Pädiatrie
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Verfasst von:
Rudolf Reich
Publiziert am: 11.03.2019

Krankheiten des Kiefergelenks bei Kindern und Jugendlichen

Erhebliche Funktionsstörungen und Erkrankungen während der Wachstumsphase können zu einer Wachtumsverminderung des Unterkiefers auf der betroffenen Seite und konsekutiv zu Bissstörungen und Gesichtskoliose führen, die oft erst im Laufe der Zeit auffällig wird. Prinzipiell wird versucht, eine operative Therapie wegen hoher Komplikationsdichte im Kindesalter in die Zeit nach der Wachstumsphase zu verschieben. Bei einer im späten Kindesalter einsetzenden Überschussbildung durch kondyläre Hyperplasie kann auch im späten Kindesalter eingegriffen werden. Schmerzhafte oder geräuschverursachende Diskusverlagerungen kommen in der Adoleszenz insbesondere im Zusammenhang mit mangelnder Stressverarbeitung als meist vorübergehendes Phänomen vor. Sie bedürfen neben einer abwartenden Haltung evtl. einer zahnärztlichen Therapie mit einer Aufbissschiene.

Einleitung

Krankheiten des Kiefergelenks sind bei Kindern extrem selten. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass das Kiefergelenk erst etwa im 14. Lebensjahr die Form erreicht hat, in der es beim Erwachsenen vorhanden ist.

Kondylus-Aplasie und -Hypoplasie des Kiefergelenks

Ein fehlender oder minderentwickelter Gelenkfortsatz kommt als Fehlbildung, unter Umständen syndromal, oder als Folge eines frühkindlichen Traumas (z. B. Druckschädigung bei Geburtstrauma) oder einer Entzündung, meist fortgeleitet von einer Otitis media, oder bei der juvenilen Arthritis, vor. Da sich im Kapitulum ein wichtiges Wachstumszentrum für die gesamte betreffende Unterkieferhälfte befindet, können sich daraus schwerwiegende Wachstumsstörungen der Kiefer mit Okklusionsstörungen und Asymmetrien des Gesichtsschädels ergeben.
Gelegentlich sind die Veränderungen mit einer Ankylose des Kiefergelenks vergesellschaftet.
Therapie
Bei ausreichender Mundöffnung und Funktion wird, sobald das Kind verständig genug ist, eine kieferorthopädische Therapie eingeleitet, um Bissveränderungen abzumildern. In ausgeprägten Fällen bereitet diese Therapie in der Adoleszenz die endgültige operative Behandlung durch Umstellungsosteotomie der Kiefer und einen evtl. notwendigen Ersatz des Gelenkfortsatzes zur Abstützung des Unterkiefers an der Schädelbasis nach Abschluss der Wachstumsphase vor.
Liegt gleichzeitig eine ausgeprägte Gelenkversteifung mit extremer Kieferklemme vor, muss gelegentlich noch in der Wachstumsphase eine Ankyloseoperation vorgeschaltet werden. Solche frühen Gelenkeingriffe sind durch eine hohe Komplikationsdichte durch ektope Knochenbildung und damit einer Reankylose und der bei Kindern eingeschränkten Motivationsfähigkeit zur postoperativen Übungsbehandlung der Mundöffnung belastet. Sie bedürfen genauer Vorbereitung, Planung und einer speziellen Operationstechnik. Unter Umständen wird eine sagittale Verlängerung des Unterkiefers zur Verbesserung der Mechanik bei der Mundöffnung vorgeschaltet.

Diskusverlagerung

Epidemiologie und klinische Symptome
Bei Jugendlichen kommen gelegentlich schmerzhafte Zustände im Kiefergelenkbereich vor, die auf eine vorübergehende Diskusverlagerung zurückzuführen sind. In der Regel sind diese durch muskuläre Hyperaktivität während der Nacht (nächtliches Zähneknirschen oder -pressen) bedingt. Nicht selten sind solche Fehlfunktionen im Kindes- und Jugendlichenalter an psychische Belastungen oder (unter Umständen auch hormonell bedingte) Entwicklungsphasen gekoppelt.
Therapie
Therapeutisch kommt in diesen Fällen am ehesten die Anwendung von Wärme auf den Kiefergelenkbereich und die Anfertigung einer Aufbissschiene durch den Zahnarzt in Frage. Generell ist auch an eine Optimierung der Stressbewältigung zu denken, da derartige Symptome gerade in hormonellen Umbruchphasen auch durch eine Hyperaktivität der Kaumuskulatur bedingt sein können.

Kondyläre Hyperplasie des Unterkiefers

Definition und Ätiologie
Bei dieser seltenen Krankheit kommt es ohne erkennbare Ursache durch die spontane, überschießende Aktivität des Hauptwachstumszentrums für den Unterkiefer im oberen Kondylusbereich zu einem langsamen, einseitigen Wachstumsexzess des Unterkiefers über Jahre.
Klinische Symptome
Klinisch auffällig ist dabei eine Vergröberung der Unterkieferstrukturen mit Kinnabweichung nach der Gegenseite oder einem offenen Biss.
Die überschießende Wachstumsaktivität beginnt meist in der frühen Adoleszenz und führt dann über Jahre zu Verformungen des Unterkiefers, die mit Bissstörungen einhergehen. Das Wachstum sistiert unabsehbar nach 5–25 Jahren.
Diagnose
Röntgenologisch fällt eine Formabweichung des betroffenen Unterkiefergelenkkopfes und im Verlauf eine Verformung der betroffenen Unterkieferhälfte auf. In der aktiven Phase der kondylären Hyperplasie zeigt die Knochenszintigrafie eine deutlich erhöhte Umbauaktivität im betroffenen Kondylus gegenüber der Gegenseite.
Therapie
In der aktiven Phase kann das pathologische Wachstum durch isolierte Abtragung der obersten Schicht des Kondylus (hohe Kondylektomie) dauerhaft zum Stillstand gebracht werden. Für die Wiederherstellung der Okklusion und der Ästhetik sind danach oft kieferorthopädisch-chirurgische Maßnahmen im frühen Erwachsenenalter nötig.
Weiterführende Literatur
Hall RK (1994) Pediatric orofacial medicine and pathology. Chapman & Hall, London
Reich RH, Lindern JJ (2007) Funktionelle Kiefergelenkchirurgie. In: Horch HH (Hrsg) Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, 4. Aufl. Urban & Fischer, München, S 183–198
Schroeder HE (1997) Pathobiologie oraler Strukturen, 3. Aufl. Karger, Basel