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Pädiatrie
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Publiziert am: 11.02.2019

Kinder- und jugendpsychiatrische und -psychologische Untersuchung

Verfasst von: Franz Resch
Die kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik versucht, für die Palette psychischer Leidenszustände und Verfassungen sowie die vielfältigen Störungen von Verhalten und Kommunikation im Kindes- und Jugendalter verbindliche Begriffe festzulegen, die eine Verständigung zwischen den Helfersystemen erlauben und zur Grundlage therapeutischer Entscheidungen gemacht werden können. Handlungsleitend ist jedoch nicht nur die Feststellung einer psychischen Störung, die im Klassifikationssystem aufgelistet ist. Wichtig für den Therapeuten sind auch die sozialen Rahmenbedingungen, das persönliche und emotionale Umfeld in Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft, die Leistungsfähigkeit in Schul- und Arbeitssituationen und die Frage der Ausgestaltung von Freundschaften. Auch die körperliche Verfassung darf aus der diagnostischen Entscheidung nicht ausgeklammert werden. Die Diagnose in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist immer eine biopsychosoziale Diagnose.

Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik

Die kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik versucht, für die Palette psychischer Leidenszustände und Verfassungen sowie die vielfältigen Störungen von Verhalten und Kommunikation im Kindes- und Jugendalter verbindliche Begriffe festzulegen, die eine Verständigung zwischen den Helfersystemen erlauben und zur Grundlage therapeutischer Entscheidungen gemacht werden können. Handlungsleitend ist jedoch nicht nur die Feststellung einer psychischen Störung, die im Klassifikationssystem aufgelistet ist. Wichtig für den Therapeuten sind auch die sozialen Rahmenbedingungen, das persönliche und emotionale Umfeld in Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft, die Leistungsfähigkeit in Schul- und Arbeitssituationen und die Frage der Ausgestaltung von Freundschaften. Auch die körperliche Verfassung darf aus der diagnostischen Entscheidung nicht ausgeklammert werden. Die Diagnose in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist immer eine biopsychosoziale Diagnose.

Diagnostischer Prozess

Der diagnostische Prozess beginnt mit der Definition einer psychischen Störung: Eine psychische Störung im Kindes- und Jugendalter ist eine psychopathologisch definierbare, aus Symptomen aufgebaute unwillkürliche Beeinträchtigung wichtiger Lebensfunktionen. Jede psychische Störung weist eine zeitliche Dimension auf, die durch Beginn, Verlauf und ggf. auch ein Ende gekennzeichnet ist. Sie hindert das Kind oder den Jugendlichen entscheidend daran, an den alterstypischen Lebensvollzügen aktiv teilzunehmen und die notwendigen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Körperliche, seelische und soziale Risikofaktoren können am Aufbau und der Entwicklung psychischer Störungen beteiligt sein. Vor einer prinzipiellen Ausweitung des Krankheitsbegriffs auf Kinder, die unter Risikobedingungen leben – beispielsweise Kinder mit massiven sozialen Schwierigkeiten und Lebensproblemen – muss ausdrücklich gewarnt werden. Es droht dabei die Gefahr einer Pathologisierung von gesunden Bewältigungs- und Verarbeitungsprozessen, die versuchen, die abnormen Umwelt- und Lebensbedingungen zu kompensieren. Immer sollte der diagnostische Blick nicht nur isoliert das Kind betreffen, sondern auch die Familie und das weitere Lebensumfeld in den Fokus nehmen.
Die Voraussetzung für das Erkennen einer psychischen Störung bildet das Wissen der Psychopathologie. Psychopathologische Symptome sind aber nicht nur Krankheitszeichen, sie werden erst im Kontext von Anpassung und Entwicklung verständlich. Der diagnostische Prozess oszilliert also zwischen den Polen von Verständnis und Einfühlung einerseits sowie Objektivieren und Ordnen andererseits.
Im Rahmen des Ordnungssystems können Einzelsymptome bei regelhaft gemeinsamem Auftreten zu Symptomgruppen und Syndromen zusammengefasst werden. Jene Syndrome, die in Entstehung, Aufbau, Verlauf und psychosozialen Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit erkennen lassen, werden schließlich zu psychischen Störungen gruppiert. Darüber hinaus lassen psychische Krankheiten noch typische Muster der Verursachung erkennen, weisen einen individuellen Leidensdruck auf und zeigen eine deutliche Beeinträchtigung der kindlichen Alltagsbewältigung.
Grundlage und Ausgangspunkt für den diagnostischen Prozess ist das ärztlich-therapeutische Gespräch, das einerseits Beschwerden und anamnestische Details zu Tage fördert und andererseits den Patienten in der Gesprächssituation klinisch beurteilen lässt: Die Psychopathologie konzentriert sich nicht nur auf die beobachtbare Außenseite des Verhaltens, sondern auch auf die nur indirekt erfahrbare Innenseite des Empfindens und Betroffenseins. Diese Innenseite kann durch verbale Äußerungen der Patienten benannt oder durch eine teilnehmende Einfühlung des Untersuchers erschlossen werden. Im explorativen Gespräch können somit psychopathologische sowie darüber hinausgehende kognitiv-emotionale Befunde erhoben werden, Risikoverhaltensweisen können diagnostiziert, Familieninteraktionsmuster festgestellt und die Beziehung zu Gleichaltrigen und Freunden erhellt werden. Ebenso sind die Leistungssituation in der Schule, der Kontakt zu Lehrern sowie das Spektrum der Interessen und Freizeitaktivitäten diagnostisch wertvoll. Auch die Ergebnisse einer körperbezogenen Anamnese und der körperlichen Untersuchungen müssen in den diagnostischen Prozess einfließen. Gegebenenfalls ist nach diesen ersten Einschätzungen eine vertiefende standardisierte und/oder apparative Diagnostik zur Erhärtung diagnostischer Hypothesen angezeigt. Schließlich gipfelt der diagnostische Prozess in einer multiaxialen Diagnose, wobei mögliche differenzialdiagnostische Überlegungen anzustellen sind (Abb. 1).

Klassifikationssysteme

Im Rahmen der psychiatrischen Klassifikation werden psychopathologische Symptome zu unterschiedlichen Störungskategorien und nosologischen Konstrukten zusammengefasst. Ein ideales Klassifikationssystem muss gut anwendbar sein und eine logische Konsistenz aufweisen. Im klinischen Alltag haben sich 2 Klassifikationssysteme in der Psychiatrie etabliert:
Im Bereich der deutschsprachigen klinischen Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der entsprechenden Krankenhausdokumentationen hat sich die ICD-10-Klassifikation durchgesetzt (Tab. 1).
Tab. 1
ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters, für die auch Leitlinien der Diagnostik und Therapie entwickelt wurden
Kennziffer
Störung
F07
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
F1
Psychische und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen
F2
F30/F31
F32/F33
F34
F42
F43
F44
F45
F50
F51
Nichtorganische Schlafstörungen
F60/F61
F63
F64/F66
Störungen der Geschlechtsidentität sowie der sexuellen Entwicklung und Orientierung
F7
Intelligenzminderung und grenzwertige Intelligenz
F80.1/F80.2
F81
F84
F90
Hyperkinetische Störungen
F91/F92
F40/F93.1/F93.2
F41/F93.0
F94.0
Elektiver Mutismus
F94.1/F94.2
F95
F98.0
F98.1
F98.2
Regulationsstörungen im Säuglingsalter
F68.1/F98.4
Selbstverletzendes Verhalten
F80.0/F98.5/F98.6
F93.3
Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität
X60–X80
Suizidalität im Kindes- und Jugendalter
Achse V MAS
Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch
Um zu entscheiden, ob jemand eine bestimmte psychische Störung aufweist oder nicht, bedarf es der kategorialen Diagnostik, die klare Festlegungen der Zuordnung trifft. Darüber hinaus gibt es auch eine dimensionale Diagnostik, welche Übergänge und Grauzonen zwischen Normalität und psychischen Störungen einerseits, zwischen unterschiedlichen Störungen andererseits fassbar macht und zur Schweregradmessung einer bestimmen psychischen Störung geeignet ist. So kann auf dimensionale Weise zwischen einer leichtgradigen Depression und einer schweren, vital beeinträchtigenden Major Depression unterschieden werden.

Exploration und Anamnese

In der diagnostischen Situation möchte der Untersucher sowohl über Erlebnisweisen und Verhalten des Kindes als auch über seine Erlebniswelten Informationen gewinnen. Schon im ersten Explorationsgespräch kommen Beziehungs- und Beurteilungsaspekte in dynamischer Wechselwirkung zum Tragen. Das besondere Anliegen des Untersuchers ist die Herstellung eines Rapports. Da das Kind in der Regel in Begleitung seiner Bezugspersonen zur Erstvorstellung kommt, sollten im Familienkontext zuerst die diagnostischen und therapeutischen Wunschvorstellungen geklärt werden, die an den Untersucher herangetragen werden. Nach einer solchen ersten Einschätzung im familiären Kontext erfolgt das explorative Gespräch mit dem Kind allein, indem es sich besonders empfiehlt, auf den persönlichen Leidensdruck und etwaige Mitteilungswünsche des Kindes einzugehen – auch wenn das Kind von den Eltern einer ganz anderen Problematik wegen zur Untersuchung gebracht wurde. Schließlich kann das Explorationsgespräch in alleiniger Sitzung mit den Eltern fortgesetzt werden, um schließlich zum Ende des Gesprächs allen Beteiligten die bisherige Einschätzung und die weiteren Vorgehensweisen zu erklären. Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist für die Untersuchung und Behandlung eines Kindes oder Jugendlichen eine unbedingt notwendige Voraussetzung. Koalitionen mit dem Kind gegen die Eltern oder mit den Eltern gegen das Kind sollten immer zugunsten der Herstellung eines Vertrauensverhältnisses gegenüber allen Beteiligten vermieden werden. Basale Kriterien zur Erhebung der anamnestischen Inhalte zeigt die folgende Übersicht.
Basale Anamnesekriterien
  • Vorstellungsmodus: Datum, Uhrzeit, Zuweisungsgrund, Zuweisungsmodus. Wer begleitet das Kind? Welche diagnostischen/therapeutischen Wünsche werden vorgebracht? Welche Befürchtungen werden geäußert? Welches Hilfeangebot wird erwartet? Wer will was von wem?
  • Problemschilderung und situativer Kontext: Ausführliche freie Schilderung der aktuellen Probleme. Leidensdruck. Wer ist beteiligt? Bestehen emotionale Symptome und Verhaltensauffälligkeiten? Welche Beziehung findet sich zwischen den Problemen und Symptomen? Auswirkungen der Probleme auf Familie und Entwicklungskontext. Welche Befürchtungen, Sorgen und Nöte werden berichtet? Welche Hoffnungen bestehen? Welche Maßnahmen zur Problemlösung wurden bisher unternommen? Welche diagnostischen/therapeutischen Bemühungen sind bisher erfolgt?
  • Familienanamnese: Beschreibung der familiären Rahmenbedingungen, Wohnsituation, sozioökonomischer Status, Alltagsgestaltung, familiäre Freizeitgestaltung, Alter, Persönlichkeit und Entwicklungslinien der Eltern und Geschwister, Geschwisterkonstellation, partnerschaftliche Entwicklungen, berufliches Engagement der Eltern, Kontakte zu und Einflüsse durch Großeltern, Beziehung der Eltern zu ihrer Aszendenz, körperlicher und psychischer Gesundheitszustand der Eltern, psychische Auffälligkeiten und Krankheiten in der weiteren Familie.
Die erste klinische Untersuchung mit Exploration und Anamnese endet schließlich im Beisein aller in einer ersten Synopsis, die eine diagnostische Hypothese ermöglicht. In dieser Synopsis können weitere vertiefende, standardisierte und apparative diagnostische Untersuchungsschritte beschlossen werden.

Erhebung des psychischen Befundes

Unter Bezugnahme auf das psychopathologische Befundsystem für Kinder und Jugendliche (CASCAP-D) können 13 Merkmalsgruppen zur Erhebung beschrieben werden:
Störungen der Interaktion
Ist das Kind überangepasst, scheu/unsicher, sozial zurückgezogen, verweigert es das Sprechen (Mutismus), kaspert es gerne herum, zeigt es demonstratives Verhalten, ist es distanzgemindert und enthemmt, lässt es verminderte Empathie im altersbezogenen Vergleich erkennen, lässt es einen Mangel an sozialer Gegenseitigkeit erkennen (tief greifende Störung der Kommunikation und Interaktion)?
Oppositionell-dissoziales Verhalten
Zeigt sich das Kind dominant, die Untersuchungssituation bestimmend, kann es Gebote und Regeln nur schwer einhalten, ist es verbal aggressiv, schimpft, bedroht, schlägt oder verletzt andere, lügt und betrügt, stiehlt und läuft weg, schwänzt die Schule, zerstört das Eigentum anderer oder legt Feuer?
Entwicklungsstörungen
Zeigt sich das Kind in der Altersanpassung intelligenzgemindert, hat es Artikulationsstörungen oder andere expressive Sprachstörungen mit eingeschränktem Vokabular, grammatischen Fehlern und verballhornten Satzstrukturen?
Zeigt es rezeptive Sprachstörungen, sodass das Sprachverständnis hinsichtlich Wortschatz und grammatischer Struktur nicht altersgerecht entwickelt ist? Stottert es, poltert es, zeigt es Entwicklungsstörungen der Statomotorik?
Zeigt das Kind Störungen in Rollenspielen und Spielen am Spiegel, zeigt es Beeinträchtigungen schulischer Fertigkeiten wie Teilleistungsschwächen, Lese-Rechtschreib-Störung oder Rechenschwäche?
Aktivität und Aufmerksamkeit
Hat das Kind eine gesteigerte oder verringerte körperliche Aktivität und Impulsivität, wie richtet es seine Aufmerksamkeit sowohl auf die anamnestischen Schilderungen als auch auf die Untersuchungssituation selbst?
Psychomotorik
Zeigt das Kind motorische Tics, vokale Tics, zeigt es Stereotypien in Mimik, Gestik und Körperhaltung wie Schaukeln oder Haareziehen, zeigt es Manierismen in Mimik, Gestik, Sprache und Körperhaltung oder abnorme Gewohnheiten wie Nägelbeißen und Nagelbettbeißen?
Angst
Hat das Kind Trennungsängste, umschriebene Phobien (wie Tierphobie, Höhenphobie oder Angst vor Injektionen), zeigt es Leistungsängste, soziale Furcht vor prüfender Beachtung durch andere Menschen, Angst vor Beschämung in sozialen Situationen, leidet es an Agoraphobie (deutliche und anhaltende Angst vor Menschenmengen, öffentlichen Plätzen und Verkehrsmitteln), leidet das Kind an Panikattacken oder generalisierter Angst?
Zwang
Hat das Kind Zwangsgedanken, zeigt es Zwangshandlungen und/oder Zwangsimpulse?
Stimmung und Affekt
Zeigt sich das Kind depressiv oder traurig-verstimmt, ist es freudlos, lustlos, hat es seine Interessen verloren? Ist das Kind verzagt und innerlich gequält, reizbar oder dysphorisch, ist es anhedonisch, zeigt es mangelndes Selbstvertrauen mit Insuffizienzgefühlen? Lässt das Kind Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung erkennen, hat es Schuldgefühle, macht es sich Selbstvorwürfe? Ist seine Gefühlsansprechbarkeit gering, wirkt es gleichgültig und apathisch, ist es affektlabil, zeigt es innere Unruhe, fühlt sich getrieben und voll innerer Spannung oder ist es euphorisch mit übersteigertem Wohlbefinden und übertriebener Heiterkeit?
Essverhalten
Zeigt das Kind selbst herbeigeführten Gewichtsverlust durch Nahrungskarenz, gibt es andere Auffälligkeiten bei Esssituationen? Zeigt das Kind Heißhunger oder Essattacken oder nimmt das Kind zu viel Nahrung zu sich, was zur deutlichen Gewichtszunahme führt?
Ist Rumination erkennbar (werden bereits geschluckte Speisen willkürlich herauf gewürgt, erneut gekaut, geschluckt oder ausgespuckt) oder zeigt das Kind Pika (Verzehr nicht essbarer Substanzen)?
Körperliche Beschwerden
Zeigt das Kind Appetitverlust, erbricht, nässt ein oder kotet ein?
Zeigt es Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen oder frühmorgendliches Erwachen, finden sich dissoziative Reaktionen in Wahrnehmung und Selbstreflexion, zeigt sich vegetative Übererregbarkeit des Herzkreislaufsystems, des Gastrointestinaltrakts, des respiratorischen Systems oder Urogenitalsystems?
Hat das Kind Schmerzzustände, z. B. Kopf-, Bauch- und Gliederschmerzen, zeigt es chronische Müdigkeit und Kraftlosigkeit oder ängstlich getönte Beziehungen zum eigenen Körper mit ausgeprägter Sorge um die eigene Gesundheit (Hypochondrie)?
Denken und Wahrnehmung
  • Formale Denkstörungen: Ist das kindliche Denken gehemmt, verlangsamt, umständlich, weitschweifig, eingeengt? Zeigt es Perseverationen mit Haftenbleiben an Worten und Inhalten, zeigt es Grübeln mit Beschäftigtsein mit meist unangenehmen Gedankengängen? Hat das Kind Ideenflucht, zeigt es Inkohärenz und zeigt es Zerfahrenheit des Denkens (der Gedankenfluss ist durch Sperrungen, Gedankenabreißen und plötzliche Gedankenblockaden beeinträchtigt)?
  • Inhaltliche Denk- und Wahrnehmungsstörungen: Zeigt das Kind magisches Denken, ein dem Alter nicht mehr angemessenes Verhaftetsein in magischen Denkschemata? Finden sich Wahnstimmung, Wahnwahrnehmung und Wahngedanken, ist das Kind sensitiv misstrauisch, erlebt es sich verfolgt und als Ziel von Feindseligkeit? Finden sich Phänomene der Derealisation mit fremdartig veränderten Umwelteindrücken, finden sich Depersonalisationen mit Störungen des Einheitserlebnisses der Identität der Person, zeigt das Kind Gedankenlautwerden, Gedankenausbreitung und Gedankeneingebung oder Gedankenentzug? Zeigt es illusionäre Verkennungen, Halluzinationen oder andere Wahrnehmungsbeeinträchtigungen?
Gedächtnis, Orientierung und Bewusstsein
Zeigt das Kind Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen, ist es orientiert in zeitlicher, räumlicher, situativer und persönlicher Hinsicht, zeigt das Kind Störungen der Wachheit, des Bewusstseins mit Vigilanzherabsetzung verschiedenen Grades von Benommenheit über Somnolenz, Sopor bis zu Präkoma oder Koma?
Andere Störungen und Risikoverhaltensweisen
Zeigt das Kind abnorme Bindungen an Objekte mit stereotypen Interessen? Hat das Kind selbstverletzende Verhaltensweisen, zeigt es suizidale Handlungen, hat es Suizidgedanken? Gibt es Anzeichen für Alkoholmissbrauch oder Drogenabusus? Liegt eine Störung des Körperschemas vor? Finden sich sexuelle Störungen der Geschlechtsidentität, sexuelle Beziehungsprobleme oder sexualisierte Verhaltensweisen?
Zusätzlich zu den erfassten Symptomen kann noch beurteilt werden, ob das Kind einen deutlichen Leidensdruck erlebt und auch Hilfe wünscht. Die Symptome selbst können in der Exploration zum Ausdruck kommen oder aus anderen Lebensfeldern des Kindes berichtet werden.

Diagnostische Erweiterungen

Entwicklungs – und somatische Diagnostik

Im Rahmen der Untersuchungssituation sollte auch eine Entwicklungsdiagnostik durchgeführt werden: Alle Erlebnis- und Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen sollten an einem Maßstab der Entwicklung ihrer kognitiven emotionalen und sozialen Fertigkeiten nochmals im Hinblick auf ihre Altersgerechtheit geprüft werden. Darüber hinaus sollte auf die körperliche Diagnostik nicht verzichtet werden, die Beachtung von Schamgrenzen und Körpergrenzen hat bei Kindern und Jugendlichen Vorrang. In der Tat ist jedoch eine respektvolle und behutsame Vorgangsweise bei der somatischen Diagnostik nicht beziehungsgefährdend! Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie hat in einer Empfehlung ihrer Ethikkommission festgestellt, dass im Rahmen einer vollständigen Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf eine körperlich-neurologische Untersuchung nicht verzichtet werden sollte. Die Eltern und Sorgeberechtigten sollten auf Wunsch des Kindes in die Untersuchung einbezogen werden, wobei eine ausreichende Erläuterung der gewählten Untersuchungsprozedur notwendig ist. Die körperliche Untersuchung sollte dem Beginn einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsmaßnahme vorausgehen und in altersgerechter Weise durchgeführt werden. Auf Wunsch ist auch die Durchführung der körperlichen Untersuchung durch einen gleichgeschlechtlichen Untersucher zu gewährleisten, um den Bedürfnissen nach Einhalt der Intimitätsgrenzen Rechnung zu tragen.

Familiendiagnostik

Die Familiendiagnostik ist ebenfalls ein unverzichtbarer Bestandteil des diagnostischen Prozesses. Hier sollen nicht nur die familiären Beziehungsmuster und Erziehungsstile erfasst werden, sondern darüber hinaus sollten auch Geschwisterkonstellationen, Eifersuchtsreaktionen, Rivalität und unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten von Geschwisterkindern erfasst werden. Darüber hinaus erscheint es wichtig zu erkennen, wie das familiäre Umfeld auf entstandene psychische Probleme beim Kind oder Jugendlichen reagiert. Die assoziierten aktuellen abnormen psychosozialen Umstände in der Familie und dem weiteren Umfeld werden schließlich in Achse 5 des multiaxialen Klassifikationssystems systematisch erfasst. Die Exploration der Familie kann in freier Form erfolgen und soll Beziehungen, Rollen und Grenzen in der Familie fassbar werden lassen. Auch die Familiendiagnostik kann durch standardisierte Verfahren ergänzt werden, wobei Videotechnik und Fragebogen ebenso wie standardisierte Interaktionsaufgaben zur Anwendung kommen.

Interviews und Checklisten

Strukturierte Interviews, wie z. B. das Diagnostic Interview Schedule for Children (DISC) sowie das Kinder-DIPS, die beide hochstrukturierte Verfahren darstellen, können zur standardisierten Diagnostik herangezogen werden, wie auch das Kiddie-SADS, das einen geringeren Strukturierungsgrad aufweist und eine besonders gute Erfassung affektiver Störungen erlaubt. Solche strukturierten diagnostischen Vorgehensweisen können die klinische Untersuchung zur Verbesserung der Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Zentren oder zu wissenschaftlichen Zwecken bereichern. Zur dimensionalen Diagnostik können neben strukturierten Interviews einzelne psychopathologische Auffälligkeiten mittels Fragebogen-Methoden erfasst werden. Besonders hervorzuheben ist die Child Behavior Checklist sowie der Youth Self Report (YSR) von Achenbach. Für einzelne Störungsbilder finden sich Vertiefungen in strukturierten Interviews und speziell entwickelten Fragebögen.
Das Diagnostik-System für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-5 für Kinder und Jugendliche III (DISYPS-III) bietet ein Screeninginstrument für ein breites Spektrum psychischer Störungen und störungsspezifische Instrument für eine vertiefte Diagnostik.

Testpsychologische Diagnostik

Mithilfe der testpsychologischen Diagnostik kann der psychische Befund bei Kindern und Jugendlichen vervollständigt werden. Die standardisierte psychologische Diagnostik erlaubt mittels Testverfahren, Befunde zur kognitiven, emotionalen und psychosozialen Entwicklung, zur Persönlichkeit und zur aktuellen Lebenssituation zu erstellen.
Die Auswahl, Anzahl und Reihenfolge der unterschiedlichen Testverfahren hat sich nach den jeweils spezifischen Fragestellungen zu richten, die sich aus der Exploration und Anamneseerhebung ergeben. Die Testdurchführung hat sich grundsätzlich an den Bedürfnissen des Kindes zu orientieren und muss die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen und psychopathologischen Befunde berücksichtigen. Die testpsychologische Diagnostik soll auch mit dem Aufbau und der Aufrechterhaltung einer positiven Beziehung zum Untersucher einhergehen.
Psychologische Testverfahren werden in der Regel in leistungsdiagnostische Verfahren zur Beurteilung des kognitiven Entwicklungsstandes und persönlichkeitsdiagnostische Verfahren zur Beurteilung von Verhalten, emotionaler Verfassung und Persönlichkeitsentwicklung eingeteilt. Bei Kindern, die im klinischen Gespräch und in der Spielsituation keine Äußerungen über ihr Gefühlsleben machen, können projektive Testverfahren die klinische Untersuchung stützen. Bei der Interpretation von Bildern oder Geschichten (z. B. des thematischen Gestaltungstests oder des Satzergänzungstests) werden vom Kind nicht selten Konflikt- und Lebensthemen angesprochen, die aus der eigenen Erfahrungswelt stammen. Auch wenn projektive Testverfahren die methodische Exaktheit anderer psychologischer Messinstrumente nicht erreichen können, ist ihnen doch ein klinischer Stellenwert zuzumessen, da sie thematische Vorlagen bieten und einen Einstieg in den diagnostischen Dialog bilden können.
Die individuellen Messwerte, die sich bei der Durchführung psychometrischer Testverfahren ergeben, müssen hinsichtlich ihrer Bedeutung erst anhand von Altersnormen beurteilt werden. Ein einheitliches Maß zur Bestimmung des Abstandes eines Messwerts vom Mittelwert ist die Standardabweichung. Die einfachste Form standardisierter Messwerte sind Z-Werte, die einen Mittelwert von 0 und eine Standardabweichung von 1 aufweisen. In der Praxis werden anstelle von Z-Werten meist andere standardisierte Skalenwerte, wie z. B. T-Werte, IQ-Werte oder Wertpunkte verwendet.
In der Beurteilung der Testbefunde empfiehlt es sich, deskriptive Inhalte und deren Interpretation möglichst voneinander abzugrenzen.
Alle Testverfahren und Informationsquellen sollen explizit genannt werden, damit in der Beurteilung deutlich wird, auf welche Fakten und interpretativen Schritte die Beurteilung sich bezieht. Eine Übersicht über für die klinische Praxis geeignete und bewährte Testverfahren findet sich in Tab. 2.
Tab. 2
Eine Auswahl für die klinische Praxis geeigneter bzw. bewährter Testverfahren
Testname
Inhalt
Alter (Jahre)
Dauer (min)
Allgemeine Entwicklungstests
Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (MFED)
Prüft Entwicklungsstand/-alter in verschiedenen Funktionsbereichen: Motorik, Sprache, Sozialverhalten
0–3
ca. 50
Wiener Entwicklungstest (WET)
14 Subtests zu den Bereichen Motorik, Wahrnehmung, Gedächtnis, kognitive, sprachliche, mathematische und soziale Fähigkeiten
3–6
ca. 60
Entwicklungstest 6 Monate bis 6+ Jahre Revision ET 6-6-R
13 Subtets zu 5 Bereichen: Motorik, kognitive, sprachliche, soziale und emotionale Entwicklung
0;6–6
ca. 20–50
Spezielle Entwicklungstests
Heidelberger Sprachentwicklungstest (HSET)
13 Subtests zur differenzierten Diagnostik der Sprachentwicklung
3–9
40–80
Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK-2)
4 Untertests zur frühen Diagnostik der Sprachentwicklung
2;0–2;11
15–20
Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3-5)
5 Untertests zur Diagnostik der Sprachentwicklung
3;0–5;11
15–25
Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung 2 (FEW-2)
8 Subtests zur Erfassung visueller Wahrnehmungsfunktionen
4–9
30–50
Graphomotorische Testbatterie (GMT)
7 Subtests zur grafomotorischen Entwicklung; Prüfung der Voraussetzungen des Schreibens
4–7
ca. 45
Motoriktest für 4- bis 6-jährige Kinder (MOT 4–6)
18 Aufgaben zur Prüfung des Entwicklungsstandes der Fein-und Grobmotorik
4–6
15–20
Intelligenztests
Grundintelligenztest Skala 1 Revision (CFT 1-R)
6 Subtests zur Erfassung figurale Wahrnehmungsgeschwindigkeit und figurales Denken
5–9
ca. 45
Grundintelligenztest Skala 2 Revision (CFT 20-R)
2 Testteile mit je 4 Subtests zur Erfassung der nichtsprachlichen Denkfähigkeit
ab 8;5–60
ca. 60
(Teil 1 ca. 35)
Adaptives Intelligenz Diagnostikum 3 (AID 3)
12 Subtests plus 3 Zusatztests: Spektrum verbaler und manuell-visueller Intelligenzaspekte, adaptives Testen, Rasch-skaliert
6;0–15;11
40–75
Wechsler Intelligence Scale for Children (Deutsche Ausgabe) Fourth Edition (WISC-IV)
10 Subtests plus 5 Zusatztests: Arbeitsgedächtnis, Sprachverständnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit, wahrnehmungsgebundenes logisches Denken
6–16;11
60–90
Kaufmann Assessment Battery for Children – Second Edition (KABC-II)
18 Subtests zur Erfassung intellektueller Fähigkeiten und Fertigkeiten, Sequentiell, Planung, Lernen, Simultan, Wissen
3–18
30–75
Spezielle Leistungstests
Test d2 – Revision Aufmerksamkeits- und Konzentrationstest (d2-R)
Konzentrationsleistung: rasche visuelle Reizunterscheidung, Mengen- und Sorgfaltsleistung
9–60
ca. 10
Zahlen-Verbindungs-Test (ZVT)
Bearbeitungstempo („perceptual speed“) bei Aufgaben zur visuellen Überblicksgewinnung
7–80
5–10
Mottier Test
Prüfung der auditiven Differenzierungs- und Merkfähigkeit, Kurzzeitgedächtnis
2.–5. Schuljahr
3–5
Benton Test
Visuomotorik, Zeichenfähigkeit und visuelles Kurzzeitgedächtnis
ab 7
5–10
Diagnosticum für Cerebralschädigung II (DCS-II)
Lern- und Gedächtnistest für figurales Material
ab 5–88
20–40
Fragebogenverfahren zur allgemeinen und klinischen Persönlichkeitsdiagnostik
Family Relations Test (FRT-KJ)
Analyse von (familiären) Beziehungen mittels Zuordnung positiver und negativer Aussagen
6–17
20–25
Persönlichkeitsfragebogen für Kinder zwischen 9 und 14 Jahren (PFK 9–14)
15 Subskalen zu Verhaltensstilen, Motiven und Selbstbildaspekten
9–14
ca. 60
Narzissmusinventar (NI)
18 Subskalen zum Selbsterleben und zu narzisstischen Persönlichkeitsaspekten
ab 15
30–45
Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar PSSI
14 Skalen zu Persönlichkeitsstilen
ab 14
ca. 20
Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen (EAS)
Differenziert 5 Aggressionsaspekte anhand 22 konkret dargestellter Alltagssituationen
9–12
20–30
Problemfragebogen für 11- bis 14-Jährige (PF 11–14)
233 Fragen zu Problembelastungen in den Bereichen: Selbst, Peers, zu Hause, Partner, Gesundheit, Allgemeines
11–14
45–90
Problemfragebogen für Jugendliche
306 Fragen zu Problembereichen: (nach) Schule, Selbst, Peers, zu Hause, Partner, Gesundheit, Allgemeines
14–18
45–90
Kinder-Angst-Test III (KAT-III)
19 Items zur Erfassung von Ängstlichkeit als Persönlichkeitseigenschaft
6–18
10–15
Depressionsinventar für Kinder- und Jugendliche (DIKJ)
29 Items zur Erfassung der Schwere der Depressivität bei Kindern und Jugendlichen
8–16
ca. 15
Deutsche Schulalter-Formen der Child Behavior Checklist von Thomas M. Achenbach CBCL/6-18-R und TRF/6-18-R/
Eltern- und Lehrereinschätzungen zu Kompetenzen, emotionalen und Verhaltensproblemen ihrer Kinder
6–18
ca. 15-20
Deutsche Schulalter-Formen der Child Behavior Checklist von Thomas M. Achenbach YSR/11-18
Selbsteinschätzungen zu Kompetenzen, emotionalen und Verhaltensproblemen
11–18
ca.15-20
Projektive Verfahren
Scenotest
Standardisiertes Spielmaterial zur Analyse von Spielverhalten und Problemgestaltung
ab 3
variabel, meist ca. 10–30
Thematischer Gestaltungstest (Salzburg) (TGT-S)
Bildtafeln mit Problemsituationen: Analyse der vom Kind dazu erzählten Geschichten
ab 7
variabel, meist ca. 15-30
Geschichten Erzählen projektiv (GEp)
47 Bildtafeln zu speziellen Problembereichen: Analyse der zugehörigen kindlichen Äußerungen und Geschichten
ab 4–5
variabel, meist ca. 20–40
Rorschachtest
Inhaltliche und formale Analyse der Wahrnehmungen/Deutungen zu 10 Kleckstafeln
ab 11
variabel, meist ca. 10–20
Schultests
Weiterhin werden routinemäßig standardisierte Schultests (Lesetests, Rechtschreibtests und Rechentests) zur Beurteilung der Leistung im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen im Vergleich zur jeweiligen Klassenstufe eingesetzt

Multiaxiale Diagnostik

Ebenso wie der psychologische Befund zu weiterführenden testpsychologischen Untersuchungen Anlass geben kann, kann die körperliche Untersuchung eine vertiefte apparative Folgediagnostik, beispielsweise mittels EEG und/oder bildgebender Verfahren bzw. pädiatrische, humangenetische oder andere fachärztliche Konsile notwendig machen.
Um der Entwicklungsdynamik von Kindern und Jugendlichen Rechnung zu tragen, erscheint es zu kurz gegriffen, sich im Rahmen der diagnostischen Klassifikation auf die Hauptdiagnose zu beschränken. Aus diesem Grund wurde das multiaxiale Klassifikationsschema psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters (MAS) durch Remschmidt und Schmidt entwickelt. Es enthält in seinem Aufbau neben dem klinisch-psychiatrischen Syndrom auf Achse I 4 weitere Achsen, auf denen umschriebene Entwicklungsstörungen (Achse II), das Intelligenzniveau (Achse III), körperliche Symptome (Achse IV) und assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände (Achse V) dokumentiert werden können. In der neusten Fassung wurde Achse VI durch eine Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung ergänzt. Mit dem multiaxialen Klassifikationsschema stützt sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie auf ein nosologieorientiertes Klassifikationssystem, das einer Mehrebenen-Betrachtungsweise gerecht werden kann. Es hat in die Basisdokumentationssysteme vieler universitärer und nichtuniversitärer Behandlungseinrichtungen Eingang gefunden.

Vom Symptom zur Indikation

Um schließlich aus der multiaxialen Diagnostik handlungsanleitende Folgerungen zu ziehen, bedarf es einer entwicklungspsychopathologischen Sichtweise. Die Entwicklungspsychopathologie setzt sich zum Ziel, die Verursachungen und den Verlauf individueller Störungen der Lebensfunktionen unter Entwicklungsgesichtspunkten zu betrachten. Dabei stützt sich die Diagnostik auf 3 Aspekte: die situative, die biografische und die strukturelle Analyse.
Die situative Analyse hat zum Ziel, den unmittelbaren Kontext eines bestimmten psychopathologischen Symptoms fassbar zu machen. Die Auslöser werden verdeutlicht, die im Spannungsfeld zwischen Entwicklungsaufgaben und traumatischen Ereignissen zu suchen sind. Aktuelle Konflikte oder Anpassungsprobleme werden mit dem Handlungsspielraum verglichen, der vom familiären und weiteren sozialen Umfeld dem Kind gegenüber eröffnet wird.
Die biografische Analyse soll die bisherigen Entwicklungsbedingungen von der Geburt bis zum gegebenen Zeitpunkt verdeutlichen. Sie erfolgt unter einer biopsychosozialen Modellvorstellung. Die Passung des Kindes in sein soziales Umfeld wird dabei in den Fokus genommen. Chronische Fehlanpassungen und emotionale Vernachlässigungszustände und die Wirkung entsprechender Risikofaktoren und Traumen in Wechselwirkung mit protektiven Faktoren und familiären Ressourcen werden dabei beachtet.
Die strukturelle Analyse schließlich hat zum Ziel, den aktuellen Entwicklungsstand unter biopsychosozialen Gesichtspunkten festzustellen. Kognitive Fertigkeiten, die Selbstintegration und vorhandene Anpassungskapazitäten sind ebenso wichtig wie die Feststellung von individuellen und sozialen Ressourcen, die eine gegenwärtige Auseinandersetzung mit der psychischen Störung erlauben. Schließlich erfolgt eine nosologische Zuordnung in multiaxialer Gliederung. Durch Interpretation der Entstehungsbedingungen soll eine Hypothese über Ätiologie und Pathogenese gebildet werden und durch Interpretation des sozialen Kontexts unter Auswirkungen von Symptomen auf die Umwelt soll die Funktionalität des gegenwärtigen psychischen Geschehens ermittelt werden. Auf der Basis dieser 3 Beurteilungsschritte erfolgt schließlich unter Zuhilfenahme aller vertiefenden standardisierten und apparativen Befunde eine Entscheidung zum therapeutischen Handeln (Abb. 2).
Weiterführende Literatur
Achenbach TM (1991) Integrative guide to the 1991 CBCL/4-18, YSR, and TRF profiles. University of Vermont, Department of Psychology, Burlington
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