/ETO). Die Patienten haben ein deutlich erhöhtes Risiko für die Manifestation einer AML.

Thrombozytose

Definition
Bei Thrombozytenzahlen >450G/l liegt eine Thrombozytose vor.
Pathogenese
Unterschieden wird zwischen primärer oder essenzieller Thrombozytose bzw. Thrombozythämie (ET) aus dem myeloproliferativen Formenkreis durch Proliferation von Megakaryozyten und sekundärer, d. h. reaktiver Thrombozytose im Rahmen einer anderen Grundkrankheit (Tab. 4). Die meisten Thrombozytosen im Kindesalter sind reaktiv infolge eines Eisenmangels, akuter Infektionen oder chronisch-entzündlicher Erkrankungen. Daher kann die Thrombozytenzahl häufig als ein Verlaufsparameter für die Aktivität der Krankheit dienen (z. B. beim Kawasaki-Syndrom). Die Gesamtthrombozytenmasse wird durch Thrombopoetin geregelt und physiologischerweise sind ca. ein Drittel der Gesamtthrombozyten in der Milz gespeichert. Bei einer Asplenie stellt die erhöhte Thrombozytenzahl somit keine absolute Erhöhung der Gesamtthrombozytenzahl dar.
Tab. 4
Differenzialdiagnosen der Thrombozytose im Kindesalter
Syndrome/Erkrankungsgruppen
Krankheiten
Primäre oder autonome Thrombozytose
Myeloproliferative Syndrome
Essenzielle Thrombozythämie,
Polycythaemia vera,
chronisch-myeloische Leukämie,
5q(−)-Syndrom,
idiopathisch-sideroblastische Anämie
Sekundäre oder reaktive Thrombozytose
Entzündliche Erkrankungen
Akute virale und bakterielle Infektionen,
akutes rheumatisches Fieber,
chronische Osteomyelitis,
entzündliche Darmerkrankungen,
Kawasaki-Syndrom (Vaskulitis),
rheumatische Erkrankungen,
Medikamenteninduzierte Defekte
Adrenalin,
Vinca-Alkaloide,
Therapie des Eisen- oder Vitamin-B12-Mangels,
Neugeborene drogenabhängiger Mütter
Immunologische Erkrankungen
Graft-versus-host-Reaktion
Hämatologische Erkrankungen
Eisenmangel (Hauptursache),
Vitamin-E-Mangel,
chronisch-hämolytische Anämie und Hämoglobinopathien,
Rebound-Phänomen nach Thrombozytopenie
Onkologische Erkrankungen
andere solide Tumoren,
Karzinome
Chirurgische oder funktionelle Asplenie
Posthämorrhagisch, postoperativ, posttraumatisch
Sonstiges
Nierenvenenthrombose
Die Genese der Thrombozytose infolge von Eisenmangel ist weiterhin ungeklärt. Es wird angenommen, dass Erythropoetin ebenfalls ein Wachstumsfaktor für Megakaryozyten sein könnte. Dagegen spricht allerdings, dass der Einfluss des Höhentrainings bei Sportlern oder die Erythropoetingabe bei Niereninsuffizienz nicht zu einem parallelen Anstieg der Thrombozytenzahl führt.
Klinische Symptome
Die reaktiven Formen sind zumeist asymptomatisch. Eine primäre Thrombozytose bzw. Thrombozythämie infolge einer angeborenen oder erworbenen somatischen Mutation (Januskinase-2(JAK2)- oder Calretikulin-Gen (CALR) im Kindesalter ist eine Rarität. Von Patienten mit myeloproliferativem Syndrom ist bekannt, dass in ca. 25  % der Fälle, zumeist in Abhängigkeit von der absoluten Thrombozytenzahl, eine Thrombose- oder Blutungsneigung auftreten kann. Bei Werten von 500–1000G/l überwiegt die Thromboseneigung. Ob dies auch für Kinder gilt, ist nicht sicher belegt. Die Blutungsneigung ist durch ein erworbenes VWS (Abschn. 1.5) und/oder eine Thrombozytenfunktionsstörung bedingt).
Diagnose
Ist eine reaktive Thrombozytose ausgeschlossen, so ist zunächst eine genetische Diagnostik mit der Suche nach Mutationen im JAK2-, CALR- und MPL-Gen sowie anschließend eine hämatologische Abklärung mit Beurteilung des Knochenmarks zu fordern. Ein erworbenes VWS sollte ausgeschlossen werden (Analyse des VWF-Antigens, der VWF-Aktivität, Kollagenbindungsaktivität und, gegebenenfalls zur Bestätigung, die Analyse der VWF-Multimere). Um insbesondere das Risiko der Blutungsneigung vor einer medikamentösen Behandlung abschätzen zu können, ist auch eine Untersuchung der Thrombozytenfunktion sinnvoll, denn dabei zeigt sich häufig eine Thrombozytopathie (Speicherstörung der delta-Granula).
Therapie
Eine Behandlung der reaktiven Formen mit dem Thrombozytenaggregationshemmer Acetylsalicylsäure (ASS) ist nicht indiziert. Eine medikamentöse Reduktion der Thrombozytenzahl ist in diesen Fällen nicht angezeigt. Vitamin- oder Eisenmangelzustände sind auszugleichen.
Die Behandlung der Thrombozythämie richtet sich nach der Ursache (Tab. 4). Mit Auftreten von Symptomen wird im Allgemeinen eine myelosuppressive Behandlung mit Hydroxyurea, Interferon oder Anagrelide eingeleitet. Bei einer Thromboseneigung ist zusätzlich eine Antikoagulation indiziert. Zur Behandlung arterieller Durchblutungsstörungen wäre ASS das Mittel der Wahl, gegebenenfalls besteht eine Indikation zur langfristigen s.c.-Gabe von niedermolekularem Heparin oder zur oralen Antikoagulation mit einem Vitamin-K-Antagonisten.
Verlauf und Prognose
Die Prognose der reaktiven Thrombozytosen ist abhängig von der Grundkrankheit und als günstig zu beurteilen. Die essenzielle Thrombozythämie stellt unter Umständen die Vorstufe einer malignen Erkrankung dar.

Thrombozytenfunktionsstörungen

Definition
Wesentlich seltener als quantitative Störungen finden sich im Kindesalter qualitative Störungen der Thrombozyten. Differenziert wird zwischen angeborenen und erworbenen Thrombozytenfunktionsstörungen (Tab. 5). Eine Thrombozytenfunktionsstörung besteht bei Fehlen, Dysfunktion oder Antikörperblockade von Thrombozytenmembranrezeptoren oder kann durch eine Störung des Thrombozytenstoffwechsels bedingt sein. Der klinische Schweregrad der Blutungsneigung ist variabel.
Tab. 5
Differenzialdiagnosen der Thrombozytenfunktionsstörung
Ätiopathogenese
Erkrankungsgruppe
Krankheit/Ursache
 
Bernard-Soulier-Syndrom,
Glanzmann-Naegeli-Syndrom (Thrombasthenie Glanzmann-Naegeli),
Storage-pool-Syndrom (Fehlen der δ- und/oder α-Granula),
Gray-platelet-Syndrom (Fehlen der α-Granula),
andere seltene Defekte
Erworbene Thrombozytopathien
Medikamenteninduzierte Defekte
Acetylsalicylsäure,
andere Thrombozytenaggregationshemmer (z. B. ADP-Rezeptorenblocker),
nichtsteroidale Antirheumatika/Antiphlogistika (u. a. auch Ibuprofen),
Penicilline, Cephalosporine
Andere Grundkrankheiten
Urämie,
Leberfunktionsstörungen,
Diagnose und Differenzialdiagnose
Der Verdacht auf eine thrombozytäre Störung besteht, wenn eine auffällige Blutungsnanamnese vorliegt, keine gerinnungshemmenden Medikamente eingenommen werden und die häufig vorkommenden Gerinnungsstörungen, wie die Hämophilie beim Jungen und das geschlechtsunabhängig vererbte Von-Willebrand-Syndrom ausgeschlossen wurden. Die thrombozytäre Diagnostik beginnt mit der Blutbildbestimmung, einschließlich der Bestimmung des Diffenzialblutbildes, des Thrombozytenvolumens, der Thrombozytenverteilung und der mikroskopischen Ausstrichbeurteilung (AWMF-Leitlinie Registernr. 086-003 Diagnose von Thrombozytenfunktionsstörungen). Zu beachten ist, dass eine Thrombozytopenie das Vorliegen einer Thrombozytopathie nicht ausschließt. Bei Verdacht auf eine Thrombozytenfunktionsstörung sollten direkt sensitive Methoden zur sicheren Diagnosestellung eingesetzt werden. An erster Stelle steht die Untersuchung der Thrombozytenaggregation im plättchenreichen Plasma mit unterschiedlichen Agonisten. Diese Methode ist allerdings nicht für die Untersuchungen von Proben thrombozytopenischer Patienten geeignet. Üblicherweise werden 4 verschiedene Agonisten – Kollagen, Adenosindiphosphat (ADP), Ristocetin, Adrenalin oder Arachidonsäure – eingesetzt. Auf diese Weise können die häufigsten hereditären und erworbenen Störungen erkannt werden. Eine Verarbeitung des Materials vor Ort innerhalb von 2–4 Stunden muss gewährleistet sein. Zusätzlich kann die Beurteilung der Sekretionsleistung der thrombozytären α- und δ-Granula für die Diagnose (z. B. Storage-pool-Syndrom, MDS) hilfreich sein. Diese und weitere Techniken zur Untersuchung der Thrombozytenfunktion sind erfahrenen Gerinnungslaboratorien vorbehalten.
Die Sicherung der Diagnose einer hereditären Thrombozytopathie erfolgt neben Aggregationsuntersuchung auch durch die Immunphänotypisierung von Thrombozyten mithilfe der Durchflusszytometrie (FACS). Mittels fluoreszierender, monoklonaler Antikörper können die Membranrezeptoren quantitativ im EDTA-Blut oder in einer Thrombozytensuspension untersucht werden. Der PFA®-Test, der auch als in-vitro-Blutungszeit bezeichnet wird, ist nur für die Diagnostik der sehr selten auftretenden schweren Thrombozytopathien geeignet, jedoch nicht für die häufiger vorkommenden leichten thrombozytären Störungen. Auch die in-vivo-Blutungszeit stellt für die thrombozytäre Diagnostik keine geeignete Methode dar.

Bernard-Soulier-Syndrom

Pathogenese
Die Ursache dieser Krankheit ist das Fehlen des GP-Ib/IX(und des GP-V)-Komplexes der Thrombozytenmembran. Der Erbgang dieser seltenen Krankheit ist autosomal-rezessiv. Der Genort für GPIbα ist 17pter–p12, für GPIbβ 22q11.2 und das Gen für GPIX liegt auf Chromosom 3q21.
Klinische Symptome
Klinisch imponieren die Symptome der primären Hämostasestörung. Die Blutungsneigung ist variabel.
Diagnose
Bei der Diagnosestellung ist der periphere Blutausstrich wegweisend: Es zeigen sich eine normale bis leicht verminderte Thrombozytenzahl und Riesenthrombozyten mit einem Durchmesser von bis zu 8 μm und fehlender Granularität. Insbesondere die Thrombozytenzahl kann stark schwanken bzw. die Riesenthrombozyten werden von den automatischen Zählgeräten nicht zuverlässig erfasst. Auch bei heterozygoten Merkmalsträgern werden Riesenthrombozyten (<50  %) nachgewiesen. Die Blutungszeit ist verlängert. Die Thrombozytenaggregation ist charakterisiert durch das Ausbleiben der Agglutination nach Stimulation mit dem Agonisten Ristocetin. Die Sicherung der Diagnose erfolgt durch quantitative Rezeptorbestimmung (FACS-Analytik) und eine gezielte genetische Diagnostik.
Therapie und Prognose
Bei der Therapie von Blutungen sind primär lokale Maßnahmen und Antifibrinolytika einzusetzen. Wegen des Risikos der thrombozytären Alloantikörper- und HLA-Antikörperbildung sollte die Thrombozytensubstitution nur in bedrohlichen Situationen erfolgen, wenn andere Alternativen, wie z. B. Gabe von rekombinantem Faktor VIIa (NovoSeven®, ausserhalb der Zulassung), erfolglos eingesetzt wurden. Dann ist die Transfusion von Thrombozytenapheresekonzentraten möglichst von einem HLA-passenden Spender indiziert. In unkontrollierbaren Fällen ist als Ultima Ratio eine allogene Stammzelltransplantation zu erwägen.

Thrombasthenie Glanzmann-Naegeli

Pathogenese
Die Krankheit, auch Thrombasthenie genannt, wurde erstmals 1918 von dem Schweizer Kinderarzt Glanzmann als Blutungsneigung vom Thrombozytopenietyp bei normaler Thrombozytenzahl beschrieben. Ursächlich ist das Fehlen (Typ I) oder eine erhebliche Reduktion (Typ II) des GP-IIb/IIIa-Komplexes. Die seltene Krankheit wird autosomal-rezessiv vererbt. Zahlreiche Mutationen des Genorts auf 17q21.23, die zum klinischen Bild der Thrombasthenie führen, sind bereits beschrieben.
Klinische Symptome
Klinisch imponieren die Symptome einer primären Hämostasestörung, wobei diese bei den homozygoten Merkmalsträgern oft sehr ausgeprägt sind, und die Epistaxis sowie die Menstruationsblutung zum bedrohlichen Ereignis bis zur Notwendigkeit der Transfusion von Erythrozytenkonzentraten werden kann. Beim Heterozygotenstatus ist die Blutungsneigung in der Regel leicht.
Diagnose
Der periphere Blutausstrich zeigt eine normale Thrombozytenzahl und Morphologie. Die Thrombozytenaggregationsstörung ist charakterisiert durch das Ausbleiben der Aggregation nach Stimulation mit den Agonisten ADP, Kollagen, Arachidonsäure und Adrenalin bei auslösbarer Ristocetin-induzierter Agglutination mit typischer Desaggregation. Typ I ist gekennzeichnet durch fehlendes Fibrinogen in den α-Granula und fehlende Gerinnselretraktion. Bei Patienten mit Typ II ist die Aggregation ebenfalls pathologisch, die Gerinnselretraktion ist erhalten und das thrombozytäre Fibrinogen vermindert. Die Sicherung der Diagnose erfolgt durch quantitative Rezeptorbestimmung (FACS-Analytik) und eine gezielte genetische Diagnostik. Die klinisch asymptomatischen, heterozygoten Merkmalsträger können nur durch die quantitative Rezeptorbestimmung oder durch die Molekulargenetik erfasst werden.
Therapie und Prognose
Zu Therapie und Prognose, siehe Bernard-Soulier-Syndrom.

Storage-pool-Erkrankungen

Pathogenese
Ursächlich für diese zumeist angeborenen Defekte der Freisetzung von Thrombozyten ist das Fehlen der elektronendichten, dense- oder δ-Granula und/oder α-Granula. Ihr Fehlen führt zu einer verminderten Adhäsions- und Aggregationsfähigkeit.
Klinische Symptome
Die Blutungsneigung ist variabel und im Allgemeinen deutlich geringer als bei den Rezeptormangelzuständen der Thrombozytenmembran.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Neben der Untersuchung der Thrombozytenaggregation ist zur Sicherung der Diagnose die Sekretionsleistung zu beurteilen. Diese Untersuchungen erfolgen mittels Durchflusszytometrie bzw. Luminometrie in erfahrenen Gerinnungslaboratorien. Eine genetische Diagnostik steht für diese Erkrankungsgruppe noch nicht zur Verfügung.
Therapie
Bei Blutungen kann eine Blutstillung meist durch die Infusion mit Desmopressin (DDAVP), gegebenenfalls in Kombination mit einem Antifibrinolytikum erzielt werden. Sollte ein Therapieversagen auftreten, ist die außerhalb der Zulassung liegende Gabe von rFVIIa oder die Thrombozytentransfusion indiziert.
Verlauf und Prognose
Die Blutungsneigung infolge einer Storage-pool-Erkrankung kann isoliert auftreten und in seltenen Fällen auch erworben sein. Die Prognose ist variabel, da diese Thrombozytenfunktionsstörung häufig mit einer anderen Grundkrankheit assoziiert ist (Chediak-Higashi-Syndrom, Hermansky-Pudlak-Syndrom, myeloproliferatives Syndrom).

Von-Willebrand-Syndrom

Definition
Erstbeschreiber ist der finnische Arzt von Willebrand, der 1926 bei einer großen Familie auf den Åaland-Inseln die Ursache ihrer Blutungsneigung als hereditäre Pseudohämophilie beschrieb. Das Von-Willebrand-Syndrom (VWS) ist eine autosomal-dominant oder -rezessiv vererbte Störung der primären Hämostase, in schweren Fällen sowie bei Sonderformen auch der sekundären Hämostase auf der Grundlage quantitativer und/oder qualitativer Defizienzen des Von-Willebrand-Faktors (VWF). Leichte quantitative Verminderungen werden als VWS Typ 1, Defekte mit vollständigem Fehlen des VWF als Typ 3 bezeichnet. Qualitative Defekte werden unter VWS Typ 2 zusammengefasst. Das VWS ist die häufigste hereditäre hämorrhagische Diathese mit einer Prävalenz von 1:(1000–)3000–5000. Die unterschiedlichen Literaturangaben beruhen auf dem Problem, dass ca. 1 % der Normalbevölkerung grenzwertige VWF-Werte hat, aber die Definitionskriterien des VWS nicht erfüllen (sog. Labor-Willebränder).
Eine behandlungsbedürftige Symptomatik findet sich nur bei ca. 1:10.000 Personen. Neben diesen hereditären Formen ist auch das erworbene VWS zu berücksichtigen.
Erbgang
Der schwere, jedoch seltene Typ 3 des VWS mit einer Prävalenz von ca. 2–5/1.000.000 wird autosomal-rezessiv vererbt. In den meisten anderen Fällen ist der Erbgang dominant. Das Gen ist auf dem kurzen Arm von Chromosom 12 (12p13.3) lokalisiert. Es ist ca. 178 kb groß und besteht aus 52 Exons, von denen das erste nicht kodierend ist. Die Größe der kodierenden DNA beträgt 8439 bp (base pairs). Nach primärer Translation zum aus 2813 Aminosäuren bestehenden Prä-Pro-Peptid erfährt der VWF eine erhebliche sekundäre Modifikation und polymerisiert zu sog. Multimeren.
Pathophysiologie
Der VWF ist ein riesiges adhäsives Protein mit Bindungsstellen für zirkulierende Proteine (Faktor VIII), unlösliche Strukturen des Subendotheliums (Kollagen) sowie zelluläre Oberflächenstrukturen (Thrombozytenoberflächen-Glykoproteine GP-Ib, GP-IIb/IIIa). Hierauf beruht seine Schlüsselstellung in der primären Hämostase als Mediator der Thrombozytenadhäsion an das verletzte Subendothel. Er besteht aus einer Vielzahl von identischen Monomeren, die in unterschiedlich großen Multimeren kovalent miteinander verbunden sind. Seine Funktion in der primären Hämostase ist an die besonders großen VWF-Multimere gebunden, welche sich an Kollagen im verletzten Subendothel binden und sich unter Scherstress in der Zirkulation entfalten. Hierdurch kommt es zunächst zur reversiblen Thrombozytenadhäsion, in der Folge aber durch Thrombozytenaktivierung zur irreversiblen Thrombozytenaggregation an der Gefäßläsion. Eine Regulation dieser Reaktion erfolgt durch die VWF-Protease ADAMTS13. An dem initialen Thrombozytenaggregat spielt sich daraufhin die sekundäre Hämostase mit quervernetztem Fibrin als Endprodukt ab.
Die zweite wichtige Funktion des VWF ist die Bindung von Faktor VIII (FVIII), der hierdurch vor einem vorzeitigen Abbau, z. B. durch aktiviertes Protein C geschützt ist (Abb. 4).
Beim schweren VWS (Typ 3) sind alle Funktionen des VWFs beeinträchtigt. So ist neben der defekten primären Hämostase über eine ausgeprägte FVIII-Verminderung (<5  %) auch die sekundäre Hämostase gestört. Dies ist für eine adäquate Therapie zu berücksichtigen.
Bei der leichten Form des VWS (Typ 1) ist die sekundäre Hämostase nicht beeinträchtigt.
Bei den verschiedenen übrigen Varianten des VWS (Typ 2) können auch nur einzelne Teilfunktionen des VWF reduziert sein. In diesem Zusammenhang ist vor allem das VWS Typ Normandie (VWS 2N) von Interesse, da dieses durch einen erniedrigten FVIII infolge einer gestörten FVIII-Bindung des Patienten-VWF auffällig wird und somit eine milde Hämophilie A (Pseudohämophilie) bzw. bei Frauen V. a. einen Konduktorinnenstatus vortäuscht. Das VWS Typ 2A ist durch ein Fehlen der besonders großen VWF-Multimere charakterisiert und der damit verbundenen Störung der thrombozytenabhängigen Hämostase. Das VWS Typ 2B zeichnet sich durch eine gesteigerte Affinität des VWF an den Plättchenrezeptor GP-Ib der Thrombozyten aus und ist daher oft mit einer Thrombozytopenie assoziiert.
Ein erworbenes VWS kann durch Auftreten von spezifischen VWF-Autoantikörpern bedingt sein und mit erheblicher Blutungsneigung einhergehen. Diese Autoantikörper sind jedoch im Kindesalter sehr selten. Häufiger sind kardiale Vitien Ursache eines klinisch bedeutsamen, erworbenen VWS. Dabei kommt es bedingt durch Klappenfehler, Shunts oder Stenosen zu unphysiologisch hohen Scherkräften in der Zirkulation, mit der Folge verstärkter Aktivierung und gleichzeitig verstärktem proteolytischen Abbau des VWF durch dessen Protease ADAMTS13.
Klinische Symptome
Leitsymptom des VWS als Ausdruck einer Störung der primären Hämostase ist die profuse Schleimhautblutung, insbesondere im Nasen-Rachen-Raum. Nasenbluten ist das häufigste Symptom, aber unspezifisch. Im Gegensatz zur Hämophilie findet man lang anhaltende Blutungen auch aus kleinsten Schnitt- und Schürfwunden. Beinahe regelhaft kommt es zu andauernden Blutungen nach Zahnwechsel, Zahnextraktion, Einriss des Zungenbändchens, Verletzungen der Mundschleimhaut, Tonsillektomie und seltener bei Adeno- und Tonsillotomie. Diese Blutungen werden bezüglich der Quantität oft unterschätzt, da das Blut verschluckt wird. Starke Blutungen anlässlich operativer Eingriffe im Schleimhautbereich können das Erstsymptom bei vorher unauffälligen Kindern sein. Die Hypermenorrhö ist ebenfalls ein typisches Blutungssymptom dieser Erkrankung. Für die quantitative Erfassung des Blutverlustes bei der Menstruationsblutung ist die Verwendung eines Blutungs-Scores (z. B. Pictorial Blood Assessment Chart) zu empfehlen und die laborchemische Untersuchung des Eisenhaushalts.
Beim VWS vom Typ 3 ist als Ausdruck des begleitenden schweren FVIII-Mangels auch die sekundäre Hämostase betroffen. Neben Schleimhautblutungen werden bei diesen Patienten auch hämophilieartige Blutungen, wie Gelenk- und Muskelblutungen, beobachtet. Von besonderer Bedeutung sind bei weiblichen Jugendlichen schwere und lang anhaltende Regelblutungen.
Diagnose
Bei positiver Eigen- und Familienanamnese sollten die quantitativen (VWF:Ag) und funktionellen Parameter (VWF:RCo und VWF:CB) des VWF bestimmt werden, seit einiger Zeit steht ein zusätzlicher Test für die VWF-Aktivität (VWF:GP-Ib) zur Verfügung. Das entsprechende Untersuchungsprogramm findet sich in Tab. 6 dargestellt. Die in-vivo-Blutungszeit wird heute nicht mehr empfohlen. Der bereits erwähnte PFA®-Test, mit dem die Verschlusszeit einer unter hohem Fluss mit der Blutprobe durchströmten Apertur in einer Membran gemessen wird, ist besser standardisiert, führt aber auch zu falsch-positiven Befunden, und eine normale Verschlusszeit schließt ein mildes VWS nicht sicher aus.
Tab. 6
Diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf VWS
Art des Tests
Suchtests
aPTT,
FVIII:C,
Thrombozytenzahl,
Erweiterte Tests
VWF:AG,
VWF:GP-Ib (misst die Bindung an Thrombozyten-GP-Ib), ersetzt zunehmend VWF:Ristocetin-Cofaktor (VWF:RCo),
VWF:Kollagenbindungsaktivität (VWF:CB)
Spezialtests
Ristocetin-induzierte Plättchenagglutination (VWF:RIPA),
Multimeranalyse des VWF,
FVIII-Bindungsaktivität der VWF (VWF:FVIIIB),
Gendiagnostik (nur falls Multimerenanalyse nicht eindeutig, zur Bestätigung seltener Formen des Typ 2)
Der VWF wird quantitativ als VWF:Ag (früher: Faktor-VIII-assoziiertes-Ag) durch immunologischen Nachweis bestimmt. Einen gewissen Hinweis auf die biologische Aktivität erhält man über die Bestimmung der VWF-Aktivität, der die Bindungsaktivität des VWF an Thrombozyten-GP-Ib direkt, ohne Zusatz von Ristocetin misst. Auch die Kollagenbindungsaktivität des VWF (VWF:CB) ist für die Diagnose hilfreich.
Schwierig und nur Speziallaboratorien vorbehalten ist die Differenzierung des VWS in die verschiedenen Typen und Subtypen, die jedoch wegen der typspezifischen Therapieoptionen einmalig notwendig ist. Die wichtigste Methode zur Unterscheidung der VWS-Typ-2-Subtypen ist die VWF-Multimeranalyse. Diese beruht auf einer SDS-Agarosegel-Elektrophorese zur Auftrennung der unterschiedlich großen Polymere des VWF (Multimere) mit anschließendem immunologischem Nachweis. Diagnostisch aussagekräftig sind dabei das Fehlen der biologisch besonders aktiven hochmolekularen, großen oder auch der mittelgroßen Multimere und/oder von der normalen Struktur abweichende, aberrante Elektrophoresebanden. Mittels der Ristocetin-induzierten Plättchenagglutination (VWF:RIPA) im plättchenreichen Plasma des Patienten bei niedrigen Ristocetinkonzentrationen lässt sich eine verstärkte Affinität des VWF zum Plättchenrezeptor GP-Ib und damit ein VWS Typ 2B diagnostizieren. Obwohl sich dieser Subtyp durch einen Funktionsgewinn des VWF auszeichnet, führt die hierdurch in vivo ausgelöste spontane Aggregation der Thrombozyten (auch im Blutausstrich zu sehen) nicht zu Gefäßverschlüssen, sondern über den Verbrauch der großen Multimere und eine evtl. zusätzlich auftretende, teilweise fluktuierende Thrombozytopenie zu einer hämorrhagischen Diathese. Dieser Mechanismus ist therapeutisch von Bedeutung (siehe unten).
Das VWS Typ 2B wird gelegentlich als Immunthrombozytopenie fehldiagnostiziert mit der Folge einer inadäquaten Behandlung, gegebenenfalls bis zur Splenektomie. Anders als bei der ITP bessert eine Splenektomie die Thrombozytopenie allerdings nicht und ist daher nicht indiziert.
Mittels Bestimmung der FVIII-Bindungsaktivität des VWF (VWF:FVIIIB) kann das VWS Typ 2N diagnostiziert werden, das sich bei homozygotem Defekt nur durch einen erniedrigten FVIII:C auszeichnet (wichtigste Differenzialdiagnose bei Verdacht auf (Sub-)Hämophilie A).
Problematisch ist die unzureichende Standardisierbarkeit vieler der genannten Untersuchungen, insbesondere der Multimeranalyse. Diese sollte daher nur in einem Referenzlabor durchgeführt werden. Mit der konventionellen Diagnostik nicht eindeutig klassifizierbare VWS-Typen können durch eine molekulargenetische Untersuchung näher charakterisiert werden.
Therapie
Zur Therapie der Epistaxis ist neben den bereits beschriebenen lokalen Maßnahmen auch die systemische oder lokale Gabe von Tranexamsäure (in Form einer durch die Apotheke herzustellenden Tranexamsäure-enthaltenden Salbe bzw. eines solchen Sprays). Ein großes Problem sind Meno- und Metrorrhagien. Hier ist zur Behandlung frühzeitig ein Kontrazeptivum zu verordnen, sollte die alleinige Einnahme von Tranexamsäure nicht ausreichen. Zusätzlich kann die Gabe von DDAVP (siehe unten) in Form des dafür zugelassenen Nasenspays OCTOSTIM® eingesetzt werden (Cave! Nicht mit den Präparaten zur Behandlung des Diabetes insipidus [oder Nykturie] zu verwechseln, diese sind um den Faktor 10 niedriger dosiert und nicht effektiv).
Desmopressin
Neben der Möglichkeit der Substitution des VWF durch VWF-haltige Konzentrate kann in Fällen eines leichten VWS auch endogen gespeicherter VWF durch Gabe des synthetischen ADH-Analogons Desmopressin (DDAVP) in einer Dosis von 0,3 (bis maximal 0,4)μg/kg KG freigesetzt und für die Hämostase verfügbar gemacht werden. Die sog. Weibel-Palade-Bodies in Endothelzellen speichern VWF in hoher Konzentration, sodass dessen Freisetzung zu einem Anstieg auf das 2- bis 3-Fache des Ausgangswerts führen kann. Dies ist bei Patienten mit leichtem VWS ausreichend und daher – nach erfolgreicher Testung – Mittel der 1. Wahl.
Diese Option ist für Patienten mit VWS Typ 3 nicht vorhanden, da bei ihnen kein VWF nachweisbar ist und somit auch keine VWF-Speicher vorliegen. Auch beim Subtyp 2A ist die Therapie mit DDAVP zumindest problematisch; mit verstärkter Freisetzung eines qualitativ defekten VWF aus den Speicherorganellen geht theoretisch keine wesentliche Verbesserung der Funktion einher. Dennoch kann in manchen Fällen, nach vorheriger Testung, DDAVP mit ausreichendem Erfolg eingesetzt werden, wobei dies in Abhängigkeit vom Ausmaß des jeweiligen invasiven Eingriffs zu entscheiden ist. Bei größeren operativen Eingriffen sollten diese Patienten mit einem VWF-haltigen Konzentrat behandelt werden. Beim Subtyp 2B ist mit einer durch DDAVP ausgelösten Thrombozytopenie zu rechnen, die zur Verschlechterung der Hämostase führen kann. Bei den leichteren Formen des VWS Typ 2N mit einer Restbindungsaktivität des VWF für FVIII kann mit einer Verbesserung der Hämostase durch DDAVP gerechnet werden.
Letztlich lässt sich das Ansprechen nur mithilfe eines DDAVP-Tests ermitteln, der außer bei Patienten mit VWS Typ 3 bei allen anderen VWS-Patienten ohne Kontraindikationen durchgeführt werden sollte.
Bei Patienten mit einer Neigung zu zerebralen Krampfanfällen ist die Gabe von DDAVP zur Kontrolle der Hämostase problematisch, da über die antidiuretischen Nebeneffekte oder direkt durch zentralnervöse Nebenwirkungen Anfälle ausgelöst werden können. Auch sollte DDAVP wegen der Gefahr der Entgleisung des Wasser- und Elektrolythaushalts Kindern <3 Jahren nicht gegeben werden. Generell sollte nach dem Einsatz von DDAVP für mindestens 12 Stunden eine Flüssigkeitsrestriktion auf 2/3 des Halbtagesbedarfs eingehalten werden.
Bei wiederholtem Einsatz von DDAVP ist das Problem der Tachyphylaxie zu berücksichtigen (entleerte Speicher bei mehrfachen Gaben nach ca. 3–5 Tagen).
Substitutionstherapie
Die Substitution des VWF durch FVIII/VWF-haltige Konzentrate ist vor allem beim VWS Typ 3 indiziert. Operative Eingriffe lassen sich bei diesen Patienten nur unter Substitution mit geeigneten Konzentraten durchführen. Gelegentlich ist auch dies nicht ausreichend. Hierbei mag das Fehlen des VWF auch in den Thrombozyten eine Rolle spielen. Es ist daher gegebenenfalls die zusätzliche Bereitstellung von Thrombozytenkonzentraten bei blutungskritischen operativen Eingriffen angezeigt, die bei nicht ausreichender Blutstillung transfundiert werden sollten.
Patienten mit VWS Typ 2 sollten bei größeren Eingriffen und bei nachgewiesener Unwirksamkeit von DDAVP mit VWF substituiert werden. Bei Vorliegen von Kontraindikationen gegen DDAVP (siehe oben) sollten auch Patienten mit VWS Typ 1 mit einem Konzentrat behandelt werden.
Zu beachten ist, dass nur für die Therapie des Von-Willebrand-Syndroms zugelassene FVIII-Konzentrate, welche einen hohen Anteil des VWF enthalten oder reine VWF-haltige Konzentrate eingesetzt werden. Lediglich den FVIII-enthaltende plasmatische und rekombinante FVIII-Konzentrate sind dafür nicht geeignet. Die erforderlichen Dosen für die Substitution sind in Tab. 7 aufgeführt.
Tab. 7
Indikationen, Dosierung, Applikation und Therapiesteuerung bei der Behandlung von Störungen der Hämostase (alle Applikationen i. v., wenn nicht anders angegeben)
Indikation
Präparat
Dosis
Frequenz und Dauer
Zielbereich
Hämophilie A
Kleinere Blutung
FVIII-Konzentrat*
15–20 IE/kg KG
Nach Bedarf
 
Gelenk-, Muskelblutung
FVIII-Konzentrat*
20–30 IE/kg KG
2- bis 1-mal/Tag, 7–10 Tage
Initial >50 %
ZNS-Blutung
FVIII-Konzentrat*
75 IE/kg KG
Initial
>100 %
  
50 IE/kg KG
2-mal/Tag, Tag 1–14
>100 %
  
30 IE/kg KG
1-mal/Tag, Tag 15–21
>15 %
  
20–30 IE/kg KG
Alle 2 Tage als Prophylaxe
>2 %
Prophylaxe
FVIII-Konzentrat*
20–40 IE/kg KG
3-mal/Woche oder alle 2 Tage
>2 %
Alternativ Emicizumab
3 mg/kg s.c.
1-mal/Woche für die ersten 4 Wochen; dann alle 2 Wochen (Zulassung auch für wöchentlich weiter mit 1,5 mg/kg oder alle 4 Wochen mit 6 mg/kg)
Talspiegel >50 μg/ml
Kleine OP
FVIII-Konzentrat*
20–30 IE/kg KG
1-mal präoperativ, 3–5 Tage 2-mal/Tag postoperativ
>30 %
Große OP
FVIII-Konzentrat*
50 IE/kg KG
Präoperativ
100 %
  
30 IE/kg KG
2-mal/Tag, postoperativ Tag 1–3
>50 %
  
20 IE/kg KG
2-mal/Tag, postoperativ Tag 4–10(14)
>30 %
Gelenk-OP, Endoprothese
FVIII-Konzentrat*
50 IE/kg KG
Präoperativ
>100 %
  
30 IE/kg KG
2-mal/Tag, postoperativ Tag 1–3
>50 %
  
20 IE/kg KG
Postoperativ Tag 4–42
>30 %
Leichte Hämophilie
DDAVP
0,3 μg/kg KG, p. i. (30 min)
Max. 2-mal/Tag, max. für 2 Tage
>30 %
Hämophilie B
Kleinere Blutung
FIX-Konzentrat
30 IE/kg KG
Nach Bedarf
 
Gelenk-, Muskelblutung
FIX-Konzentrat
40–60 IE/kg KG
1-mal/Tag**, 7–10 Tage
Initial >40 %
ZNS-Blutung
FIX-Konzentrat
80 IE/kg KG
Initial
>80 %
30 IE/kg KG
2-mal/Tag**, Tag 1–15
60 %
30 IE/kg KG
1-mal/Tag**, Tag 16–21
30 %
20 IE/kg KG
Alle 3 Tage** als Prophylaxe
>2 %
Prophylaxe
FIX-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
2-mal/Woche**
>2 %
Kleine OP
FIX-Konzentrat
30 IE/kg KG
1-mal/Tag**, 3–5 Tage
>15 %
Große OP
FIX-Konzentrat
60 IE/kg KG
Präoperativ
60 %
40 IE/kg KG
1-mal/Tag**, postoperativ Tag 1–3
40 %
30 IE/kg KG
1-mal/Tag**, postoperativ Tag 4–10(14)
>20 %
Gelenk-OP, Endoprothese
FIX-Konzentrat
60 IE/kg KG
Präoperativ
60 %
40 IE/kg KG
1-mal/Tag**, postoperativ Tag 1–3
40 %
30 IE/kg KG
1-mal/Tag**, postoperativ Tag 4–42
>20 %
Prophylaxe
FIX-Konzentrat
20–40 IE/kg
2-mal/Woche oder bei Halbwertszeitverlängerung 1-mal alle 10–14 Tage
>2 %
FVII-Mangel
 
Plasmatisches FVII-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
4- bis 6-mal/Tag (siehe Hämophilie)
30–50 %
rFVIIa-Konzentrat
15–20 μg/kg KG
4- bis 6-mal/Tag (siehe Hämophilie)
 
FI(Fibrinogen)-Mangel
 
FI-Konzentrat
40–70 mg/kg KG
Nach Bedarf
>1g/l
FII-Mangel
 
Prothrombinkomplex
Defizit×IE/kg KG-Faktor
 
Quick >60 %
 
FX-Konzentrat
Defizit×IE/kg KG-Faktor
 
Quick >60 %
FV-Mangel
 
FFPb
20 ml/kg KG
All 12 h
10–15%
FX-Mangel
 
FX-Konzentrat
Defizit×IE/kg KG-Faktor
 
10–15%
FXI-Mangel
 
FFP
15–20 ml/kg KG
Alle 24–48 h
>20 %
FXIII-Mangel (schwer)
 
FXIII-Konzentrat
10 IE/kg KG
Alle 4 Wochen zur Prophylaxe
Nach Effekt
Große OP
FXIII-Konzentrat
35 IE/kg KG
Präoperativ;
Postoperativ, bis zu 1-mal/Tag (Spiegel!)
>30 %
Von-Willebrand-Syndrom
VWS Typ 1c
DDAVP
0,3 μg/kg KG, p. i. (30 min)
Max. 2-mal/Tag, max. für 3–4 Tage
VWF:Akt >50 %
FVIII/VWF-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
Nach Bedarf
VWF:Akt >50 %
VWS Typ 2c
DDAVP (nach Testung)
0,3 μg/kg KG, p. i. (30 min)
Max. 2-mal/Tag, max. für 2 Tage
VWF:Akt >50 %
FVIII/VWF-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
Nach Bedarf
VWF:Akt >50 %
VWS Typ 3
Große OP
FVIII/VWF-Konzentrat
40 IE/kg KG (+TK)
2-mal/Tag, 10–14(−21) Tage
VWF:Akt >80–50 %
ZNS-, gastrointestinale Blutung
FVIII/VWF-Konzentrat
40 IE/kg KG (+TK)
2-mal/Tag, 10–14(−21) Tage
VWF:Akt >80–50 %
Adenotomie, Tonsillektomie
FVIII/VWF-Konzentrat
40 IE/kg KG (+TK)
1-mal/Tag, 5–10 Tage
VWF:Akt >50–30 %
Zahnextraktion
FVIII/VWF-Konzentrat
30–40 IE/kg KG
1-mal/Tag, 3–5 Tage
VWF:Akt >30–50 %
Gelenk-, Muskelblutungen
FVIII/VWF-Konzentrat
30–40 IE/kg KG
2- bis 1-mal/Tag, 5–10 Tage
VWF:Akt >80–50 %
Dauertherapie
FVIII/VWF-Konzentrat
30–40 IE/kg KG
2-mal/Woche
VWF:Akt >5 %
Schleimhautblutung, OP
Tranexamsäure (zusätzlich)
10–20 mg/kg KG (auch p. o.)
Alle 6 h, max. 2 g/Tag
 
Antithrombinmangel
Angeboren
AT-Konzentrat
Differenz zu 120 %×IE/kg KG
Alle 3 Tage als Prophylaxe
AT nicht <60 %
Erworben
AT-Konzentrat
Defizit×IE/kg KG
Frequenz abhängig von Grundkrankheit
>80 %
Protein-C-Mangel, schwer
 
PC-Konzentrat
Defizit×IE/kg KG
4-mal/Tag
>70 %
 
FFPb
10–20 ml/kg KG
4-mal/Tag
 
Protein-S-Mangel, schwer
 
FFPb
10–20 ml/kg KG
2- bis 3-mal/Tag
 
Antifibrinolyse
 
Tranexamsäure
10–15 mg/kg KG i. v. oder 15–25 mg/kg p.o
Alle 8 h
 
Antikoagulation
Heparin, unfraktioniert
Prophylaxe
100–200 IE/kg KG
24-h-Dauerinfusion
 
Therapie (initialer Bolus)
75–100 IE/kg KG
  
Dauerinfusion
400–800 IE/kg KG/Tag
24-h-Dauerinfusion
Ziel-aPTT: 60–80 sec
Säuglinge
ca. 25 IE/kg KG/h
24-h-Dauerinfusion
Ziel-aPTT: 60–80 sec
>1 Jahr
ca. 20 IE/kg G/h
24-h-Dauerinfusion
Ziel-aPTT: 60–80 sec
Heparin, niedermolekular (Enoxaparin)
Prophylaxe ≤2. Lebensmonat
1 mg/kg KG, s.c.
1-mal/Tag
Anti-FXa-E.: 0,1–0,4
 
Prophylaxe >2. Lebensmonat
1,5 mg/kg KG, s.c.
1-mal/Tag
Anti-FXa-E.: 0,1–0,4
 
Therapie ≤2. Lebensmonat
1 mg/kg KG, s.c.
2-mal/Tag
4-h-Wert Anti-FXa-E.: 0,4–1,0
 
Therapie >2. Lebensmonat
1,5 mg/kg KG, s.c.
2-mal/Tag
4-h-Wert Anti-FXa-E.: 0,4–1,0
Heparin-Antidot
Protaminsulfat
1 mg/100 IE unfraktioniertes Heparin
1/3 der Dosis als Bolus, 2/3 p. i. (30 min)
 
Langfristige Antikoagulation
 
Phenprocoumon
6 mg/m2
Tag 1
 
 
Phenprocoumon
3 mg/m2
Tag 2
 
 
Phenprocoumon
1–2 mg/m2
Tag 3–180
INR: 2–3,5 (nach Indikation)
 
Warfarin
0,2 mg/kg
Tag 1
 
 
Warfarin
Dosisanpassung je nach INR-Wert
ab Tag 2
INR-Zielbereich: wie bei Phenprocoumon
Arterielle Thrombosen
Acetylsalicylsäure
ca. 2–3 mg/kg KG
1-mal/Tag (Wirkdauer 5–7 Tage)
 
Lysetherapie
 
rt-PA
0,1–0,2 mg/kg KG
Bolus i. v. (10 min)
 
 
rt-PA
0,8–2,4 mg/kg KG und Tag
Dauerinfusion bis zu 7 Tagen
 
p.o. per os; s.c. subcutan; p.i. per infusionem; (+TK) evtl. zusätzliche Gabe von Thrombozytenkonzentraten erforderlich; VWF-Akt VWF-Aktivität; aPTT aktivierte partielle Thromboplastinzeit
bBei wiederholter Applikation von gefrorenem Frischplasma (FFP) innerhalb kurzer Zeit ist auf das Problem der Volumenbelastung zu achten. Notfalls sind diuretische Maßnahmen indiziert
cDie Angaben gelten für leichtere Formen dieser beiden Subtypen. Darüber hinaus können die gleichen Maßnahmen wie beim VWS Typ 3 bei Bedarf zum Einsatz kommen
dZur Steuerung der Therapie sind Anti-FXa-Einheiten ca. 4 Stunden nach Gabe zu bestimmen. Bei niereninsuffizienten Patienten ist auch ein Talspiegel vor der nächsten Gabe zu messen, um Überdosierungen zu verhindern
eEine zusätzliche Low-dose-Heparinisierung zur Reokklusionsprophylaxe ist erforderlich
*Betrifft auch die Verwendung eines FVIII-Konzentrates mit verlängerter Halbwertszeit
**Bei Verwendung eines FIX-Konzentrates mit verlängerter Halbwertszeit kann je nach Präparat und der individuellen Pharmakokinetik das Intervall zwischen den Applikationen verlängert werden

Störungen der sekundären Hämostase

Zu den Koagulopathien gehören quantitative und qualitative Defekte der Faktoren der Gerinnungskaskade (Kap. „Physiologie der Gerinnung bei Kindern und Jugendlichen“). Die klinischen Konsequenzen sind, je nach betroffenem Faktor, sehr unterschiedlich. Eine schwere Blutungsneigung wird vor allem bei fehlendem FVIII (Hämophilie A) und FIX (Hämophilie B) beobachtet, jedoch auch bei den selteneren Defizienzen von Fibrinogen (FI), FII, FV, FVII, FX und FXI. Die seltenen Ursachen einer Blutungsneigung machen zusammen nur 3–5 % aller angeborenen Koagulopathien aus. Die Prävalenz liegt für die homozygoten oder compound-heterozygoten Formen bei 1–2:1 Mio., der schwere FVII-Mangel ist mit 1:500.000 häufiger. Das Fehlen von FXII korreliert trotz erheblicher Auswirkungen auf die aPTT nicht mit einer Blutungs- oder Thromboseneigung. Im Folgenden werden Hämophilie A und Hämophilie B in Bezug auf Pathophysiologie, klinische Symptome und Therapie ausführlicher dargestellt. Mit einer Prävalenz von 1:5000–30.000 männliche Neugeborenen ist die Hämophilie A mindestens 6- bis 7-mal häufiger als die Hämophilie B. Die übrigen Defekte sind der Vollständigkeit halber ebenfalls aufgeführt. Die diagnostisch wegweisenden Partialtests der Gerinnung sind Abb. 5 zu entnehmen.

Hämophilie A

Definition
Die Hämophilie A ist eine X-chromosomal-rezessiv vererbte Koagulopathie auf der Grundlage eines FVIII-Mangels, bedingt durch Defekte des F8-Gens. Betroffen sind Jungen in einer Häufigkeit von 1:5000.
In Deutschland geht man von ca. 6000 Blutern aus (Hämophilie A und B).
Historie
Die erste schriftliche Erwähnung von Blutern stammt aus dem Talmud des 5. Jahrhunderts n. Chr. und bezieht sich auf die Erlaubnis, die Beschneidung weiterer Söhne aus Familien, in denen bereits Knaben anlässlich einer Beschneidung verblutet sind, zu unterlassen. Auch der große arabische Arzt Khalaf Ibn Abbas, genannt Albucasis, erwähnt in seinen Abhandlungen aus dem 10. Jahrhundert ein Dorf mit einer auffälligen Anzahl von Männern, die nach trivialen Wunden verbluteten. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Hämophilie mit ihren typischen klinischen und hereditären Aspekten als hemorrhagic disposition stammt von dem Amerikaner Otto (1803). Der Begriff Hämophilie wurde von dem sprachlich korrekteren Ausdruck Hämorrhagophilie abgeleitet und stammt von dem deutschen Arzt Schoenlein (1839). Die klassische Hämophilie wurde einer breiteren Bevölkerungsschicht vor allem durch ihr Auftreten in den europäischen Fürstenhäusern bekannt. Als Stammmutter vieler hämophiler männlicher Nachkommen und weiblicher Konduktorinnen gilt Königin Victoria von England. Der bekannteste Hämophilie-Patient war der junge Zarewitsch Alexander. In Deutschland waren die beiden Söhne des Prinzen Heinrich von Preußen betroffen, die mütterlicherseits Cousins des Zarewitsches Alexander waren. Mittels verbesserter molekulargenetischer Methoden wurde die Diagnose Hämophilie B in dieser Adelsfamilie gestellt.
Erbgang
Aufgrund des X-chromosomal-rezessiven Erbganges sind meist nur Jungen von einer klinisch bedeutsamen Hämophilie A betroffen. Frauen mit einem F8-Gendefekt sind entsprechend einem Heterozygotenstatus primär als Konduktorinnen zu betrachten und selten klinisch symptomatisch, z. B. bei einer ungleichmäßigen Inaktivierung der X-Chromosomen oder bei Homozygotie bzw. Compound-Heterozygotie für einen F8-Gendefekt. Töchter eines hämophilen Vaters sind obligate Konduktorinnen, seine Söhne sind nie betroffen (Ausnahme, die Mutter ist Konduktorin). Andere Ursachen für einen klinisch bedeutsamen FVIII-Mangel bei Frauen und auch bei Männern können Defekte des VWF-Gens (Abschn. 1.5) und des LMAN1-Gens sowie des MCFD2-Gens (Abschn. 2.6) sein sowie ein erworbener Antikörper gegen FVIII.
Das F8-Gen ist ca. 186 kb groß und auf dem langen Arm von Chromosom X in der Region Xq 28 lokalisiert. Es besteht aus 26 Exons. Die Genstruktur und die abgeleitete Proteinsequenz sind homolog zum F5-Gen bzw. zum FV-Protein. Das größte Intron (Intron 22) enthält 2 weitere transkribierte Gene (F8A- und F8B-Gen) mit unbekannter Funktion. Das F8A-Gen findet sich in 2 weiteren Kopien ca. 500 kb telomerwärts gelegen. Es ist insofern von großer Bedeutung, als intrachromosomale Rekombination zwischen diesen homologen Sequenzen mit der Folge einer partiellen Geninversion für ca. 30–40 % der Fälle schwerer Hämophilie A verantwortlich ist. Mindestens 1/3 aller Hämophilie-A-Patienten hat keine positive Familienanamnese, es treten häufig Spontanmutationen auf.
Der FVIII ist ein großes Glykoprotein, das im Plasma durch nichtkovalente Bindung an den VWF stabilisiert wird. Er hat ein Molekulargewicht von ca. 265 kDa und besteht aus einer Reihe sich wiederholender funktioneller Domänen. Er wird durch thrombinvermittelte begrenzte Proteolyse zu FVIIIa aktiviert und dient dann als Kofaktor für die Aktivierung von FX durch IXa. Als Inhibitor fungiert der aktivierte Protein-C-Komplex mittels proteolytischer Inaktivierung des FVIIIa.
Klinische Symptome
Hämophilie-Patienten unterscheidet man nach Schweregraden in Abhängigkeit von gerinnungsspezifischen Laborparametern, die anders als bei anderen Faktorenmangelzuständen gut mit der klinischen Symptomatik korrelieren. Klinisch relevant sind die schwere Hämophilie (Restaktivität von FVIII bzw. FIX <1 %), die mittelschwere Hämophilie (Restaktivität >1 % bis <5 %) und die leichte Hämophilie (Restaktivität >5 % bis <25 %). Die sog. Subhämophilie (>25 % bis <unterer Normwert) kann durch Nachblutungen im Intervall bei blutungskritischen Operationen auffallen, in Abhängigkeit von der Faktorenempfindlichkeit kann die aPTT sogar noch normal sein. Eine normale aPTT schließt eine Subhämophilie nicht aus!
Die Manifestation einer schweren Hämophilie bereits bei der Geburt ist eher selten. Bei schwieriger Entwicklung des Kindes können jedoch ausgeprägte Druckstellenhämatome und Kephalhämatome Anlass für eine Gerinnungsuntersuchung sein. Sehr selten werden Weichteilblutungen und zerebrale Blutungen beobachtet. Iatrogene Blutungen durch Punktionen, Injektionen und chirurgische Eingriffe können bereits in der Säuglingszeit auffällig sein. Meist manifestiert sich die Hämophilie selbst im schweren Fall jedoch erst jenseits der ersten 6 Lebensmonate im Zuge verstärkter Aktivität und Selbstständigkeit des Kindes.
Eine kritische Zeit ist die des Laufenlernens. Auffallende Hämatome sind dann oft der Grund für die Diagnosestellung. Ab diesem Lebensalter beobachtet man auch die klassischen Blutungstypen der Hämophilie, z. B. schmerzhafte Muskel- und Gelenkblutungen, die unbehandelt zur Gelenkzerstörung führen. Obwohl in der Neonatalzeit ca. 20 % der Kinder bereits signifikante Blutungen erleiden, wird die Diagnose in diesem Alter nur bei 10 % der Hämophilie-Patienten gestellt. Neben der Gefahr der schweren Anämie können akute Begleitkomplikationen auftreten, z. B. Verlegung der Atemwege nach Zungenbisshämatom (Abb. 6), Kompartmentsyndrom und Kompression peripherer Nerven mit nachfolgender Parese. Die häufigste akut auftretende Todesursache ist jedoch die Hirnblutung. Eine schwere Blutungsanämie als Folge einer akuten Blutung wird meist wahrgenommen, da sich diese auch durch zusätzliche Symptome, wie einen Volumenmangelschock manifestiert. Trotzdem kann eine schwere Anämie bei versteckter Blutungslokalisation, z. B. bei abdomineller Blutung nach inadäquatem Trauma, zunächst übersehen werden.
Die klassischen Blutungstypen der schweren Hämophilie sind die Gelenkblutung (Abb. 7) und die Muskelblutung, die extrem schmerzhaft sein können und akut zu Schwellung, Bewegungseinschränkung und Schonhaltung führen. Unter den Muskelblutungen ist die M.-psoas-Blutung erwähnenswert, da die Symptome einer Hüftgelenkblutung bzw. einer Koxitis ähneln können, sie aber gelegentlich auch als Appendizitis fehldiagnostiziert werden kann. Abgesehen von der schweren akuten Beeinträchtigung der Patienten durch Muskel- und Gelenkblutungen sind es vor allem die chronischen Spätfolgen, wie Muskelkontraktur, neurologische Schäden und die hämophile Arthropathie (Abb. 8), die die Morbidität der Patienten ausmachen. Charakteristisch für die Hämophilie ist außerdem das Fehlen exzessiver Blutungen aus kleinsten Schnitt- und Schürfwunden, da die primäre Hämostase nicht beeinträchtigt ist.
Diagnose
Wegweisend ist die verlängerte aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) bei normaler Thromboplastinzeit (TPZ, Quick) und normaler Thrombinzeit (TZ). Die Diagnose wird durch den Nachweis einer erniedrigten oder fehlenden FVIII-Gerinnungsaktivität (FVIII:C) gesichert. Differenzialdiagnostisch sind bei isolierter aPTT-Verlängerung eine Hämophilie B, ein VWS und ein FXI-Mangel auszuschließen. Die auffälligsten aPTT-Verlängerungen werden bei einem FXII-Mangel und bei HMW(high molecular weight)-Kininogen- sowie Präkallikreinmangel beobachtet. Der schwere FXII-Mangel geht jedoch nicht mit einer Blutungsneigung einher. Eine molekulargenetische Diagnostik bei der Hämophilie ist heute möglich und sinnvoll, da sie Aussagen über Schweregrad und Verlauf der Krankheit erlaubt und die Ergebnisse Voraussetzung für eine genetische Beratung und pränatale Diagnostik sind.

Hämophilie B

Definition
Die Hämophilie B (Christmas disease) ist eine X-chromosomal-rezessiv vererbte Koagulopathie auf der Grundlage eines FIX-Mangels, bedingt durch Defekte des F9-Gens. Betroffen sind Jungen in einer Häufigkeit von 1:30.000.
Historie
Im Jahre 1952 beschrieben mehrere Arbeitsgruppen ein von der Hämophilie klinisch nicht unterscheidbares Krankheitsbild, das jedoch mit normalen FVIII-Werten einherging. Verantwortlich war das Fehlen eines bis dahin nicht beschriebenen Faktors, der heute als FIX bezeichnet wird. Im Folgenden wurde dann zwischen Hämophilie A für den FVIII-Mangel und Hämophilie B für den FIX-Mangel unterschieden. Die Bezeichnung Christmas disease ist auf den erstbeschriebenen Patienten mit Hämophilie B namens Christmas zurückzuführen.
Erbgang
Wie bei der Hämophilie A ist der Erbgang der Hämophilie B X-chromosomal-rezessiv. Die meist asymptomatischen Mütter der männlichen Patienten sind als Konduktorinnen zuverlässig nur über molekulargenetische Untersuchungen zu diagnostizieren. Ungleiche X-Inaktivierung sowie Homozygotie für F9-Gendefekte können aber auch bei Frauen zu einer klinisch relevanten Hämophilie B führen. Eine FIX-Defizienz kann im Rahmen einer allgemeinen Lebersynthesestörung oder bei Vitamin-K-Mangel auch erworben werden, dann allerdings ist er nicht isoliert vermindert.
Das F9-Gen ist auf dem langen Arm des X-Chromosoms (Xq26–27.3) lokalisiert, mit 32 kb deutlich kleiner als das F8-Gen und mit nur 7 Exons weniger komplex, was die molekulargenetische Diagnostik erleichtert. Die cDNA besteht aus einem 2,8 kb großen offenen Leseraster und kodiert für ein 461 Aminosäuren großes Vorläuferprotein von ca. 56.000 kDa. Wie viele andere Gerinnungsfaktoren mit enzymatischer Aktivität ist der aktivierte FIX eine Serinprotease. Voraussetzung ist eine proteolytische Spaltung mittels FXIa und/oder FVIIa. FIXa entfaltet seine Aktivität – zusammen mit FVIIIa als Kofaktor – bei der Aktivierung von FX. Inhibitor von FIXa ist Antithrombin.
Klinische Symptome
Das klinische Bild ist praktisch mit der Hämophilie A vergleichbar, wobei die Blutungsneigung erfahrungsgemäß nicht ganz so ausgeprägt ist.
Diagnose
Wie bei der Hämophilie A ist eine verlängerte aPTT bei normaler TPZ und TZ wegweisend für die Diagnostik (Abb. 5). Ein erniedrigter oder fehlender FIX bei normalem FVIII bestätigt die Diagnose einer Hämophilie B. Insbesondere zum Zwecke der genetischen Beratung ist auch hier eine molekulargenetische Diagnostik angezeigt.
Therapie von Hämophilie A und Hämophilie B
Grundsätzlich sollten Patienten mit Gerinnungsstörungen keine Präparate einnehmen, die Acetylsalicylsäure oder nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) enthalten. Eine Ausnahme stellt die blutungsbedingte Synovitis bei Hämophilie dar (S2k-Leitlinie der AWMF, Registernummer 086-005). Die Indikation für intramuskuläre Injektionen ist sehr streng zu stellen und erfordert neben der zeitnahen Faktorgabe auch eine gute lokale Kompression.
Lokalen Maßnahmen zugängliche Blutungen können durch Kompression, lokale Hämostyptika und Ruhigstellung erstversorgt werden.
Bei beginnenden Gelenkblutungen ist oftmals noch kein eindeutiger klinischer Befund zu erheben. Die Patienten sind jedoch meist sehr gut in der Lage, den Beginn einer Gelenkblutung zu erkennen. Dieses Gefühl einer beginnenden Spannung im Gelenk, auch hämophile Aura genannt, ist immer ernst zu nehmen. Bei kleinen Kindern beobachtet man häufig als ersten Hinweis eine Schonhaltung. Eine sofortige Substitution mit dem Faktorkonzentrat kann die Blutung stoppen und ein starkes Anschwellen des Gelenks verhindern.
Bei fortgeschrittener Gelenkblutung ist nach primärer Substitution meist eine Klinikeinweisung notwendig. Hier sollte nach anfänglicher Ruhigstellung, Hochlagerung, Kühlung und der Gabe eines NSAR, wie z. B. Naproxen, unter ausreichender Faktorsubstitution bereits frühzeitig eine krankengymnastische Mobilisierung mittels isometrischer Übungen beginnen.
Auch Muskelblutungen müssen rasch durch Substitution behandelt werden, um ein Kompartmentsyndrom zu verhindern und spätere Kontrakturen sowie neurologische Schäden zu vermeiden. Eine besondere Gefährdung in dieser Hinsicht ergibt sich bei Blutungen in den M. iliopsoas mit Schädigung des N. femoralis, in den M. gastrocnemius mit der Folge einer Spitzfußstellung und in die Unterarmmuskulatur mit Schädigung des N. ulnaris und des N. medianus.
Plötzliche, unerklärliche Kopfschmerzen, evtl. nach einer Schädelprellung, sollten immer an eine zerebrale Blutung denken lassen und zu einer entsprechenden bildgebenden Diagnostik (Schnittbildgebung wie MRT oder CT) Anlass geben. Vor einem Transport in eine Klinik muss eine Faktorsubstitution erfolgen.
Ähnlich wie beim VWS lassen sich Blutungen bei leichter oder Sub-Hämophilie A bei Fehlen von Kontraindikationen und nach vorheriger erfolgreicher Testung unter Umständen mit DDAVP ausreichend behandeln.
Bei der schweren und in der Regel auch bei der mittelschweren Hämophilie ist in vielen Fällen eine regelmäßig prophylaktische Substitution mit Gerinnungsfaktoren indiziert, was nach dem entsprechenden Erlernen der Injektionstechnik durch die Eltern und später durch die Patienten selbst im Rahmen einer Heimselbstbehandlung erfolgt. Insbesondere die chronisch-rezidivierenden Gelenkblutungen im Kindesalter können die Entwicklung des wachsenden Organismus schwer beeinträchtigen. Darüber hinaus möchte man diesen Kindern ein einigermaßen normales Leben ermöglichen, um auch psychische Traumatisierungen zu vermeiden und die psychosozialen Auswirkungen der chronischen Krankheit wie Sonderstatus und Isolation möglichst zu mildern.
Ziel der Prophylaxe mit einem Faktorenkonzentrat ist es, einen Gerinnungsfaktorspiegel über 2 % zu halten. Dies kann im Allgemeinen mit einer 3-mal wöchentlichen Gabe eines FVIII-Konzentrats bzw. mit einer 2-mal wöchentlichen Gabe eines FIX-Konzentrats erreicht werden. Durch die Entwicklung von gentechnisch hergestellten Faktorenkonzentraten mit einer verlängerten Halbwertzeit, konnte die Frequenz für Hämophilie-B-Patienten deutlich reduziert werden. Für die prophylaktische Behandlung der schweren Hämophilie A steht auch ein FVIII-mimetischer Antikörper (Emicizumab), welcher s.c. appliziert wird, zur Verfügung. Die erforderlichen Dosen für die Substitution sind differenziert nach Art und Schwere der Blutung in Tab. 7 aufgelistet.
Eine schwere Komplikation der Substitutionstherapie war früher die Transmission von Virusinfektionen wie Hepatitiden- oder HIV-Infektionen. Diesem Problem wird heute durch sorgfältige Spenderauswahl und Virusinaktivierungsverfahren oder der Nutzung rekombinanter Präparate Rechnung getragen. Daher sind auch die aus Humanplasma hergestellten Faktorenkonzentrate als sicher zu bezeichnen.
Inhibitoren im Sinne von Alloantikörpern gegen transfundierten FVIII oder sehr selten gegen FIX sowie anaphylaktische Reaktionen, insbesondere bei der Hämophilie B, können als Folge der Substitution mit einem vom Immunsystem als „fremd“ erkannten Protein auftreten. Charakteristischerweise treten Inhibitoren vorwiegend bei Patienten mit schwerer Hämophilie A auf, in der Regel bis zum 30. Expositionstag, nach dem 50. Expositionstag nur noch selten. Begünstigend für die Entwicklung eines Inhibitors sind bestimmte Mutationen, die Behandlung nur bei Bedarf (z. B. bei Blutungen oder invasiven Eingriffen) und Infektionen. Im Gegensatz dazu soll eine frühe Prophylaxe mit Beginn im späten Säuglingsalter vor dem Auftreten von schweren Blutungen zu einer Immuntoleranz führen mit einer deutlich reduzierten Inibitorinzidenz. Ob die Art des Präparates, plasmatisch oder rekombinant, einen Einfluss auf die Inhibitorentwicklung hat, wird unverändert kontrovers diskutiert. Neben schweren Gelenk- und Muskelblutungen steigt beim Vorliegen insbesondere hochtitriger Inhibitoren auch das Risiko für lebensbedrohliche Hirnblutungen deutlich an. Ein hochtitriger Inhibitor ist als schwere Komplikation der Substitutionstherapie anzusehen und erfordert eine entsprechende Inhibitoreliminationstherapie. Letztere besteht aus der hochdosierten Gabe von FVIII-Konzentrat (2-mal 100 IE/kg KG und Tag) über einen Zeitraum von bis zu mehreren Jahren. Bei Versagen dieser Therapie oder einer deutlichen Blutungsneigung unter dieser Behandlung lassen sich, bei Vorliegen eines FVIII-Inhibitors, der FVIII-mimetische Antikörper Emicizumab oder aktivierte Faktoren des Prothrombinkomplexes oder rekombinanter aktivierter FVII einsetzen. Die Therapie eines Patienten mit Vorliegen eines Inhibitors ist mit sehr hohen Kosten verbunden.
Im Gegensatz zum FVIII-Inhibitor sind beim Vorliegen eines FIX-Inhibitors die Chancen der Elimination durch eine hochdosierte Faktorgabe sehr gering. Dies kann nur in Kombination mit einer immunmodulatorischen Behandlung (Kortikoid, Immunglobulin G und Immunsuppressivum) gelingen.
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden müssen von einander Hämophilie A, Hämophilie B und Von-Willebrand-Syndrom.
Gemeinsames Kennzeichen der Hämophilien A und B istdie verlängerte aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT). FVIII und FIX gehen in die aPTT-Messung ein (Abb. 5). Die Vergleichbarkeit der klinischen Symptomatik erklärt sich auch durch die Co-Faktorfunktion von FVIII für die Serinprotease FIX bei der Aktivierung von FX. Mit dem korrekten Nachweis eines isolierten FIX-Mangels ist die Diagnose Hämophilie B gesichert. Ein nachgewiesener FVIII-Mangel hingegen erfordert eine weiterführende Diagnostik zum Ausschluss eines VWS. Dabei schließen auch sehr niedrige FVIII:C-Werte ein VWS nicht aus. Zur Unterscheidung zwischen Hämophilie A und VWS ist zumindest die Bestimmung des VWF als VWF:Aktivität (VWF:AC; VWF:RCo) und als VWF:Antigen (VWF:Ag) notwendig. Eine Ergänzung der Labordiagnostik durch Bestimmung der FVIII-Bindungsfähigkeit des VWF ist in allen Fällen eines Verdachts auf Hämophilie A bei unklarem oder widersprüchlichem Erbgang und „weiblicher Hämophilie A“ indiziert (Abschn. 2.1).

Fibrinogen(FI)-Mangel

Wie alle im Folgenden beschriebenen Koagulopathien ist der Fibrinogen(FI)-Mangel (Afibrinogenämie, Hypofibrinogenämie, Dysfibrinogenämie) eine seltene Krankheit. Sie wird in der schweren Form autosomal-rezessiv, bei den leichteren Formen -dominant vererbt. Blutungen nach Abfallen der Nabelschnur können das erste klinische Zeichen der Afibrinogenämie sein. Es finden sich dann meist profuse Blutungen nach inadäquatem Trauma und Wundheilungsstörungen. Auch intrakranielle Blutungen kommen vor, während Gelenkblutungen, anders als bei den Hämophilien, selten sind.
Die Hypofibrinogenämie ist definiert als FI-Mangel mit Werten zwischen 0.2–1.0g/l. Klinische Manifestationen sind dabei eher selten.
Die Gene für die 3 Untereinheiten des Fibrinogenmoleküls finden sich eng benachbart innerhalb einer Region von ca. 50 kb auf Chromosom 4q23–32. Je 2 der α-, β- und γ-Ketten bilden das Protein.
Hämostaseologisch finden sich bei FI-Mangel eine verlängerte aPTT, eine verlängerte Prothrombin- und eine verlängerte Thrombinzeit. Die funktionelle Aktivität, gemessen als Fibrinogen nach Clauss, und die immunologisch bestimmte Konzentration sind vermindert.
Therapeutisch kommen FI-Konzentrat und gefrorenes Frischplasma in Betracht. Die Substitution bei einer Blutung erfolgt im Regelfall nur alle 2 Tage, da die Halbwertszeit des FI mit 3 Tagen recht lang ist. Die erforderliche Dosis findet sich in Tab. 7.
Die Dysfibrinogenämie als qualitativer Defekt kann zusätzlich mit einer Defizienz kombiniert sein. Blutungen sind eher selten. Bestimmte Dysfibrinogenämien können auch mit einer Thromboseneigung einhergehen, andere sind klinisch stumm. Hier kann oft nur über eine Familienuntersuchung bzw. -anamnese geklärt werden, welche Form vorliegt.

FII-Mangel

Die Aprothrombinämie oder Hypoprothrombinämie wird in der Regel autosomal-rezessiv vererbt, wie ihr Auftreten in konsanguinen Familien vermuten lässt. Es sind auch verschiedene qualitative Defekte im Sinne einer Dysprothrombinämie beschrieben worden. Es ist daher sinnvoll, bei einem FII-Mangel auch den immunologischen Nachweis von FII:Ag zu führen.
Beschrieben werden Blutungen nach Abfallen der Nabelschnur, nach inadäquatem Trauma, sowie die Entwicklung von Hämatomen und Schleimhautblutungen, aber auch schwere Muskelblutungen, z. B. nach i. m.-Impfung.
Hämostaseologisch finden sich eine verlängerte aPTT und ein erniedrigter Quick-Wert bei normaler Thrombinzeit und normalen Werten für alle Einzelfaktoren außer FII.
Die therapeutische Substitution kann durch Prothrombinkomplexkonzentrat erfolgen, aber auch durch gefrorenes Frischplasma, da es wegen der langen Prothrombinhalbwertszeit (60 h) nicht zur Volumenüberladung kommen muss. Plasmaspiegel von 20–30 % genügen im Allgemeinen für eine effektive Hämostase (erforderliche Dosierungen, Tab. 7).

FV-Mangel

Die schwere Form dieser seltenen Gerinnungsstörung, auch Parahämophilie genannt, wird autosomal-rezessiv vererbt (F5-Gen). Klinisch manifestiert sich der FV-Mangel durch Blutungen beim Abfall der Nabelschnur, Haut- und Schleimhautblutungen, Hämaturie, abdominelle Blutungen und Menorrhagien. Gelenkblutungen oder Hirnblutungen sind hingegen selten. Die Diagnose wird durch Einzelfaktorenanalyse nach pathologisch ausgefallener aPTT und erniedrigtem Quick-Wert bei normaler Thrombinzeit gestellt. Zur Therapie kommt im Wesentlichen nur gefrorenes Frischplasma infrage (erforderliche Dosisierung, Tab. 7), zudem kann auch Thrombozytenkonzentrat wegen des Gehalts von FV in den Plättchen die Hämostase dieser Patienten verbessern.

Kombinierter FV- und FVIII-Mangel

Diese Gerinnungsstörung ist eine eigene Entität. In der Literatur sind 58 Familien beschrieben worden. FV- und FVIII-Werte liegen im Bereich von 5–30 %. Der Erbgang ist autosomal-rezessiv. Der Defizienz beider Faktoren liegt ein gestörter posttranslationaler Prozess zugrunde, der beide Faktoren wegen ihrer Homologie betrifft. Mittels klassischer Kopplungsanalyse und Positionsklonierung konnte ein bereits früher isoliertes, auf Chromosom 18q21.3–q22 gelegenes Gen, LMAN1-Gen, als Kandidatengen identifiziert werden. Homozygote inaktivierende Mutationen in diesem Gen ließen sich bei den untersuchten Familien nachweisen und bewiesen damit die Kausalität von LMAN1-Gendefekten für den kombinierten FV/FVIII-Mangel. Das Genprodukt, dessen Funktion bisher unbekannt war, wird als intrazellulärer Proteintransporter (Chaperon) angesehen, der an der Sekretion beider Gerinnungsfaktoren beteiligt ist. An diesem Prozess ist ein weiteres Protein beteiligt, welches durch das MCFD2-Gen auf Chromosom 2p21–p16.3 kodiert wird. Defekte dieses Gens führen zum gleichen Krankheitsbild.
In Abhängigkeit vom FV- und FVIII-Spiegel sind die klinischen Symptome mehr oder weniger schwerwiegend. Therapeutisch kommen für die FV-Substitution nur gefrorenes Frischplasma, für die FVIII-Substitution FVIII-Konzentrate in Betracht, bei leichteren Formen ist ein Therapieversuch mit DDAVP indiziert (erforderliche Dosierungen, Tab. 7).

FVII-Mangel

Der schwere FVII-Mangel ist mit einer Prävalenz von 1:500.000 selten und folgt einem autosomal-rezessiven Erbgang. Die klinischen Symptome ähneln der Hämophilie. Gelenkblutungen können wie bei der Hämophilie zu schweren Arthropathien führen. Neugeborene sind geburtstraumatisch bedingt durch ZNS-Blutungen gefährdet.
Die Diagnose wird bei Nachweis eines isoliert erniedrigten Quick-Werts bei normaler aPTT und normaler Thrombinzeit vermutet und schließlich durch Einzelfaktorenanalyse bestätigt. Die FVII-Empfindlichkeit der eingesetzten Thromboplastine kann sehr variabel sein und entsprechend unterschiedlich niedrige Quick-Werte resultieren. Die Höhe der FVII-Restaktivität korreliert schlecht mit der Blutungsneigung. Auch Patienten mit einem FVII zwischen 5 und 10 % können asymptomatisch sein und erst bei Operationen oder Beginn der Menstruationsblutungen auffallen. Heterozygote Personen haben normalerweise keine Blutungssymptome. Eine leichte, klinisch meist nicht relevante FVII-Verminderung (30–50 %) ist recht häufig, und dann für eine isolierte Erniedrigung des Quick-Werts verantwortlich. In vielen Fällen liegt dies unter anderem am Vorhandensein eines biallelen Polymorphismus, dessen selteneres Allel mit einem niedrigen FVII-Wert korreliert. Meist liegt eine Compound-Heterozygotie für dieses Allel und eine weitere kausale F7-Mutation vor. In der präoperativen Situation führt ein zu niedriger Quickwert fast immer zum Wunsch nach weiterer Abklärung und damit zur Verzögerung einer elektiven Operation.
Therapeutisch kommt plasmatisches oder gentechnisch hergestelltes FVII-Konzentrat zum Einsatz. Im Notfall ist auch die Gabe von Prothrombinkomplexkonzentrat möglich. Wegen der geringen Halbwertszeit von nur 2–3 Stunden sind häufige Substitutionen notwendig. Dabei ist eine Anhebung des FVII auf >30 % (gegebenenfalls 50 %) meist ausreichend (erforderliche Dosierungen, Tab. 7).

FX-Mangel

Der schwere FX-Mangel ist eine sehr seltene, autosomal-rezessiv vererbte Gerinnungsstörung, die klinisch durch Haut- und Schleimhautblutungen, Epistaxis, Menorrhagien, Hämaturie, gelegentlich Gelenkblutungen sowie Blutungen nach inadäquatem Trauma gekennzeichnet ist. Frauen mit schwerem FX-Mangel neigen zu Fehlgeburten, vorzeitiger Plazentalösung und Frühgeburten. Man kann zwischen rein quantitativen Defekten und dysfunktionellem FX unterscheiden. Zu beobachten sind eine verlängerte aPTT und ein erniedrigter Quick-Wert bei normaler Thrombinzeit. Durch Einzelfaktorenanalyse wird die Diagnose gesichert; durch Bestimmung des FX-Antigens wird zwischen dysfunktionellem und quantitativem Defekt differenziert.
Da der FX mit 40 Stunden eine lange Halbwertszeit besitzt, ist die Gabe von gefrorenem Frischplasma in Fällen kleinerer Blutungen ausreichend. Darüber hinaus kann Prothrombinkomplex-Konzentrat gegeben werden. Dabei müssen jedoch der sehr unterschiedliche Gehalt an FX in den verschiedenen Präparaten und die Möglichkeit von Thrombosen berücksichtigt werden. Insofern ist ein verfügbares FIX-Konzentrat, welches auch FX enthält, zu bevorzugen (erforderliche Dosierungen, Tab. 7).

FXI-Mangel

Der schwere FXI-Mangel, auch Hämophilie C genannt, ist sehr selten, erreicht jedoch in einzelnen Populationen höhere Prävalenzen, wie im Baskenland und bei Ashkenazi-Juden wurde eine Häufigkeit von 1–3:1.000 ermittelt. Der Erbgang ist nicht streng autosomal-rezessiv, da auch bei Heterozygotie durchaus Blutungen beobachtet werden. Die klinische Symptomatik ist variabel. Schwere Blutungen sind selten und treten praktisch nur im Rahmen von Verletzungen und Operationen auf. Nasenbluten, Weichteil- und Nachblutungen nach Zahnextraktion sowie Menorrhagien werden gelegentlich beobachtet. Gelenkblutungen treten praktisch nie auf.
Wegweisend ist beim schweren FXI-Mangel die stark verlängerte aPTT bei normalem Quick-Wert und normaler Thrombinzeit. Die Diagnose wird durch Einzelfaktorenanalyse gesichert. Ähnlich deutliche Verlängerungen der aPTT werden beim schweren FXII-Mangel beobachtet.
Therapeutisch ist wegen der langen Halbwertszeit des FXI von 48 Stunden die Gabe von gefrorenem Frischplasma in der Regel ausreichend. Insbesondere bei Blutungen oder Eingriffen im HNO-Bereich empfiehlt sich die zusätzliche Gabe von Fibrinolysehemmern, wie Tranexamsäure. Ein FXI-Plasmakonzentrat ist in Deutschland derzeit nicht zugelasse.

FXII-Mangel

Der Faktor XII, auch Hageman-Faktor genannt, nach dem ersten Patienten, bei dem dieser Mangel auffiel. Der FXII-Mangel, wird praktisch nur bei Routinegerinnungsuntersuchungen, z. B. präoperativ, durch die korrespondierende, z. T. erheblich verlängerte aPTT entdeckt. Insbesondere bei Kindern wird die leichte FXII-Verminderung als passageres, infektassoziiertes Phänomen häufiger beobachtet durch eine Interferenz der Messung mit komplexierenden Antiphospholipid-Antikörpern. Der heterozygote FXII-Mangel ist klinisch inapparent. Der schwere FXII-Mangel, beruhend auf homozygoten oder compound-heterozygoten Gendefekten, fällt klinisch ebenfalls nicht durch eine Blutungsneigung auf. Der Widerspruch zwischen der beim FXII-Mangel exzessiv verlängerten In-vitro-Gerinnungszeit (aPTT) und der fehlenden Blutungsneigung ergibt sich aus der Tatsache, dass die Initiierung der Blutgerinnung primär über den exogenen Weg der Gerinnung durch den Tissue-Factor/FVII-Komplex erfolgt. Erst sekundär mit der Aktivierung von FXI durch das initial gebildete Thrombin erfüllt der endogene Weg seine Funktion.

FXIII-Mangel

Der FXIII-Mangel ist nur bei FXIII-Werten <10  % von klinisch größerer Relevanz. Bei Werten <30  % können Wundheilungsstörungen beobachtet werden. Bei Neugeborenen fällt der sehr seltene schwere FXIII-Mangel (<1  %-Restaktivität) klassisch durch die prolongierte Nabelblutung, später durch Hämatome, verlängerte Blutungen nach Verletzungen und nicht selten durch Hirnblutungen oder subdurale Hämatome auf. Wegweisend sind 2–3 Tage verspätet auftretende Nachblutungen nach Operationen durch das instabile Fibringerinsel. Die Patienten neigen außerdem zu schlecht heilenden Wunden mit ausgeprägter Narbenbildung.
Einen erworbenen FXIII-Mangel, der 30 % jedoch meist nicht unterschreitet, findet man bei der Schoenlein-Henoch-Purpura, bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und bei großen Wunden und Verbrennungen, wo FXIII als sog. Spurenelement rasch abfällt.
Bei Patienten mit angeborenem Mangel ist der FXIII im Plasma und in den Thrombozyten reduziert. Heterozygote Patienten mit FXIII-Werten um 40–50  % sind meist asymptomatisch.
Im Plasma besteht FXIII aus 2α-Ketten, die die enzymatische Aktivität einer durch Thrombin und Ca2+ zu aktivierenden Transglutaminase tragen, und 2 β-Ketten, die als Trägerprotein fungieren. Defekte in α- oder β-Ketten, die von unterschiedlichen Genen kodiert werden, können für den FXIII-Mangel verantwortlich sein. In Thrombozyten finden sich nur die α-Ketten. Die Funktion des FXIII besteht in der Quervernetzung von Fibrinmolekülen über Amidbindungen zwischen der Lysin-ɛ-Aminogruppe und der γ-Carbonylgruppe des Glutamins. Hierdurch wird Fibrin stabilisiert und vor vorzeitiger Lyse durch Plasmin geschützt.
Diagnose und Therapie
Mit den üblichen Partialtests (aPTT, Quick, Thrombinzeit) lässt sich ein FXIII-Mangel nicht erfassen, da die Wirkung des FXIII erst nach der Fibrinbildung einsetzt, wohl aber zumindest bei der schweren Form mittels Thrombelastografie. Die Bestimmung erfordert z. B. die Messung der Transglutaminaseaktivität des FXIII an einem geeigneten synthetischen Substrat über die Freisetzung von Ammoniak oder immunologische Methoden. Für die Differenzierung des FXIII-Mangels können weiterführende, immunologische Methoden zur Quantifizierung der betroffenen α- oder β-Untereinheiten herangezogen werden.
Therapeutisch ist die Substitution von FXIII-Konzentrat das Mittel der Wahl, gegebenenfalls auch die Gabe von gefrorenem Frischplasma. Zur Behandlung von Blutungen sollten FXIII-Werte >30 % angestrebt werden. Der minimale notwendige Wirkspiegel ist jedoch mit 5–10 % sehr niedrig und die Halbwertszeit des FXIII mit 5–7 Tagen sehr lang. Es genügen daher meist Substitutionsabstände von mehreren Tagen bis Wochen (erforderliche Dosierungen, Tab. 7).
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