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Pädiatrie
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Publiziert am: 02.04.2019

Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern

Verfasst von: Bernd Herrmann, Ingo Franke und Meinolf Noeker
Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige, bewusste oder unbewusste, meist wiederholte, gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung von Kindern und Jugendlichen durch Handlungen oder Unterlassungen. Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann verschiedene Formen annehmen: körperliche, sexuelle und seelische Gewalt, körperliche und seelische Vernachlässigung. Es lassen sich aktive und passive Formen unterscheiden, wobei häufig verschiedene Formen koexistieren.
Definitionen
Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige, bewusste oder unbewusste, meist wiederholte, gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung von Kindern und Jugendlichen durch Handlungen oder Unterlassungen. Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann verschiedene Formen annehmen: körperliche, sexuelle und seelische Gewalt, körperliche und seelische Vernachlässigung. Es lassen sich aktive und passive Formen unterscheiden, wobei häufig verschiedene Formen koexistieren.
Kindesmisshandlung beschreibt eine schwerwiegende Beziehungsstörung, die sich meist in Familien und seltener in Institutionen abspielt. Neben den körperlichen, behandelbaren und häufig abheilenden Verletzungsfolgen und Folgen einer behebbaren Mangelversorgung weisen misshandelte Kinder häufig schwerwiegende psychische, emotionale, kognitive und verhaltensbezogene Störungen auf. Diese Störungen sind mit erheblichem seelischem Leiden, Kränkungen, belasteten Lebensläufen und Störungen der Beziehungsfähigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe verbunden. Hinsichtlich der psychischen Gesundheit sind sie mit einer ungünstigen Prognose verknüpft, auch die Rate chronischer somatischer Erkrankungen im Erwachsenenalter ist signifikant erhöht. Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ist daher ein epidemiologisch und gesellschaftlich bedeutsames Thema und zudem mit hohen gesellschaftlichen und ökonomischen Folgekosten behaftet.
Körperliche Misshandlung
Eine körperliche Misshandlung liegt vor, wenn Kindern durch körperliche Gewaltanwendung ernsthafte vorübergehende oder bleibende Verletzungen zugefügt werden. Diese führen u. a. durch Entwürdigung, Bedrohung und Vertrauensverlust in der Regel auch zu seelischen Schäden. Entgegen dem im BGB § 1631 verbrieften Recht auf gewaltfreie Erziehung ist gewalttätiges Verhalten der Sorgeberechtigten bisweilen ein Grundelement der Erziehung. Im strafrechtlichen Sinne misshandelt derjenige Kinder, der sie „…quält oder roh misshandelt oder wer durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt…“ (§ 223b, StGB). Mit dieser engen Definition wird allerdings nur ein kleiner Teil der Fälle von Kindesmisshandlung erfasst.
Sexueller Missbrauch
Sexueller Missbrauch bedeutet, Kinder und Jugendliche, meist chronisch, in sexuelle Handlungen einzubeziehen. Dabei werden in einem bedeutsamen Machtgefälle Abhängigkeit, Bindung, Unwissenheit und Unterlegenheit zur Befriedigung der Bedürfnisse des Misshandelnden ausgenutzt. Die Handlungen unterliegen meist einem starken Gebot der Geheimhaltung.
Vernachlässigung
Vernachlässigung ist eine ausgeprägte, wiederholte oder andauernde Beeinträchtigung und Schädigung der Gesundheit und Entwicklung durch die zur Sorge verpflichteten Personen.
Sie umfasst als körperliche Vernachlässigung unzureichende Fürsorge bezüglich körperlicher Bedürfnisse und Gesundheit, Ernährung und anderer physischer Grundbedürfnisse sowie unzureichende Beaufsichtigung und Schutz vor Gefahren.
Emotionale oder seelische Vernachlässigung bedeutet Vorenthaltung von Zuwendung, Wärme, Liebe, Respekt und Geborgenheit. Dazu zählen auch fehlende Kommunikation, Interaktion und Verlässlichkeit in der Bindung sowie mangelnde Anregung, Förderung und Erziehung. Die Unterlassung fürsorglichen Handelns kann aktiv oder passiv sein, aufgrund unzureichender Einsicht oder unzureichenden Wissens und ist Ausdruck einer stark beeinträchtigten Beziehung zwischen Eltern und Kind.
Emotionale Misshandlung
Emotionale oder seelische Misshandlung bedeutet eine feindliche, abweisende, entwürdigende oder ignorierende Haltung oder entsprechendes Verhalten gegenüber einem Kind oder Jugendlichen als fester Bestandteil der Interaktion oder Erziehung. Bei nahezu jeder Form von körperlicher oder sexueller Misshandlung oder schwerer Vernachlässigung liegt auch eine seelische Misshandlung vor.
Epidemiologie
Die Prävalenz für Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen liegt zumindest im einstelligen, wahrscheinlich sogar eher im zweistelligen Prozentbereich. Das amerikanische Pflichtmeldesystem mit 2,5–3 Mio. Meldungen und knapp 1 Mio. bestätigten Fällen jährlich beschreibt einen Anteil von etwa 70 % Vernachlässigungen, 20 % körperlichen und 10 % sexuellen Misshandlungen. Für Deutschland liegen kaum valide Daten vor. Die vorliegenden Prävalenzstudien zeigen jedoch ein hohes Maß an internationaler Übereinstimmung. In den USA liegt die Inzidenz, die auf angezeigten und bestätigten Fällen beruht, bei 1–2 %. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Dunkelziffer weit höher anzunehmen ist. Die Prävalenzraten für sexuellen Kindesmissbrauch liegen zwischen 10–15 % bei Mädchen und 5–10 % bei Jungen. Für Kinder unter 4 Jahren besteht das höchste Risiko für tödliche Misshandlungen. Von den 1500–2000 gesicherten misshandlungsbedingten Todesfällen pro Jahr in den USA sind mehr auf Vernachlässigung als auf aktive Misshandlung zurückzuführen. Davon betreffen 76 % Kinder unter 4 Jahren, 41 % Kinder unter 1 Jahr. Etwa 50–60 % der Todesfälle aufgrund von Misshandlung oder Vernachlässigung werden in den offiziellen Statistiken vermutlich nicht erfasst.
Geschichte
Gewalt gegen Kinder zu verpönen, ist historisch relativ neu. Kindesmisshandlung existierte früher ebenso wenig als Begriff oder Konzept wie „Kindheit“ an sich. Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, umso geringer waren der Stellenwert und die Rechte von Kindern. In den antiken Hochkulturen war Infantizid nicht erwünschter oder behinderter Kinder üblich, vielfach wurden Kinder aus religiösen Gründen geopfert. Kinder für sexuelle Zwecke zu „nutzen“ war legitim und idealisiert. Kinder galten lange Zeit als „kleine Erwachsene“ und mussten unter oft unsäglichen Arbeitsbedingungen zum Familieneinkommen beitragen. Das Phänomen der Gewalt an Kindern wurde erstmals 1874 durch den Fall der Mary Ellen in New York in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Im Jahre 1875 wurde dort die weltweit 1. Kinderschutzvereinigung gegründet.
Die erste detaillierte medizinische Beschreibung der Symptome und Befunde nach sexueller und körperlicher Misshandlung erfolgte 1857 durch Ambroise Tardieu; 1961 beschrieb der deutschstämmige Pädiater C. Henry Kempe das Battered-child-Syndrom und wurde zum Pionier und Begründer des modernen medizinischen, bereits multiprofessionellen Kinderschutzes. Im Jahre 1968 erschien das gleichnamige erste medizinische Lehrbuch; 1971 und 1972 erfolgte die Beschreibung des Shaken-Baby-Syndroms durch Guthkelch und Caffey, 1977 des Münchhausen-Syndroms-by-Proxy durch Meadow.
Rolle der Ärzte im Kinderschutz
Die WHO sieht Fachleute des Gesundheitswesens besonders in der Pflicht, Misshandlungen zu diagnostizieren und Schutz und Therapie durch multiprofessionelle Kooperation zu sichern. Dennoch ist auch für Mitarbeiter des Gesundheitswesens die Konfrontation mit Gewalt an Kindern und Jugendlichen ein belastendes und oft mit Unsicherheiten behaftetes Thema. Nicht selten empfinden sie ihre Rolle als Gratwanderung zwischen einer Unter- und Überdiagnose. Professionelles Handeln bedeutet eine hohe Verantwortung und erfordert spezifische Kenntnisse. Die Kardinalfrage besteht in der fachlichen Abwägung, ob eine vorgefundene Verletzung mit dem angegebenen oder gar fehlenden Entstehungsmechanismus vereinbar ist. Weitere Fragen werfen die Genese einer Gedeihstörung durch Vernachlässigung oder einer auffälligen psychosozialen Entwicklung durch emotionale Misshandlung oder Vernachlässigung auf.
Im Säuglings- und Kleinkindalter sind Kinder- und Jugendärzte oft die einzigen Fachleute, die regelmäßig Kinder dieser Altersgruppe auf professioneller Basis sehen. Im niedergelassenen Bereich kann bei gestörten Eltern-Kind-Beziehungen und Entwicklungsstörungen der Verdacht auf Gewalt oder Vernachlässigung entstehen. In der Klinik sollten bei konkreten Verdachtsfällen eine gezielte und rationale Diagnostik und der Ausschluss von Differenzialdiagnosen erfolgen. Dies erfordert die Zusammenarbeit verschiedener ärztlicher und nichtärztlicher Berufsgruppen, am sinnvollsten in sog. Kinderschutzgruppen. Obligatorisch sind dabei die Kenntnis von Interventionsmöglichkeiten und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die Bereitschaft zur multiprofessionellen Kooperation. Kinder- und Jugendärzte können insbesondere bei der Diagnose einer körperlichen Kindesmisshandlung eine Schlüsselfunktion einnehmen. Mittlerweile hat sich der Kinderschutz in der Medizin zu einer differenzierten und multiprofessionellen Subdisziplin entwickelt, die Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) hat ein entsprechendes Kurrikulum und ein Zertifikat Kinderschutzmedizin entwickelt (www.dgkim.de). Eine AWMF S3+ Leitlinie Kinderschutz mit Beteiligung von über 70 Fachgesellschaften wurde ebenfalls über die DGKiM erarbeitet und Anfang 2019 veröffentlicht (www.awmf.org). Sie trägt dem gestiegenen Bedürfnis nach mehr Evidenz im medizinischen Kinderschutz Rechnung.

Körperliche Misshandlung

Anamnese
Bei körperlicher Misshandlung ist es entscheidend, die Plausibilität vorliegender Verletzungen durch die dazu angegebene Anamnese zu überprüfen. Nicht plausible, über die Zeit oder verschiedene Bezugspersonen wechselnde, völlig fehlende, vage oder für Alter und Entwicklungsstand unpassende und die Art der Verletzung nicht erklärende Anamnesen sind verdächtig. Weitere mögliche Hinweise sind zufällig entdeckte, zusätzliche Verletzungen, Arztbesuche mit deutlicher Verzögerung bei bedeutsamen Verletzungen und das Aufsuchen verschiedener Ärzte oder Kliniken. Die Verletzungsumstände sind genau zu prüfen. Dies beinhaltet vorausgehende Ereignisse, Anwesende, Aufsicht, etwaige Beobachter und die Reaktion der Eltern auf die Verletzung. In der Eigenanamnese ist auf die medizinische Vorgeschichte einschließlich einer strukturierten Gerinnungsanamnese, Entwicklung des Kindes sowie auf etwaige Risikofaktoren (z. B. Schreiproblematik) einzugehen. Die Sozial- und Familienanamnese sollte soziale Stressoren, vorhergehende Jugendamtskontakte, Belastungen der Partnerschaftsbeziehung oder der innerfamiliären Interaktion, das Erziehungsverhalten und Hinweise auf häusliche Gewalt umfassen.
Klinische Untersuchung
Diese sollte ausführlich und genau Befunde beschreiben und dokumentieren: Lokalisation, Art, Größe und Ausmaß, Gruppierung, Formung, Farbe, Ausmessen aller Verletzungen, Anfertigen einer Skizze mit Maßen; zusätzlich immer fotografische Dokumentation von Übersichtsaufnahmen als auch der Details mit Maßstab. Zweckmäßig ist es hierzu ein Winkellineal ABFO No.2 des American Board of Forensic Odontologists zu benutzen (Bezug: www.krimtech.de/scales.htm; Abb. 3 und 5). Ein vollständiger körperlicher, neurologischer und anogenitaler Status am komplett entkleideten Kind und das Erheben der Wachstumsparameter ist obligat, zusätzlich das Überprüfen des Perzentilenverlaufes im Vorsorgeheft.
Diagnose
In begründeten Verdachtsfällen bei Kindern unter 2 Jahren ist eine Fundoskopie in Mydriasis durch einen Ophthalmologen obligat. Entsprechend der neuen AWMF-Kinderschutzleitlinie wird unter 2-3 Jahren neuerdings ein abgestuftes Röntgenskelettscreening empfohlen, das im Gegensatz zu internationalen Leitlinien die Wirbelsäule und das Becken zur Reduktion der Strahlendosis ohne signifikanten diagnostischen Verlust initial ausspart (für Details siehe Kinderschutzleitlinienbüro 2019, S. 249). Ein limitiertes Wiederholungsscreening nach 14 Tagen erhöht deutlich die Anzahl nachgewiesener Frakturen. Ein Babygramm ist kontraindiziert. Eine Skelettszintigrafie darf nur ergänzend und nie als primäre und einzige Bildgebung durchgeführt werden. Eine zerebrale Bildgebung ist bei neurologischen Auffälligkeiten, Kopfverletzungen und retinalen Blutungen akut meist als kraniale Computertomografie (CCT) praktikabler. Eine Magnetresonanztomografie (MRT) folgt dann obligat sobald verfügbar bzw. wenn das Kind stabil ist; meist nach etwa 2–3 Tagen und als Verlaufskontrolle nach 2–3 Monaten. Die Aussagekraft der Schädelsonografie mit Standardebenen und transkraniell durch die Parietalschuppe ist stark untersucherabhängig, insgesamt mit Unsicherheiten behaftet und nicht zulässig als alleinige oder gar Ausschlussdiagnostik. Eine zerebrale Dopplersonografie ist bei Verdacht auf erhöhten Hirndruck sinnvoll als Primär- und Verlaufsdiagnostik. Die Abdomensonografie dient dem Screening auf abdominale Verletzungen, bedarfsweise ergänzt durch eine MRT.
Das Basislabor dient dem Screening auf okkulte innere Verletzungen, einem etwaigen Blutverlust und den zu berücksichtigenden Differenzialdiagnosen: Blutbild und Differenzialblutbild, Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (GOT), Glutamat-Pyruvat-Transaminase (GPT), γ-Glutamyl-Tranferase (γ-GT), Amylase, Lipase, alkalische Phosphatase (AP), Kalzium, Phosphor, Kreatinkinase-Myokardtyp (CK-MB), Troponin, Kreatinkinase-Gehirntyp (CK-BB), Quick-Wert, partielle Thromboplastinzeit (PTT); Von-Willebrand-Faktor-Antigen und -Kofaktor, Faktor XIII, Blutungszeit in vitro (PFA-100); Urinstatus (Hämaturie) und Drogen- und Medikamentenscreening im Urin.
Klinische Symptome
Hautbefunde und Verbrennungen:
Hautbefunde
Die Haut ist in nahezu 90 % der Misshandlungen betroffen. Für die Beurteilung sind die Lokalisation, das Verteilungsmuster und Ausprägung, das Ausmaß, die Formung und das Alter des Kindes von Bedeutung. Eine zeitliche Zuordnung anhand des Farbverlaufes der Hämatomresorption ist dagegen ohne verlässliche Datenbasis. Unterschiedlich gefärbte Hämatome können gleichzeitig entstanden sein, eine bestimmte Abfolge von Farbverläufen ist nicht obligat. Lediglich für gelbe Hämatome ist gesichert, dass sie nie früher als nach 18–24 Stunden auftreten. Anzahl und Auftreten gesichert akzidenteller Hämatome nehmen mit steigendem Alter und wachsender Mobilität zu. Bei prämobilen Säuglingen werden sie nur in etwa 0,6 % gefunden. Vorrangig hinweisend ist die Lokalisation und Verteilung der Hämatome, die akzidentell im Lauflernalter an typischen Körperteilen („leading edges“) gefunden werden, häufig an den Schienbeinen, den Knien, am Hinterkopf oder dem sog. fazialen T. Dagegen sind Hämatome an untypischen und bei akzidentellen Stürzen nur selten betroffenen Lokalisationen verdächtig auf eine gewaltsame Zufügung (Abb. 1). Einen starken prädiktiven Charakter haben Hämatome am Stamm, Hals und den Ohren. Misshandlungsbedingte Hämatome sind zudem signifikant größer und treten oft multipel bzw. gruppiert in Clustern auf. Jegliches nichterklärte Hämatom bei einem prämobilen Säugling ist hochverdächtig. Nahezu ausschließlich bei misshandelten Kindern finden sich geformte Hämatome durch den Abdruck von Gegenständen, Händen (Abb. 2). oder Würgemalen, diese treten signifikant häufiger in petechialer Ausprägung auf. Einer besonderen Beachtung bedürfen menschliche Bissmarken (Abb. 3), die anhand des ovalären und gequetschten Charakters gut von Tierbissen differenzierbar sind. Erwachsene haben regelhaft einen Abstand der Eckzähne von mehr als 3 cm. Hämatome bei behinderten Kindern weisen je nach Grad der Mobilität und involvierter Hilfsmittel sowohl akzidentell als auch bei Misshandlungen eine deutlich unterschiedliche Charakteristik auf und dürfen nicht nach den oben genannten Kriterien beurteilt werden.
Verbrennungen
Eine nichtakzidentelle Genese wird bei etwa 10 % kindlicher Verbrennungen angenommen. Die Mortalität beträgt dabei nahezu 30 %, bei Unfällen hingegen lediglich 2 %. Hauptsächlich werden Verbrühungen durch heißes Wasser und seltener Kontaktverbrennungen gefunden. Hinweisend sind das Verbrennungsmuster und die Lokalisation. Unfallbedingte Verbrennungen zeigen meist ein sehr inhomogenes Spritz- und Tropfmuster, mit multiformen und irregulär geformten Verletzungen, die sich häufig im Kopf-, Hals-, Schulter- oder Thoraxbereich finden. Misshandlungsbedingte Verbrühungen, oft durch Eintauchen in heiße Flüssigkeiten (Immersionsverbrennungen, Abb. 4), zeigen dagegen zumeist ein gleichmäßiges, scharf begrenztes, handschuh- oder strumpfartiges Muster uniformer Verbrennungstiefe an Händen oder Füßen oder im Anogenitalbereich. Durch forcierten Kontakt mit dem kühleren Wannenboden oder durch angewinkelte Extremitäten können Aussparungen der Verbrühung entstehen. Eine Checkliste zur Differenzierung der Misshandlungswahrscheinlichkeit von Verbrühungen beruht auf hoher Evidenz aus systematischen Reviews (Abschn. 6, Royal College of Paediatrics and Child Health 2017). Geformte, insbesondere geometrische Muster durch trockene Kontaktverbrennungen, die unter Umständen den betreffenden Gegenstand abbilden, sind hochverdächtig auf eine zugrunde liegende Misshandlung. Zigarettenverbrennungen führen zu etwa 8–10 mm breiten, tief ausgestanzten Verbrennungen bzw. Narben (Abb. 5).
Differenzialdiagnosen
Als Differenzialdiagnosen für Hautbefunde sind akzidentelle Hämatome, Gerinnungsstörungen, kongenitale Hautveränderungen, Kontaktdermatitis, Haar-Tourniquet-Syndrom, Volksheilverfahren, bullöse Medikamentenexantheme, Impetigo contagiosa und andere dermatologische Krankheitsbilder abzugrenzen.
Frakturen
Etwa 8–12 % aller Frakturen bei Kindern und jede 2.–3. Fraktur bei Kindern unter 1 Jahr (35 %–55 %) werden auf Misshandlungen zurückgeführt. Von diesen sind 40–50 % klinisch unerwartet, d. h. Zufallsbefunde. 80 % der Misshandlungsfrakturen werden unter 18 Monaten gefunden, aber nur 2 % gesicherter akzidenteller Frakturen. Letztere finden sich in 85 % bei über 5 Jahre alten Kindern. Bei Unfällen kommt es in 84 % zu einer singulären Fraktur und in 15 % zu 2 Frakturen, bei Misshandlungen dagegen in 55 % zu 3 oder mehr Frakturen. Somit wächst die Misshandlungswahrscheinlichkeit mit der Anzahl der Frakturen und mit sinkendem Alter, insbesondere unter 4 Monaten. Bei Frakturen muss die Kompatibilität des Frakturtyps mit der Anamnese und deren Qualität und Vollständigkeit ebenso geprüft werden wie die Vereinbarkeit mit dem individuellen motorischen Entwicklungsstand und das Verhalten der Bezugsperson nach der Verletzung, u. a. der Zeitpunkt der Vorstellung zur medizinischen Versorgung.
Unter Berücksichtigung oben genannter Kriterien ergeben sich unterschiedliche Spezifitäten. So werden Rippenfrakturen im 1. Lebensjahr zu 70–95 % auf Misshandlung zurückgeführt. Metaphysäre, Skapula- und Sternumfrakturen sind ebenfalls hochverdächtig. Bilaterale und multiple Frakturen, Frakturen unterschiedlichen Alters, Wirbelkörper-, Hand-, Fuß- und komplexe, diastatische und nähtekreuzende Schädelfrakturen bei geringer Sturzhöhe haben eine mittlere Spezifität. Statistisch häufiger gefunden, aber von geringerer Spezifität sind diaphysäre Frakturen. Spiralfrakturen sind nicht, wie oft vermutet, spezifisch für eine Misshandlung.
Neben spezifischen akzidentellen Mechanismen wie Femur- und Tibiafrakturen im Lauflernalter (letztere die sog. Toddler’s Fracture) ist eine Reihe von infektiösen, neoplastischen und kongenitalen Knochenerkrankungen differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen. Die oft zitierte, aber seltene Osteogenesis imperfecta lässt sich in der überwiegenden Zahl der Fälle anamnestisch, klinisch, radiologisch gut differenzieren und erfordert nur selten eine molekulargenetische Untersuchung.
Kopfverletzungen und Schütteltrauma-Syndrom
Nichtakzidentelle Verletzungen des ZNS sind die häufigste misshandlungsbedingte Todesursache (75 %) und haben die gravierendsten Auswirkungen bezüglich der Morbidität überlebender Kinder. Ein Großteil findet sich im 1. Lebensjahr. Subdurale Hämatome sind im Gegensatz zu epiduralen verdächtiger auf eine nichtakzidentelle Genese. Das Schütteltrauma-Syndrom (STS) ist definiert als Koinzidenz subduraler Hämatome und retinaler Blutungen mit schweren und prognostisch ungünstigen, diffusen Hirnschäden durch heftiges und gewaltsames Schütteln eines zumeist an den Oberarmen oder am Brustkorb gehaltenen Kindes (Abb. 6). Laut American Academy of Pediatrics ist ein Schütteln, das zu signifikanten Schäden führt, von derartiger Schwere, dass auch medizinisch nicht gebildeten Personen die Schädigungswirkung und Lebensbedrohlichkeit offensichtlich ist. Dennoch kann die Symptomatik in weniger ausgeprägten Fällen unspezifisch sein und führt nicht selten zu Fehldiagnosen wie „Irritabilität“, Enteritis, Infekt, Sepsisverdacht oder „apparent life-threatening event“ (ALTE).
Das physiologische „Hauptschreialter“ kleiner Säuglinge überlappt mit dem Hauptinzidenzzeitraum des STS. Pathogenetisch führen die Rotations- und Scherkräfte, die auf das Gehirn einwirken, zu einem Einriss von Brückenvenen und damit subduralen Blutungen und im Bulbus occuli zu den retinalen Blutungen. Beide Befunde sind diagnostisch hinweisend, für das Ausmaß der neurologischen und visuellen Folgen jedoch ohne Belang (Ausnahme: sehr selten auftretende raumfordernde subdurale Hämatome). Der tatsächliche Mechanismus der Hirnschädigung ergibt sich aus den erheblichen Rotations- und Scherkräften, die zu axonalen Schädigungen und einem erheblichen diffusen Hirnparenchymschaden mit einer Vielzahl teils reversibler, teils irreversibler neurologischer Funktionsausfälle führen (Abb. 7). Pathophysiologisch wird in erster Linie eine transiente Hypo- oder Apnoe durch Hyperextension im zervikomedullären Übergang und eine konsekutive hypoxisch-ischämische Enzephalopathie als hauptverantwortlich für akute und chronische Schäden angesehen. Lokale und diffuse neuronale Schäden führen über komplexe neurometabolische Kaskaden zu einem Hirnödem. Verantwortliche Faktoren hierfür sind u. a. Exzitotoxizität, oxidativer Stress, freie Radikale, Apoptose und sekundäre, verzögert einsetzende inflammatorische Reaktionen. Dadurch kommt es akut zu einer variablen neurologischen Symptomatik mit Irritabilität, Somnolenz, Apathie, zerebralen Krampfanfällen, Temperaturregulationsstörung, Apnoe u. a. Die Diagnose wird durch die syndromale Kombination klinischer, anamnestischer und radiologischer Befunde gestellt. Eine Hirnverletzung im Zusammenhang mit Apnoen, retinalen Blutungen, Rippenfrakturen, einer unplausiblen Anamnese oder elterlichen psychosozialen Risiken hat diesbezüglich den höchsten prädiktiven Wert. Über zwei Drittel der Überlebenden erleiden mehr oder weniger schwere neurologische Folgeschäden, deren gesamtes Ausmaß sich oft erst im Lauf von Monaten vollständig zeigt. Einen Säugling zu schütteln stellt ein potenziell lebensgefährliches Ereignis dar.
Retinale Blutungen sind allein nicht spezifisch für ein STS. Allerdings finden sich bei den unten aufgeführten Differenzialdiagnosen so gut wie nie massive intra-, sub- und präretinale Blutungen. Finden sich begleitende Glaskörperblutungen oder eine traumatische Retinoschisis, gelten diese als pathognomonisch für ein STS. Nach dem klinisch meist unproblematischen Ausschluss der Differenzialdiagnosen können auch ausgeprägte retinale Blutungen (auch einseitig!) per se als stark hinweisend gelten. Akzidentelle subdurale Hämatome, geburtstraumatische Blutungen, Gerinnungsstörungen, Enzephalitiden und eine Glutarazidurie Typ I lassen sich in der Regel ebenso gut abgrenzen wie bei retinalen Blutungen, ebenso Leukosen, Kohlenmonoxidvergiftungen oder hypertone Krisen.
Thorax-, Abdomen- und HNO-Befunde
Misshandlungsbedingte Verletzungen des Bauchraums und Brustkorbs sind selten, stellen jedoch mit einer 40- bis 50-prozentigen Letalität die zweithäufigste Todesursache bei Misshandlungen dar. Dabei kommt es meist zu einem stumpfen Bauchtrauma durch Schläge oder Tritte, die zu Organverletzungen durch Stoß, Quetschung gegen die Wirbelsäule, Organeinrissen, Blutungen und Hohlorganrupturen durch plötzliche Druckschwankungen führen. Verletzungen der Hohlorgane, insbesondere intramurale Darmwandhämatome zumeist des Dünndarms (60 % Jejunum, 30 % Duodenum, 10 % Ileum), finden sich nahezu ausschließlich bei Misshandlungen. Die Symptomatik ist oft protrahiert und subtil. Bei den viszeralen Verletzungen sind Leber, Pankreas und Nieren betroffen, nur selten die Milz. Bei thorakalen Verletzungen finden sich gelegentlich Herz- und Lungenkontusionen.
Gesicht, Nacken und HNO-Bereich sind in 65–75 % der Misshandlungen betroffen, dabei häufig das Gesicht und die Augenregion in Form äußerer Hämatome und anderer Verletzungen. Äußere und insbesondere retroaurikuläre Verletzungen der Ohren werden bei Unfällen nahezu nie gefunden. Verletzungen der Mundhöhle als Folge von Fütterfrustration oder direkten Schlägen finden sich als Kontusionen der Lippen oder Gingiva, Lazerationen der Mundschleimhaut oder traumatische Perforationen des Gaumens sowie als Einrisse des labialen oder lingualen Frenulums. Letztere sind weniger spezifisch als früher vermutet. Auch die Zähne können durch direkte Gewalteinwirkung, Gegenstände oder Stürze auf Gegenstände nach Schlägen betroffen sein und Frakturen, Dislokationen oder Ausrisse aufweisen.

Münchhausen-Syndrom-by-Proxy

Hierbei handelt es sich um eine seltene, vermutlich unterdiagnostizierte und schwerwiegende Sonderform der Kindesmisshandlung. Vorwiegend Mütter mit schweren Persönlichkeitsstörungen erfinden oder produzieren aktiv schädigend auf vielfältige Weise Krankheitssymptome bei ihren gesunden Kindern. Auch können vorhandene Erkrankungen erheblich aggraviert werden. Ziel sind Aufmerksamkeit und Zuwendung zugunsten des Erwachsenen durch wiederholte ärztliche Untersuchungen des Kindes. In etwa 50 % der Fälle werden Symptome des ZNS induziert, in etwa 30 % des Magen-Darm-Traktes. Weiterhin werden unklares Fieber, Bakteriämien, Hautausschläge, Elektrolytentgleisungen und vieles mehr beschrieben. Die Prognose ist mit einer Letalität von 9–33 % schlecht. Abzugrenzen ist ein zwar übersteigertes, aber nicht misshandelndes Inanspruchnahmeverhalten von überbesorgten, hypochondrischen Eltern, die sich immer wieder beim Arzt rückversichern möchten, dass ihr Kind an keiner ernsthaften, bedrohlichen Erkrankung leidet.

Sexueller Missbrauch

Sexueller Kindesmissbrauch tritt häufiger auf als angeborene Herzfehler, Diabetes und Krebs im Kindesalter zusammen. Da bei 90–95 % der Opfer körperliche Normalbefunde vorliegen, ist die fachgerecht und nicht suggestiv erhobene Aussage des Kindes entscheidend für die Diagnose. Nur in einer Minderzahl der Fälle tragen akute oder chronische Verletzungen, sexuell übertragene Infektionen und forensische Befunde zur Diagnose bei. Eine sorgfältige und einfühlsame Untersuchung ist neben der gelegentlichen Erhebung hinweisender Befunde von hoher Bedeutung, um dem Kind und seinen Eltern körperliche Integrität, Gesundheit und Normalität bestätigen zu können. Die Art und Weise der ärztlichen Untersuchung bietet somit ein hohes Potenzial, nicht nur therapeutische Botschaften zu integrieren („Gut, dass Du es gesagt hast!“), sondern auch den Prozess der psychischen Gesundung durch Etablierung eines positiven, wiederhergestellten Körperselbstbildes mit zu initiieren. Dies wird als primär therapeutischer Effekt der Untersuchung bezeichnet. Das Erreichen dieses Zieles setzt voraus, dass auf jeglichen Zwang, Druck oder massive Überredung verzichtet wird.
Anamnese
Das Ausmaß der Anamneseerhebung hängt von den Umständen der Vorstellung und den Vorerfahrungen des Untersuchers ab. Es ist ratsam, eine separate Anamnese vom Kind und der Begleitperson zu erheben. Eine freundliche, interessierte, offene und nicht wertende Haltung des Untersuchers und eine ruhige und akzeptierende Atmosphäre sind hierfür wesentliche Voraussetzungen.
Klinische Untersuchung
Die Vorbereitung und Durchführung der ärztlichen Untersuchung von möglicherweise sexuell missbrauchten Kindern erfordert Zeit, Geduld und eine einfühlsame Haltung. Eine vollständige Untersuchung „von Kopf bis Fuß“ ist obligatorisch. Die anogenitale Untersuchung besteht vornehmlich in einer Inspektion durch das Variieren verschiedener Untersuchungstechniken und geeigneter Positionierung des Kindes. Pädiater, die regelmäßig den Anogenitalbereich von Kindern unterschiedlicher Altersstufen untersuchen und die Vielzahl der Differenzialdiagnosen kennen und berücksichtigen, sind hierzu fachlich potenziell qualifizierter als der oft reflexhaft bemühte Gynäkologe. Die Aneignung spezifischer Kenntnisse der normalen anogenitalen Anatomie in den verschiedenen Altersstufen, der Varianten des Normalen, der missbrauchsbedingten Befunde und der abzugrenzenden Differenzialdiagnosen ist dabei unumgänglich. Auch gilt die Verwendung eines Kolposkops mittlerweile als fachlicher Standard, da es die Visualisierung deutlich verbessert, eine hochwertige und gerichtsfeste Dokumentation erlaubt und damit weitere Untersuchungen vermeiden hilft, Lehre und Forschung unterstützt und das Diskutieren und Überprüfen von Befunden im Sinne eines Peer-Reviews ermöglicht. Nach der aktuellen amerikanischen Adams-Klassifikation wird für beweisende Befunde eine qualifizierte Zweitmeinung empfohlen.
Klinische Symptome
Die Art der Befunde variiert beträchtlich mit der Art des Missbrauchs, hierbei verwendeter Objekte, dem Grad der angewendeten Gewalt, dem Alter des Kindes und der Häufigkeit des Missbrauchs. Die Zeit seit dem letzten traumatischen Ereignis und die Angabe von Schmerzen oder vaginaler Blutung korrelieren stark mit der An- oder Abwesenheit signifikanter Befunde. Da die meisten Opfer mit erheblichem zeitlichem Abstand zum Missbrauch vorgestellt werden, sind akute Befunde selten. Dennoch sollte aufgrund der raschen Heilungsfähigkeit anogenitaler Gewebe bei einem wenige Tage zurückliegenden Ereignis eine zeitnahe Untersuchung erfolgen. Ein Spermanachweis bei präpubertären Opfern ist nach 24 Stunden jedoch sehr unwahrscheinlich.
Die Beurteilung der Konfiguration des Hymens spielt eine erhebliche Rolle in der Diagnostik. Alter, Entwicklungsstand, Konstitution und Östrogenisierung beeinflussen das Erscheinungsbild. Dazu kommt eine Vielzahl von Normvarianten, sodass das Erscheinungsbild sehr variabel ist. Ein kongenital fehlendes Hymen existiert in Abwesenheit komplexer Fehlbildungen nicht. Sport, Spagat, Masturbation oder die Verwendung von Tampons führen nicht zu Hymenalverletzungen. Zur Einordnung, Bewertung und zum Verständnis von Befunden werden im Allgemeinen die mittlerweile konsensusbasierten und regelmäßig aktualisierten Leitlinien zur Interpretation anogenitaler Befunde und Infektionen nach Adams verwendet (Abschn. 6). Als beweisende Befunde gelten akute oder chronische, nicht akzidentell erklärbare Verletzungen anogenitaler Gewebe, vollständige Kerben oder Unterbrechungen des Hymenalsaums, Nachweis von Sperma, einer Schwangerschaft oder bestimmter sexuell übertragener Infektionen.
Die selten erforderliche forensische Diagnostik bei akutem sexuellem Missbrauch/Vergewaltigung erfordert spezifische Expertise durch einen diesbezüglich erfahrenen (Kinder-)Gynäkologen, Pädiater oder Rechtsmediziner. Abstriche auf Sperma bzw. DNA sind je nach Befund und Anamnese invasiver sexueller Übergriffe entsprechend einem zuvor festgelegten Protokoll zu entnehmen und luftgetrocknet für die weitere Verwendung sicher und kontaminationsfrei aufzubewahren.

Vernachlässigung

Kindesvernachlässigung ist die häufigste Form der Kindesmisshandlung. Sie hat besonders gravierende Konsequenzen für die geistige und sozial-emotionale Entwicklung von Kindern durch Deprivationserfahrungen und/oder unzureichende Ernährung in den ersten Lebensmonaten bzw. -jahren. Im Gegensatz zu körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch wird sie im Allgemeinen weniger beachtet, abgesehen von spektakulären Einzelfällen wie tödliches Verhungernlassen oder Aussetzen von Neugeborenen. Diese sog. Vernachlässigung der Vernachlässigung beruht vermutlich auf der schwierigeren Diagnosestellung, da eindeutige körperliche Folgen als auch emotionale Schäden erst langfristig auftreten.
Ätiologie und klinische Symptome
Die Ursache für Vernachlässigungen ist vielschichtig und zum Teil interagierend. So lassen sich individuelle, familiäre und soziale Gründe unterscheiden. Elterliche Charakteristika umfassen psychische und emotionale Auffälligkeiten und Erkrankungen (z. B. Depression), geistige Behinderung und intellektuelle Einschränkungen, mangelnde Ausbildung sowie Drogenkonsum und Alkoholabhängigkeit. Kindliche Faktoren sind beispielsweise körperliche oder geistige Behinderung, das sog. schwierige Kind sowie Früh- oder Mangelgeborene. An familiären Gründen finden sich Bindungsstörungen, insbesondere der Mutter-Kind-Beziehung, unrealistische oder überzogene Erwartungen an das Kind, alleinerziehender Elternteil. Gesellschaftliche und soziale Gründe umfassen mangelnde soziale Ressourcen, soziale Isolation, Armut sowie Stress durch Sorge um Arbeitsplatz, Krankheit, Haft oder Ausweisung.
Körperliche Vernachlässigung
Die körperliche Vernachlässigung ist die Form der Kindesvernachlässigung, die dem Kinder- und Jugendarzt häufig zuerst auffällt. Hierunter fallen Mängel der Ernährung in Form von Dystrophie, psychosozialem Kleinwuchs, aber auch Adipositas permagna. Unzureichende Berücksichtigung körperlicher Grundbedürfnisse führen zu mangelnder Körper- und Zahnpflege oder mangelhafter Bekleidung und Unterkunft. Prä- und perinatale Schädigungen entstehen durch maternalen Konsum illegaler Drogen, Alkohol oder Nikotin, Fehl- oder Mangelernährung und fehlende medizinische Betreuung und Vorsorge der Schwangeren. Vernachlässigung der medizinischen Betreuung und Vorsorge zeigen sich im Nichtwahrnehmen von Vorsorgeuntersuchungen, durch unvollständige oder fehlende Impfungen und fehlende Karies-Rachitis-Prophylaxe oder auch durch die Verweigerung oder Verzögerung einer indizierten medizinischen Behandlung. Vernachlässigungen der Aufsichtspflicht führen zu fehlendem Schutz vor alltäglichen Gefahren oder Gefahren durch ungesicherte Gefahrenquellen im Haushalt.
Emotionale Vernachlässigung
Emotionale Vernachlässigung lässt sich in eine aktive und passive Form unterteilen. Zugrunde liegt ihr die bewusste oder unbewusste Missachtung kindlicher Grundbedürfnisse nach Liebe, Zuneigung, Geborgenheit und Respekt. Hierzu zählen
  • mangelnde Anregung und Förderung der Entwicklung (stimulative Vernachlässigung),
  • mangelnde Unterstützung beim Lernen (Wahrnehmen und Fähigkeit zur Lösung von Problemen),
  • mangelnde Sorge beim Auftreten von Schulschwänzen, Delinquenz, Alkohol- und/oder Drogenkonsum (permissive Eltern),
  • mangelnde Förderung beim Erwerb sozialer Kompetenzen, zur Unterstützung von Selbstständigkeit und zur Bewältigung von Alltagsanforderungen,
  • mangelndes Setzen von Grenzen und fehlende Belehrung über Gefahren,
  • Erleben elterlicher und/oder häuslicher Gewalt,
  • Verweigerung oder Verzögerung psychologischer oder psychiatrischer Hilfe bei Erkrankung durch die Eltern bzw. Sorgeberechtigten.
Diagnose
Die Diagnose einer Vernachlässigung lässt sich durch genaue Anamnese, insbesondere Fremdanamnese im Sinne einer psychosozialen Umfeldbefragung, klinische Beobachtung und den Ausschluss anderer Ursachen der körperlichen Symptomatik stellen.
Bei Gedeihstörungen muss ein Ausschluss organischer Ursachen gemäß Leitlinien erfolgen und bei Kindern unter 2 Jahren ebenfalls ein Röntgenskelettscreening, eine Fundoskopie und ein Drogen- und Medikamentenscreening im Urin durchgeführt werden. Daneben sollte eine detaillierte Familien- und Sozialanamnese erhoben, weiterhin der Verlauf der somatischen Entwicklung, Körpermaße, Pflegezustand, Zahnstatus, das Wahrnehmen von Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, Zahnvorsorge, Karies-Rachitis-Prophylaxe beschrieben und dokumentiert werden. Es sollte ebenfalls eine Beurteilung von Verhaltensauffälligkeiten sowie der psychischen, emotionalen, kognitiven Entwicklung und eine Dokumentation der Eltern-Kind-Interaktion in der klinischen Situation erfolgen.

Intervention

Kinderschutz gehört grundsätzlich in den Verantwortungsbereich aller Institutionen und Fachpersonen, die beruflich mit Kindern zu tun haben. In Kinderkliniken soll er integrierter Teil des Leistungsauftrages aller dort tätigen Disziplinen sein. Die Diagnose und der nachfolgende Schutz der Opfer setzt Aufmerksamkeit, fachliche Kenntnisse, rationale Diagnostik und Differenzialdiagnostik entsprechend aktueller Leitlinien (z. B. AWMF Leitlinie Kinderschutz u. a.), ein strukturiertes, fachgerechtes Vorgehen der Verdachtsabklärung, Kompetenzen in der Erfassung und Beurteilung von familiären Risiken und Ressourcen, Rechtssicherheit und die Bereitschaft zu multiprofessionellem Handeln voraus. Zu diesem Zweck soll es als fachlichen Standard an jeder Kinder- und Jugendklinik ein den lokalen Strukturen angepasstes Vorgehen in Verdachtsfällen geben. Dieses umfasst eine strukturierte, verbindliche Leitlinie mit entsprechender Diagnostik und Dokumentation entsprechend dem von der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) und der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) publizierten Leitfaden für Kinderschutz in Kliniken. Die 2013 implementierte und seit 2018 erlöswirksame OPS Kinderschutz (1-945.0 und 1-945.1) erfordert bei Überprüfung durch den MDK in der Regel diese Strukturen, vorzugsweise DGKiM akkreditierte Kinderschutzgruppen, die durch zertifizierte Kinderschutzmediziner geleitet werden.
Wie interveniert wird, hängt von der aktuellen Bedrohung des Kindeswohls, dem Verdachtsgrad und der Art der Misshandlung ab. Vage Verdachtsfälle in der kinderärztlichen Praxis erfordern andere Herangehensweisen als schwerwiegende unter Umständen vital bedrohliche Misshandlungen in stationärer Behandlung, ein sexueller Missbrauch ein anderes Herangehen als ein Verdacht auf ein Münchhausen-Syndrom-by-Proxy. Kinderschutz kann grundsätzlich nur multiprofessionell verwirklicht werden und erfordert Kenntnis der lokalen bzw. regionalen Kinderschutzangebote und Fachkräfte. Außer in weniger schweren Fällen, in denen aus kinderärztlicher Sicht eine Inanspruchnahme von Beratungs- und Unterstützungsangeboten ausreichend erscheint, ist in der Regel die Einbeziehung des Jugendamtes unabdingbar.
Die Intervention zielt primär auf den Schutz des betroffenen Kindes vor weiterer Schädigung. Daneben dient sie der Verarbeitung und gegebenenfalls Rehabilitation des Opfers und dem etwaigen Schutz weiterer betroffener Geschwister. Die Planung der Intervention erfordert ein multiprofessionelles Vorgehen und gründliches Abwägen der unter Umständen widerstreitenden Rechtsgüter. Dazu zählen das Recht des Kindes auf körperliche und seelische Unversehrtheit, Förderung und Liebe, das Recht, möglichst in der Herkunftsfamilie aufzuwachsen, das Recht auf Sicherung von Ansprüchen im Schädigungsfall, Rechtsbedürfnisse und Normen der Gesellschaft, das Recht der oft selbst jungen bzw. selbst früher traumatisierten Eltern/Täter auf soziale und psychologische Hilfe und Therapie sowie ein öffentliches Interesse an Gewaltprävention.

Rechtslage

Es besteht in Deutschland keine gesetzliche Meldepflicht; der Arzt hat ein Zeugnisverweigerungsrecht. Dem Rechtsgebot der ärztlichen Schweigepflicht nach § 203 StGB ist im Sinne einer sorgfältigen Güterabwägung jedoch das gefährdete Kindeswohl gegenüberzustellen. Kann das Kindeswohl nicht anders geschützt werden, darf die Schweigepflicht gebrochen werden (§ 34 StGB – rechtfertigender Notstand). Das gefährdete Kindeswohl ist in dieser Abwägung das höhere Rechtsgut. Zudem steht der Arzt zu seinem Patienten, dem gefährdeten Kind, in einer Garanten(„Beschützer“)-Stellung. Das bedeutet, er hat durch seine berufliche Qualifikation und das Arzt-Patient-Verhältnis eine höhere Verpflichtung, aktiv einer Rechtsgutverletzung entgegenzutreten, als ein Laie. Eine Verpflichtung zur Anzeige einer Kindesmisshandlung besteht jedoch nicht. Entsprechende Regelungen finden sich im seit Januar 2012 in Kraft getretenen Bundeskinderschutzgesetz, das ein abgestuftes Hinwirken auf die Inanspruchnahme von Hilfen vorsieht und den Bruch der Schweigepflicht im Sinne einer sog. „Befugnisnorm“ regelt.
Welches Mittel am besten geeignet ist, das Kind zu schützen, sollte bei allen Überlegungen den Ausschlag geben. Der strafrechtliche Weg ist nicht primär auf den Kinderschutz, sondern auf Verurteilung eines Täters fokussiert. Der Verzicht auf eine gesetzliche Meldepflicht von Verdachtsfällen ermöglicht, das in Deutschland weitgehend akzeptierte Konzept „Hilfe statt Strafe“ zu praktizieren, wenn dies nach einer gründlichen Bewertung der Situation des Kindes als sinnvoll und erfolgversprechend erachtet wird. Da Hilfe, einschließlich Prävention, nicht selten auch die Mitteilung von Misshandlungs-, Missbrauchs- und Vernachlässigungsfällen an staatliche Stellen bedeutet (Jugendamt, Polizei, Staatsanwaltschaft), gehört zu einem umfassenden Konzept des Umgangs mit Gewalt gegen Kinder auch die Kenntnis einschlägiger gesetzlicher Normen und ihrer Konsequenzen für die betroffenen Kinder und ihre Familien.
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