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Pädiatrie
Info
Verfasst von:
Friedrich Ebinger
Publiziert am: 12.10.2019

Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen

Kopfschmerzen sind ein häufiger Vorstellungsgrund beim Pädiater. Dort gilt es, primäre Kopfschmerzen wie Migräne oder Kopfschmerz vom Spannungstyp von sekundären Kopfschmerzen, d. h. solchen mit einer zugrunde liegenden Erkrankung, zu differenzieren, im Falle primärer Kopfschmerzen diese näher einzuordnen und gegebenenfalls Risikofaktoren zu ermitteln. Finden sich in der Primärdiagnostik – genaue Anamnese in Kenntnis des typischen Bildes primärer Kopfschmerzen, gründliche körperliche Untersuchung, ophthalmologische Vorstellung – Auffälligkeiten, sind weitere Untersuchungen angezeigt. Bedürfen Kopfschmerzen vom Spannungstyp meist keiner Akut-Analgesie, ist bei Migräneattacken die frühzeitige Therapie mit einem ausreichend hoch dosierten Analgetikum (1. Wahl Ibuprofen) und/oder einem Triptan wichtig. In der Prophylaxe stehen verhaltensmedizinische Maßnahmen (Entspannungstechniken, Tagesstrukturierung, Ausgleichssport etc.) im Vordergrund. Eine medikamentöse Migräneprophylaxe ist nur selten indiziert.

Grundlagen

Epidemiologie
Kopfschmerzen gehören zu den häufigen Vorstellungsgründen beim Pädiater. Die altersbezogene Migräneinzidenz hat ihr deutliches Maximum in der 2. Lebensdekade. Aber Kopfschmerzen scheinen immer früher zu beginnen und an Häufigkeit zuzunehmen. Circa ein Drittel aller Kinder hat bereits im Vorschulalter Erfahrungen mit Kopfschmerzen. Bei Erstklässlern in Turku stieg die Prävalenz von Kopfschmerzen von 1974 bis 2002 von 14 % auf 63 %, die Häufigkeit einer Migräne von 2 % auf 9 %. Mit der Einschulung findet sich ein erster klarer Anstieg der Kopfschmerzprävalenz, ein erneuter noch deutlicher ausgeprägter Anstieg mit 10–15 Jahren. Im Pubertätsalter liegt die Prävalenz der Migräne bei 10–20 %, diejenige von Kopfschmerzen überhaupt – je nach Studie – bei über 80 %. Ab diesem Alter ist für die Migräne eine klare Mädchenwendigkeit zu erkennen.
Klassifikation
Für die Einordnung der Kopfschmerzen gilt auch im Kindes- und Jugendalter die umfangreiche Klassifikation der International Headache Society – IHS (https://www.ichd-3.org/; in deutscher Übersetzung http://213.214.3.10/files/dmkg.de/Aerzte/ICHD-3-Deutsche-Übersetzung-German-Translation-2018-1.pdf). In ihr werden verschiedene Kopfschmerzen operational differenziert. Hauptunterscheidung ist diejenige in primäre Kopfschmerzen (4 Gruppen), sekundäre Kopfschmerzen (8 Gruppen) und Neuralgien (2 Gruppen). Allerdings ist im Kindesalter gerade bei den häufigsten primären Kopfschmerzen Migräne (Abschn. 3) und Kopfschmerz vom Spannungstyp (Abschn. 4) eine Einordnung mit den Kriterien der Klassifikation nicht immer eindeutig möglich. Keineswegs entspricht die Unterscheidung in primäre und sekundäre Kopfschmerzen einer Unterscheidung in nicht therapiebedürftige und therapiebedürftige Erkrankungen.
Pathogenese
Schmerzempfindliche Strukturen des Neurokraniums sind neben Skalp und Muskeln die Meningen und das Tentorium und speziell deren Gefäße. Der Aktivierung der dort lokalisierten Nozizeptoren liegen bei sekundären Kopfschmerzen Erkrankungen oder Ereignisse zugrunde. Bei primären Kopfschmerzen werden die Nozizeptoren rezidivierend ohne zugrunde liegende Erkrankung aktiviert oder Veränderungen des modulierenden Einflusses endogener Schmerzkontrollsysteme führen zu einer Schmerzwahrnehmung ohne adäquate Nozizeptorreizung.
Diagnose
Es gibt keinen Laborparameter und keine sonstige technische Untersuchung, die beweisen würden, dass ein Patient primäre Kopfschmerzen hat. Die Diagnose gründet sich vielmehr auf die gründliche Anamnese, bei der auch die typischen Charakteristika der verschiedenen Kopfschmerzformen erfasst werden (Tab. 1), sowie auf die körperliche Untersuchung zum Ausschluss anderer Ursachen der Kopfschmerzen.
Tab. 1
Kopfschmerzverlauf und typische Diagnosen
Akut
Akut-rekurrierend
Chronisch-progredient
Chronisch-nichtprogredient
Grippaler Infekt
Migräne ohne Aura
Tumor
Chronic daily headache
Sinusitis, Otitis
Migräne mit Aura
Pseudotumor cerebri
Chronischer KS vom Spannungstyp
KS vom Spannungstyp
Chronische Migräne
Hirnabszess
Clusterkopfschmerz
Subduralblutung
Posttraumatischer KS
Intrakranielle Blutung
Neuralgien
Sinusvenenthrombose
Zervikogener KS
Hypertonus
Epileptischer Anfall
Stomatognath verursachter KS
Substanzabusus
Hypertonus
Chiari-Malformation
Okulär verursachter KS
Migräne
Substanzabusus (z. B. Kokain)
Medikamente
 
 
Somatoforme Störung
 
KS Kopfschmerz
Anamnese
In der Anamnese sind der Verlauf der Kopfschmerzerkrankung (Beginn, Progredienz, begleitende andere Schmerzen oder Erkrankungen usw.), eventuelle Auslöser für Kopfschmerzattacken (Anstrengung, Aufregung, Wärme, Kälte, Lärm, bestimmte Nahrungsmittel, Koffein, Flüssigkeitsmangel), der Ablauf der Kopfschmerzattacken (Tageszeit, Wochentag, Prodromi, Aura, Begleitphänomene, Lokalisation, Intensität, Charakteristik, Dauer, verstärkende und mildernde Einflüsse, Medikamente) und eventuelle Einflussgrößen (Familienanamnese, Vorerkrankungen, Trinkmenge, Koffeinkonsum, Medikamente, wie z. B. hormonelle Kontrazeptiva, Schlafverhalten, Fernsehkonsum, Familienkonstellation, Schul- und Freizeitstress, Leistungsbewusstsein usw.) gezielt zu erfragen. Hilfreich ist ein kindgerechter Kopfschmerzkalender, in dem Auslöser, Dauer, Intensität, Begleitsymptome, Medikation und Auswirkungen von Kopfschmerzen eingetragen werden.
Körperliche Untersuchung
Die körperliche Untersuchung umfasst neben einem vollständigen internistischen Status eine detaillierte neurologische Untersuchung, bei der auf fokale Ausfälle und auf Zeichen einer intrakraniellen Drucksteigerung zu achten ist. An die Messung des Blutdrucks, die Inspektion der Haut (Phakomatose?), die orientierende Untersuchung des HNO-Bereichs, des Kauapparats und nicht zuletzt des Muskel- und Skelettsystems (Fehlhaltungen, Myogelosen bzw. Triggerpunkte?) ist zu denken. Der Verlauf von Kopfumfang (dekompensierender Hydrozephalus bei Aquäduktstenose?) und von Größe und Gewicht (Kraniopharyngeom?) sind zu erfassen. Ergänzend sollte eine gezielte ophthalmologische Untersuchung (Organbefund, Visus, Refraktion, Binokularfunktion) erfolgen. Weitere technische Untersuchungen sind bei Auffälligkeiten in Anamnese oder körperlicher Untersuchung angezeigt (Abschn. 2, Übersicht „Indikationen zur kraniellen Schichtbildgebung [in der Regel MRT]“).

Sekundäre Kopfschmerzen

Ätiologie
Kopfschmerzen können durch Erkrankungen im Schädelinneren oder im Bereich anderer Schädelstrukturen oder durch Systemerkrankungen verursacht werden. Häufigste Ursache sekundärer Kopfschmerzen im Kindesalter ist ein grippaler Infekt. Die folgende Übersicht differenziert sekundäre Kopfschmerzen nach topografischen Gesichtspunkten.
Ätiologie sekundärer Kopfschmerzen
  • Intrakranielle Ursachen
  • „Kranielle“ Ursachen
    • Augen, Hals-Nasen-Ohren, Zahn-Mund-Kiefer, Halswirbelsäule, Neuralgien
  • Extrakranielle Ursachen
Verlauf und Diagnose
Wichtige differenzialdiagnostische Hinweise gibt der Verlauf der Kopfschmerzsymptomatik (Tab. 1). Bei heftigen akuten Kopfschmerzen muss gegebenenfalls an eine intrakranielle Blutung, eine Meningitis, eine Sinusitis oder einen Abszess gedacht werden. Mit identischem Muster wiederkehrende Kopfschmerzen entsprechen meist einer primären Kopfschmerzerkrankung; sehr viel seltener liegen ein arterieller Hypertonus oder Kopfschmerzen bei epileptischen Anfällen zugrunde. Episoden eines MELAS-Syndroms (Kap. „Mitochondriopathien“) können einer Migräne mit Aura ähneln. Auch bei primären Kopfschmerzen können sich chronische Kopfschmerzen entwickeln: Bei diesen und insbesondere bei chronisch-progredienten Kopfschmerzen sind jedoch organische Ursachen sorgfältig zu erwägen. So können dahinter auch intrakranielle Veränderungen, Koffeinabusus, Medikamenteneffekte oder okuläre Ursachen stecken. Der Kopfschmerz bei zu häufiger Analgetikaeinnahme nimmt bei Jugendlichen an Häufigkeit zu, und auch die Einnahme oraler Kontrazeptiva kann zu vermehrten Kopfschmerzen führen. Fehlhaltungen und Muskelverspannungen können Kopfschmerzen verstärken und sind im Einzelfall therapeutisch anzugehen. Die Rolle von Hyperopie, Anisometropie und Störungen der Binokularfunktion als Auslöser von Kopfschmerzen ist zwar in der Diskussion; ein therapeutischer Versuch lohnt sich jedoch.
Ein intrakranieller Tumor, die Hauptbefürchtung von Eltern und Arzt, führt so gut wie immer nicht nur zu Kopfschmerzen, sondern zu weiteren Symptomen. Auch eine Neuroborreliose zeigt sich in aller Regel nicht nur durch Kopfschmerzen. Ein Pseudotumor cerebri scheint jedoch häufiger die Ursache von Kopfschmerzen zu sein als bislang angenommen. Hinweise auf eine Hirndrucksteigerung sind Nüchternerbrechen, Doppelbilder, aber auch das regelhafte Auftreten von Kopfschmerzen im Liegen, beim Husten oder bei der Defäkation. Bei einer Anamnese, die an primären Kopfschmerzen zweifeln lässt, bei auffälligen auxologischen Maßen und bei entsprechenden Auffälligkeiten in der körperlichen Untersuchung sind weitere Untersuchungen, wie eine MRT des Neurokraniums indiziert. Sie sollten jedoch nicht bei jedem Kopfschmerz eingesetzt werden. Die folgende Übersicht stellt wichtige Indikationen dafür zusammen.
Indikationen zur kraniellen Schichtbildgebung (in der Regel MRT)
  • Plötzlicher akuter starker Schmerz
  • Exazerbation, d. h. völlig ungewöhnliche Intensität
  • Lang andauernde Dauerschmerzen
  • Chronisch-progrediente Schmerzen
  • Kopfschmerzen, die im Liegen, beim Husten oder der Defäkation auftreten
  • Nüchternerbrechen, Stauungspapille
  • Persönlichkeitsveränderungen, Kognitionsstörungen
  • Auffälligkeiten bei der neurologischen Untersuchung
  • Phakomatose
  • Anthropometrische Auffälligkeiten
  • Perzentilenschneidendes Kopfumfangswachstum
  • Vorhandensein eines Liquorshunts
  • Beruhigung der Familie, falls Angst vor einem intrakraniellen Prozess einen adäquaten Umgang mit den Kopfschmerzen verhindert
Therapie
Die Therapie sekundärer Kopfschmerzen richtet sich nach der Grunderkrankung. Symptomatisch sind Analgetika wie bei den primären Kopfschmerzen anwendbar.

Migräne

Klinische Symptome und Verlauf
Unterschieden werden muss zwischen Migräne ohne und mit Aura, sowie periodischen Syndromen.
Migräne ohne Aura
Bei einer Migräne ohne Aura (früher: einfache Migräne) treten paroxysmal starke Kopfschmerzen auf, zwischen denen die Patienten typischerweise symptomlos sind. Je jünger die Betroffenen, umso schwieriger ist die Anwendung der Kriterien der IHS. Die Attackendauer ist bei Kindern kürzer als bei Erwachsenen, und auch Attacken unter 1 Stunde sind belegt. Lokalisieren Erwachsene die Kopfschmerzen meist halbseitig, sind sie bei Kindern und Jugendlichen meist bifrontal bzw. bitemporal. Sie werden von ihnen in der Regel als drückend beschrieben. Erst im Jugendalter findet sich häufiger die Beschreibung der Schmerzen als pochend-hämmernd. Die Schmerzen sind in der Regel so stark, dass sie Aktivitäten behindern. Leichte Erschütterungen können die Kopfschmerzen oft verstärken. Kinder beenden meist auch ohne Aufforderung Tätigkeiten, die ihnen sonst angenehm sind. Sie ziehen sich in eine dunkle und ruhige Umgebung zurück. Während sich dies in der Anamneseerhebung gut erfragen lässt, werden die direkten Fragen nach Lärm- oder Lichtempfindlichkeit von Kindern oft verneint. Übelkeit und Erbrechen sowie auch Bauchschmerzen sind bei Kindern oft besonders stark ausgeprägt. Das Erbrechen wird von manchen als Erleichterung erlebt. Den Eltern fällt oft eine deutliche Blässe auf. Besonders Jugendliche können über Schwindel klagen. Kinder schlafen im Verlauf einer Migräneattacke oft ein und erwachen oft weitgehend beschwerdefrei. Häufig, aber keineswegs immer, liegt bei den Patienten eine familiäre Belastung vor.
Kriterien für Migräne ohne und mit Aura (zusammengefasst nach International Headache Society)
  • Migräne ohne Aura
    a.
    Wenigstens 5 Attacken, welche den Kriterien b–d entsprechen
     
    b.
    Dauer der Kopfschmerzen unbehandelt bei Erwachsenen 4–72 h, bei Kindern 2–72 h (schläft ein Patient ein, zählt die Zeit bis zum Erwachen)
     
    c.
    Mindestens 2 der folgenden Charakteristika:
    1.
    Einseitig (bei Kindern meist beidseitig)
     
    2.
    Pulsierend
     
    3.
    Mittlere oder starke Intensität, die Aktivitäten behindert
     
    4.
    Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten (Gehen, Treppensteigen)
     
     
    d.
    Mindestens 1 der folgenden Begleitphänomene:
    1.
    Übelkeit und/oder Erbrechen
     
    2.
    Fotophobie und Phonophobie (bei Kindern entsprechendes Verhalten)
     
    3.
    Nicht auf eine andere Erkrankung zurückzuführen
     
     
  • Migräne mit Aura
    a.
    Mindestens 2 Attacken, welche die Kriterien b–d erfüllen
     
    b.
    Mindestens ein reversibles Aurasymptom:
    1.
    Visuell
     
    2.
    Sensibel
     
    3.
    Aussprache oder Sprachvermögen
     
    4.
    Motorisch
     
    5.
    Hirnstamm
     
    6.
    Retina
     
     
    c.
    Mindestens 2 der folgenden Charakteristika:
    1.
    Mindestens 1 Symptom entwickelt sich allmählich (<5 min) und/oder 2 oder mehr Symptome folgen aufeinander
     
    2.
    Jedes einzelne Symptom dauert 5–60 min (motorisch bis 72 h)
     
    3.
    Mindestens 1 Symptom ist einseitig (Aphasie ist einseitig)
     
    4.
    Kopfschmerzen begleitend zur Aura oder dieser innerhalb 60 min folgend
     
     
    d.
    Nicht auf eine andere Erkrankung zurückzuführen
     
Migräne mit Aura
Bei 15–30 % der Kinder tritt im Rahmen einer Migräneattacke eine Aura auf (Migräne mit Aura, früher: migraine accompagnée). Dabei handelt es sich um Reiz- oder Ausfallerscheinungen von Kortex oder Hirnstamm. Sie entwickeln sich typischerweise schleichend über Minuten und halten zwischen 20 Minuten und 1 Stunde an, wobei auch prolongierte Auraphasen bei Kindern nicht ganz ungewöhnlich sind. Die Symptomatik ist im Normalfall komplett reversibel. Typischerweise treten Kopfschmerzen innerhalb 1 Stunde nach Beginn der Aura auf, gelegentlich aber auch mit ihr zusammen. Die Schmerzen sind nicht immer typisch migräneartig; in einzelnen Fällen können sie sogar ganz fehlen (isolierte Migräneaura, migraine sans migraine), was eine besonders sorgfältige Abklärung notwendig macht.
Bei einer typischen Aura berichten die Patienten über Sehstörungen einer Gesichtsfeldhälfte wie Flimmerskotome oder Zickzacklinien (Fortifikationspektren), über sich langsam ausbreitende (z. B. Hand → Arm → Mundwinkel) einseitige Kribbelparästhesien oder über eine aphasische Sprachstörung. Tritt eine einseitige motorische Schwäche auf, spricht man von einer (familiären oder sporadischen) hemiplegischen Migräne. Bei einer Migräne mit Hirnstammaura (früher: Basilarismigräne) finden sich Dysarthrie, Vertigo, Tinnitus, Hypakusis, Diplopie, Sehstörungen beider Gesichtsfelder, Ataxie oder eine Bewusstseinsstörung. Bei der konfusionellen Migräne sind migräneartige Kopfschmerzen mit Verwirrtheit, Desorientierung, Agitiertheit und Aggressivität verbunden. Diese charakteristische, aber seltene Migräneform tritt vor allem bei Jungen nach einem leichten Kopftrauma, wie z. B. einem Kopfball auf – daher auch die Bezeichnung footballer‘s migraine. Natürlich sind hier andere Ursachen, wie eine intrakranielle Blutung sorgfältig auszuschließen. Eine weitere spezielle Auravariante ist das Alice-im-Wunderland-Syndrom mit Mikropsie, Makropsie und Metamorphopsie bis zu halluzinatorisch anmutenden Verkennungen.
Periodische Syndrome
Die sog. periodischen Syndrome in der Kindheit sind Varianten oder Vorläufer einer Migräneerkrankung. Zu ihnen zählen zyklisches Erbrechen, abdominale Migräne, benigner paroxysmaler Schwindel im Kleinkindalter sowie für viele Autoren auch benigner paroxysmaler Tortikollis im Kleinkindalter (Kap. „Nichtepileptische Anfälle und paroxysmale Phänomene bei Kindern und Jugendlichen“). In jüngster Zeit wird auch diskutiert, ob es sich bei Säuglingskoliken um eine Migränevariante handeln kann. Die Zuordnung der alternierenden Hemiplegie im Kindesalter ist umstritten (Kap. „Nichtepileptische Anfälle und paroxysmale Phänomene bei Kindern und Jugendlichen“). Die Diagnose dieser Erkrankungen erfordert den Ausschluss anderer Ursachen und wird durch eine positive familiäre Migräneanamnese erleichtert. Benigner paroxysmaler Schwindel und benigner paroxysmaler Tortikollis bedürfen keiner Therapie. Die oft schwierige Behandlung des sehr belastenden zyklischen Erbrechens erfolgt in der Attacke mit Antieemetika und Prokinetika, eventuell auch mit Triptanen, sowie im Intervall mit Migräneprophylaktika (siehe unten).
Pathophysiologie
Hinsichtlich der Pathophysiologie der Migräne ergaben die letzten Jahre deutliche Fortschritte. Nach aktuellem Stand liegt bei Betroffenen eine eventuell genetisch geprägte, veränderte kortikale Erregbarkeit vor, die das Auftreten einer sog. cortical spreading depression (CSD) begünstigt. Diese sich langsam über den Kortex ausbreitende Aktivitätsänderung scheint bei einer Migräne mit Aura und wahrscheinlich auch bei einer Migräne ohne Aura am Anfang einer Attacke zu stehen. Die CSD führt über die Freisetzung von Metaboliten und Neuropeptiden – u. a. das Calcitonin gene-related peptide (CGRP) – zu einer meningealen perivaskulären Entzündung, die wiederum nozizeptive Afferenzen im 1. Trigeminusast aktiviert. Dauert diese Aktivierung an, führt dies zu einer Sensibilisierung, sodass in der Attacke leichte Erschütterungen oder eine Berührung der Kopfhaut zu einer Schmerzverstärkung führen. Auch eine veränderte Erregbarkeit im Trigeminuskerngebiet sowie Aktivitätsänderungen endogener Schmerzkontrollsysteme im Hirnstamm scheinen in der Pathophysiologie der Migräne eine Rolle zu spielen. Das Zusammenspiel dieser verschiedenen Phänomene ist jedoch nicht abschließend geklärt.
Diagnose
Zur Diagnose der Migräne sind bei typischer Anamnese, die gegebenenfalls durch einen Kopfschmerzkalender bestätigt wurde, und unauffälliger körperlicher Untersuchung keine weiteren Untersuchungen notwendig. Ein EEG ist dann sinnvoll, wenn differenzialdiagnostisch an Kopfschmerzen im Rahmen epileptischer Anfälle gedacht wird. Bei einer nicht nur visuellen Migräneaura wird bei Kindern und Jugendlichen meist eine MRT angefertigt. Hauptindikation dafür ist jedoch oft die Beruhigung der Familie, wenn dies anders nicht möglich ist.
Therapie
Zur Therapie einer Migräneattacke gehören Verhaltensmaßnahmen wie die Unterbrechung der Aktivität und Rückzug, in aller Regel sind aber auch Medikamente notwendig. Diese sind bei einer Migräne frühzeitig und in ausreichender Dosierung einzunehmen. Mittel 1. Wahl ist eindeutig Ibuprofen (10–15 mg/kg KG); auch die Anwendung anderer Nichtopioid-Analgetika (Kap. „Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen“) ist möglich. Reichen diese nicht aus, sind auch bei Kindern und Jugendlichen Triptane indiziert. Hier liegen für nasales Sumatriptan (10–20 mg) die breitesten Erfahrungen vor. Ist Sumatriptan ohne Effekt oder zeigt Nebenwirkungen, ist es sinnvoll, andere Triptane einzusetzen. So kommen nasales Zolmitriptan (5 mg), Rizatriptan sublingual (5–10 mg) oder Almotriptan (6,25–12,5 mg) in Frage, wobei der Einsatz z. T. off-label ist. Auch eine Kombination von Analgetikum und Triptan kann sinnvoll sein. Analgetika und Triptane sollen an nicht mehr als 10 Tagen im Monat eingenommen werden, da sonst die Gefahr analgetikainduzierter Kopfschmerzen steigt. Antiemetika sind nur bei massiver abdominaler Symptomatik notwendig. Die konsequente Behandlung der Migräneattacken verbessert nicht nur die Lebensqualität; sie begünstigt auch die Prognose der Erkrankung.
Prophylaxe
Ebenso wichtig wie die Therapie der Attacken ist deren Vorbeugung. An erster Stelle steht die Entlastung von durch die Kopfschmerzen verursachten Ängsten sowie verhaltensmedizinische Maßnahmen, wie regelmäßiger Schlaf, Ausgleichssport und Stressmodifikation auch durch den Einsatz von Techniken zur Entspannung und Körperwahrnehmung (progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, autogenes Training, Yoga, Chi Gong etc.). Biofeedback verschiedener Modalitäten ist wirksam, allerdings selten verfügbar. Multikomponentenprogramme mit informativ-edukativen, verhaltenstherapeutischen und/oder hypnotherapeutischen Elementen haben als wichtiges Ziel, die Autonomie und die Selbstwahrnehmung des Kopfschmerzpatienten zu stärken und Strategien der Schmerzabwehr oder der Salutogenese zu entwickeln.
Die Indikation zur medikamentösen Migräneprophylaxe (Tab. 2) muss individuell gestellt werden. Sie ist bei Kindern und Jugendlichen nur selten gegeben. Hochdosiertes Magnesium kann jedoch frühzeitig eingesetzt werden. Betablocker sind im Kindesalter klinisch gut etabliert. Auch das die Schmerzverarbeitung modifizierende trizyklische Antidepressivum Amitriptylin ist bewährt. Gute Daten liegen für den Kalziumantagonisten Flunarizin und das Antikonvulsivum Topiramat vor, die jedoch beide wegen ihrer Nebenwirkungen zurückhaltend eingesetzt werden. Bei Erwachsenen wird auch Valproat eingesetzt, dies sollte aber bei Kindenr und Jugendlichen zur Migräneprophylaxe vermieden werden. Pestwurzextrakt kann nur noch über die internationale Apotheke bezogen werden.
Tab. 2
Medikamentöse Migräneprophylaxe
Medikamentengruppe
Substanz
Tagesdosis
Nebenwirkungen
Betablocker
Propranolol
1–2 mg/kg KG abends
Müdigkeit, Bronchospasmus, Bradykardie
Metoprolol
Magnesium
150–300–600 mg
Durchfall
Trizyklische Antidepressiva
Amitriptylin
0,5–2 mg/kg KG
Müdigkeit, Mundtrockenheit, Hypotonie, Tachykardie
Kalziumkanalblocker
Flunarizin
5–10 mg abends (initial jeden 2. Tag)
Gewichtszunahme, Müdigkeit
Nichtsteroidale Antirheumatika
Acetylsalicylsäure
2–3 mg/kg KG abends
Magenschmerzen, Thrombozytenfunktionsstörung
Phytotherapeutikum
Petasites (Pestwurzextrakt)
2-mal 2 Kapseln
Aufstoßen, Übelkeit, Hepatopathie
Antikonvulsiva
Topiramat
1–2 mg/kg KG
Müdigkeit, Gewichtsverlust, Denkstörungen
Weitere Erläuterungen zur Medikamentenauswahl im Text
Aufgrund der zentralen Rolle des Neuropeptids CGRP in der Pathophysiologie der Migräne wurden Antikörper gegen CGRP bzw. gegen CGRP-Rezeptoren entwickelt, die bei Erwachsenen migräneprophylaktisch wirksam sind. Ihre Rolle bei Kindern und Jugendlichen ist noch unklar.
Entscheidet man sich für eine medikamentöse Prophylaxe, sollte diese einschleichend begonnen werden. Nach ca. 8–12 Wochen sollte der Effekt überprüft werden und nach einem halben Jahr macht ein Absetzversuch Sinn.

Kopfschmerz vom Spannungstyp

Der Kopfschmerz vom Spannungstyp ist von leichter bis mittelstarker Intensität und beeinträchtigt das Allgemeinbefinden deutlich geringer als eine Migräne. Er wird meist als drückend beschrieben und ist frontal oder holozephal lokalisiert. Die begonnene Aktivität kann meist fortgeführt werden, und Ablenkung kann oft eine Besserung der Symptomatik herbeiführen. Man unterscheidet eine sporadische (<12-mal/Jahr), eine häufige (1–14 Tage/Monat) und eine chronische (15 Tage/Monat) Form des Kopfschmerzes vom Spannungstyp. Zur Diagnosestellung genügen in der Regel Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung. Dabei ist es im Kindergarten- und Grundschulalter oft schwierig, zwischen Migräne und episodischen Kopfschmerzen vom Spannungstyp zu unterscheiden. Falls ausnahmsweise eine Akutmedikation notwendig ist, ist Ibuprofen Mittel 1. Wahl. Triptane sind nicht hilfreich. Bei der Prophylaxe stehen verhaltensmedizinische Maßnahmen im Vordergrund.
Chronische tägliche Kopfschmerzen sind solche, die für länger als 3 Monate an mindestens 15 Tagen pro Monat mit einer Dauer von mindestens 4 Stunden am Tag auftreten. Oft findet sich eine Kombination von gelegentlichen Migräneattacken und häufigeren Kopfschmerzen vom Spannungstyp. Beim neu aufgetretenen täglichen Kopfschmerz kann der Betroffene Tag und Stunde des Beginns angeben. Die Grenze zu somatoformen Kopfschmerzen ist oft fließend (Kap. „Dissoziative und somatoforme Störungen bei Kindern und Jugendlichen“). Neben verhaltensmedizinischen Maßnahmen kann bei chronischen Kopfschmerzen der Einsatz von Amitriptylin sinnvoll sein, welches wie bei der Migräneprophylaxe (Abschn. 3) anzuwenden ist.

Weitere primäre Kopfschmerzen

Idiopathischer stechender Kopfschmerz

Nicht ungewöhnlich bei Kindern und Jugendlichen ist der idiopathische stechende Kopfschmerz, auch Eispickelkopfschmerz genannt, mit einzeln oder in Serien auftretenden, nur wenige Sekunden dauernden, eng umschriebenen heftig stechenden Kopfschmerzen. In der Regel wechseln die Schmerzen die Lokalisation, anderenfalls ist eine MRT zu erwägen. Falls notwendig, ist eine prophylaktische Therapie mit Indometacin möglich.

Trigeminoautonome Kopfschmerzen

Viel seltener finden sich im Kindes- und Jugendalter trigeminoautonome Kopfschmerzen. Diese sind durch Begleitsymptome, wie z. B. Miosis, Ptosis, Lidödem, konjunktivale Rötung, Tränen, nasale Kongestion, Rhinorrhö oder Schwitzen oder Flush an der Stirn oder Druckgefühl im Ohr gekennzeichnet, die auf derselben Seite wie die Kopfschmerzen auftreten. Beim Cluster-Kopfschmerz sind die meist männlichen Patienten oft extrem unruhig. Häufiger als der Cluster-Kopfschmerz scheint bei Kindern und Jugendlichen die paroxysmale Hemikranie aufzutreten, bei welcher die Attackendauer kürzer ist (2–30 min vs. 15–180 min). Während bei der paroxymalen Hemikranie Indometacin wirksam ist, werden zur Therapie des Cluster-Kopfschmerzes akut eine Inhalation von 100 % O2 (7–10 l/min, 15 min), Sumatriptan oder Lidocain 4 % Tropfen intranasal sowie prophylaktisch Kortikoide, Verapamil oder Lithium eingesetzt.
Weiterführende Literatur
Abu-Arafeh I (Hrsg) (2013) Childhood headache, 2. Aufl. Mac Keith Press, London
Bonfert M, Landgraf MN, Ebinger F, Heinen F (2016) Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter. In: Gaul C, Diener HC (Hrsg) Kopfschmerzen: Pathophysiologie – Klinik – Diagnostik – Therapie. Thieme, Stuttgart, S 197–212
Denecke H, Kröner-Herwig B (2000) Kopfschmerz-Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Ein Trainingsprogramm. Hogrefe, Göttingen
Ebinger F (2011) Kopfschmerzen. In: Ebinger F (Hrsg) Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen. Ursachen, Diagnostik und Therapie. Thieme, Stuttgart, S 116–129
Ebinger F (2017) Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen. In: Der Kinderschmerz. ecomed MEDIZIN, Landsberg am Lech, S 114–144
Ebinger F (2019) Kopfschmerzen. In: Korinthenberg R, Panteliadis CP, Hagel C (Hrsg) Neuropädiatrie – Evidenzbasierte Therapie, 3. Aufl. Elsevier, München. (im Druck)
Ebinger F, Kropp P, Pothmann R et al (2009) Therapie idiopathischer Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter. Monatsschr Kinderheilkd 157:599–610CrossRef
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Hershey AD, Powers SW, Winner P, Kabbouche MA (Hrsg) (2009) Pediatric headaches in clinical practice. Wiley-Blackwell, Chichester
International Headache Society. https://​www.​ichd-3.​org/​; in deutscher Übersetzung: http://​213.​214.​3.​10/​files/​dmkg.​de/​Aerzte/​ICHD-3-Deutsche-Übersetzung-German-Translation-2018-1.​pdf.​ Zugegriffen am 22.08.2019
Seemann H (2016) Kopfschmerzkinder: Was Eltern, Lehrer und Therapeuten tun können, 2. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart