Zerebrale Krampfanfälle
Die überwiegende Mehrzahl von Krampfanfällen bei Neugeborenen treten im Rahmen einer hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie auf. Die Krampfanfälle beginnen dabei im Allgemeinen 6–12 Stunden nach der Geburt, die Krampfbereitschaft hält mehrere Tage an, die Kinder zeigen in Abhängigkeit von der Schwere der Asphyxie weitere neurologische Auffälligkeiten.
Die zweithäufigste Ursache sind perinatale Infarkte und intrakranielle Blutungen. Auch dabei manifestieren sich die Krämpfe nach einem freien Intervall meist am Ende des 1. Lebenstags, oft mit einer charakteristischen Seitenbetonung, die Neugeborenen sind aber zwischen den Anfällen neurologisch unauffällig. Diagnostisch wegweisend ist eine kraniale Kernspintomografie mit diffusionsgewichteten Sequenzen. Die Kernspintomografie erlaubt darüber hinaus auch die Diagnose seltener kongenitaler Ursachen, etwa einer neuronalen Migrationsstörung (Kap. „Entwicklungsstörungen des Nervensystems“), und kann Residualschäden nach intrauterinen Infektionen (CMV,
Toxoplasmose, Zika) dokumentieren, die ebenfalls als Ursache zerebraler Krampfanfälle infrage kommen.
Hypoglykämien und
Hypokalzämien, wie sie nach einer Asphyxie, aber auch z. B. bei Kindern diabetischer Mütter auftreten können, sind einfach zu behebende Ursachen zerebraler Krämpfe. Die bettseitige Bestimmung der Blutglukosekonzentration und des Serumkalziums gehören deshalb zur standardmäßig durchgeführten Akutdiagnostik bei zerebralen Krampfanfällen von Neugeborenen. Demgegenüber ist eine
Hypomagnesiämie eine seltene Ursache eines zerebralen Krampfanfalls, z. B. bei chronischen enteralen Verlusten aus einem Stoma oder bei Kindern mit einem hereditären Magnesiumtransportdefekt (
TRPM6-Defekt).
Jede
Meningitis oder
Enzephalitis kann mit Krampfanfällen einhergehen. Bei Neugeborenen können bei entzündlichen ZNS-Erkrankungen
Glukose und Eiweiß im Liquor normal sein, beweisend ist jeweils nur der Erregernachweis mittels Kultur oder PCR. Enterovirus-Enzephalitiden können bereits in der 1. Lebenswoche auftreten, eine perinatal erworbene Herpes-simplex-Infektion manifestiert sich eher ab der 2. Lebenswoche. Wenn eine Herpes-simplex-Enzephalitis vermutet wird, ist eine antivirale Therapie mit Aciclovir bis zum Vorliegen eines negativen Liquorergebnisses indiziert.
Nach mütterlichem Opiatkonsum in der Schwangerschaft kann es als Ausdruck eines neonatalen Drogenentzugs zu Krampfanfällen kommen, die gut auf Morphin, nicht aber auf Phenobarbital ansprechen. Diagnostisch wegweisend sind die Anamnese und der Nachweis von Opiaten im Mekonium.
Krampfanfälle, die in den ersten Lebenstagen zusammen mit einer progredienten neurologischen Symptomatik auftreten, sind verdächtig auf eine angeborene Störung im Aminosäurestoffwechsel, die fast immer mit einer metabolischen Azidose und/oder einem erhöhten Ammoniakspiegel im Blutplasma einhergehen (Kap. „Differenzialdiagnose und Notfallbehandlung von Intermediärstoffwechselkrankheiten“). Ausnahmen sind die
nichtketotische Hyperglycinämie und der Molybdänkofaktormangel, die sich beide mit einer rasch progredienten neurologischen Symptomatik manifestieren, ohne dass sich dabei frühzeitig eine Azidose oder Ammoniakerhöhung zeigt (Kap. „Aminoazidopathien“).
Ein spezielles Krankheitsbild sind Störungen im Pyridoxinstoffwechsel (Kap. „Vitaminresponsive Enzephalopathien bei Kindern und Jugendlichen“), die zu heftigen, mit antiepileptischen Medikamenten schlecht beherrschbaren Krampfanfällen führen, welche aber auf Gabe von Pyridoxin (Vitamin B
6) sistieren (Vitamin-B
6-responsive Krampfanfälle). Bei partiellem Ansprechen kann die Wirkung durch die Gabe von Leucovorin gesteigert werden (folinsäureresponsive Krampfanfälle). Diesem Krankheitsbild liegen Mutationen im
ALDH7A1-Gen zugrunde, das für die α-Aminoadipin-Semialdehyddehydrogenase Antiquitin kodiert. Diagnostisch wegweisend sind die Bestimmung der Pipecolinsäurekonzentration in
Urin oder Liquor (unspezifischer, aber transportstabiler Metabolit). Das klinische Spektrum von
ALDH7A1-Defekten beschränkt sich nicht auf Vitamin-B
6-responsive Krampfanfälle in der Neonatalperiode: Die Krankheit kann sich sowohl früher (pränatal diagnostizierte Ventrikulomegalie) als auch später (Krampfanfälle und autistische Wesensveränderungen am Ende der Säuglingszeit) manifestieren. Zudem kommt es bei
ALDH7A1-Defekten gehäuft zu perinatalen Störungen, die mit den auftretenden Krampfanfällen in Zusammenhang gebracht werden (
Hypokalzämie,
Hypomagnesiämie,
Diabetes insipidus,
Hypothyreose, niedrige Apgar-Werte).
Biochemisch verwandt sind Defekte der Pyridoxamin-5-Phosphat-Oxidase oder eine
Hypophosphatasie (stark erniedrigte alkalische Phosphatase im
Serum; Kap. „Vitaminresponsive Enzephalopathien bei Kindern und Jugendlichen“), welche die Verfügbarkeit des aktiven Metaboliten Pyridoxalphosphat herabsetzen. Bei diesen Störungen sprechen die Krampfanfälle auf die Gabe von Pyridoxalphosphat an.
Krampfanfällen, die bei ansonsten neurologisch unauffälligen Neugeborenen erstmalig zwischen dem 2. und 7. Lebenstag auftreten und auf Phenobarbital ansprechen, können Mutationen,
Deletionen oder Duplikationen in Genen zugrunde liegen, die für zerebral exprimierte Kalium- oder Natriumionenkanäle kodieren (
KCNQ2,
KCNQ3,
SCN2A; Kap. „Epilepsien bei Kindern und Jugendlichen“, Abschn. „Genetik der Epilepsien“). Die Diagnose ist letztendlich nur durch Sequenzierung der betreffenden Gene zu stellen. Das interiktale
EEG ist oft unauffällig. Die Krampfanfälle sprechen gut auf niedrig dosiertes
Carbamazepin an. Gegen Ende der Neugeborenenperiode kommt es meist zu einer Spontanremission (sog. benigne familiäre Neugeborenenkrämpfe). Das klinische Bild ist bei
KCNQ2- und
KCNQ3-Defekten einheitlicher („5th day fits“) als bei
SCN2A-Defekten (benigne familiäre neonatal-infantile Krämpfe). Trotz der Bezeichnung werden bei einem Teil der Patienten mit diesen Diagnosen im weiteren Verlauf erneut Krampfanfälle und eine verzögerte psychomotorische Entwicklung beobachtet.
Veränderungen im
SLC2A1-Gen, das für den
Glukosetransporter Glut1 kodiert (Kap. „Genetische Defekte des Monosaccharidstoffwechsels“, Abschn. „Angeborene Störungen des Glukosetransports“), können am Ende der Neugeborenenperiode oder später zu zerebralen Krampfanfällen führen, die auf Antikonvulsiva schlecht ansprechen. Diagnostisch wegweisend sind niedrige Glukosekonzentrationen im Liquor (<45 mg/dl [2,0 mmol/l] bzw. <45 % der gleichzeitig gemessenen Blutglukosekonzentration). Die Therapie besteht in einer ketogenen Diät.