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Pädiatrie
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Publiziert am: 22.03.2019

Pädiatrische Umweltmedizin

Verfasst von: Karl Ernst von Mühlendahl
Bei der Umweltmedizin handelt es sich nicht um eine klinische Disziplin. Wohl aber werden etwa vom Öffentlichen Gesundheitsdienst, von Gewerbeaufsichtsämtern und weiteren mit der Umwelt befassten Behörden primärpräventive Ansätze verfolgt werden müssen. Die „klassischen“ chemischen und physikalischen „Schadstoffe“ und Gefährdungen, über die vor 20 und 30 Jahren viel diskutiert worden ist, spielen heute eine geringere Rolle. Es gibt neue, oft persistente, also nur sehr langsam abbaubare Noxen, die in Mengen von Hunderttausenden und Millionen Tonnen jährlich produziert und freigesetzt werden: Duftstoffe (Nitromoschussubstanzen), Weichmacher (Phthalate), perfluorierte Tenside (PFT), Flammschutzmittel (polybromierte Diphenylether), Bisphenol A und viele Pflanzenschutzmittel (u. a. Glyphosat). Diese Substanzen haben z. T. kanzerogene und gentoxische Eigenschaften. Letztlich gibt es insbesondere für uns Kinderärzte ein gesellschaftliches Legat, für eine nachhaltige Entwicklung dieser Welt zu sorgen, sodass auch kommende Generationen nicht von anthropogen bedingten vermeidbaren Krankheiten bedroht werden. Unsere Welt muss „enkeltauglich“ bleiben.

Definition

Dieser Beitrag gilt für Deutschland und für andere reiche Industrienationen, nicht aber für viele Länder und Gegenden in sog. Entwicklungsländern mit gravierenden, krankmachenden Umweltbelastungen. Umweltmedizin beschreibt als Begriff ein weites Spektrum. Das Buch Silent Spring von Rachel Carson hat vor 55 Jahren erstmals nachdrücklich den Blick auf die Umweltproblematik gelenkt, damals insbesondere auf die Folgen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln („pesticides“) in der Landwirtschaft. Vor 40 Jahren waren es die Unfälle von Seveso (Dioxinfreisetzung) und von Tschernobyl und das Waldsterben durch sauren Regen, im letzten Jahrzehnt sind die erneute Reaktorkatastrophe in Fukushima und die Diskussionen über den Glyphosateinsatz, über Feinstaub und Stickoxide, über endokrine Disruption und die Störung der pränatalen Programmierung durch externe Einflüsse hinzugekommen.
Bei der Umweltmedizin handelt es sich nicht um eine klinische Disziplin. Wohl aber werden etwa vom Öffentlichen Gesundheitsdienst, von Gewerbeaufsichtsämtern und weiteren mit der Umwelt befassten Behörden primärpräventive Ansätze verfolgt werden müssen. Letztlich gibt es auch insbesondere für uns Kinderärzte ein gesellschaftliches Legat, für eine nachhaltige Entwicklung dieser Welt zu sorgen, sodass auch kommende Generationen nicht von anthropogen bedingten vermeidbaren Krankheiten bedroht werden. Unsere Welt muss „enkeltauglich“ bleiben. Darüber hinaus, nicht nur mit anthropozentrischem Blick auf mögliche Krankheiten, müssen andere globale Entwicklungen im Blick behalten werden, so Ressourcenverbrauch, Plastikmüll-Problematik, Überfischung der Meere, Vernichtung tropischer und nördlicher Wälder, Rückgang der Artenvielfalt und Klimaerwärmung.

Noxen

Die „klassischen“ chemischen und physikalischen „Schadstoffe“ und Gefährdungen, über die vor 20 und 30 Jahren viel diskutiert worden ist, spielen heute eine geringere Rolle. Dank der öffentlichen Aufmerksamkeit und strikterer Regulierungen wird Schwefel aus den Abgasen der Kraftwerke, werden Dioxine aus den Müllverbrennungsanlagen und Hütten herausgefiltert. Viele der langlebigen chlorierten ringförmigen Kohlenstoffverbindungen (polychlorierte Phenyle und Biphenyle, Hexachlorbenzol, Dioxine und Furane, DDT) werden nicht mehr produziert oder freigesetzt. Für die Sanierung bei Belastung mit karzinogenem langfaserigem Asbest gibt es regulatorische Richtlinien, die zumeist auch gut eingehalten werden, die allerdings in Privathäusern eher selten beachtet werden, wie auch die Radonbelastung in Wohnhäusern – obwohl für zahlreiche Lungenkrebsfälle verantwortlich – kaum registriert wird. Die Angst vor Gefährdungen durch Mobilfunk und Hochspannungsleitungen und durch die Nachbarschaft von Atomkraftwerken ist weitgehend unbegründet. Der Eintrag über Nahrungsmittel bleibt beachtenswert. Luftschadstoffe (Feinstäube, Stickoxide, Ozon sind nachgewiesene pathogene Noxen auch in den Konzentrationen, die heute vielfach in der Außenluft vorkommen. Im Frühjahr 2019 hat es darüber eine erbitterte Debatte gegeben, bei der es zu beachten wichtig ist, dass Grenzwerte auf politischen Entscheidungen beruhen, die realistisch die Machbarkeit berücksichtigen. Keineswegs aber ist es so, dass Belastungen unterhalb solcherart festgelegten Grenzwerte bedenkenlos oder unschädlich wären.
Es gibt neue, oft persistente, also nur sehr langsam abbaubare Noxen, die in Mengen von Hunderttausenden und Millionen Tonnen jährlich produziert und freigesetzt werden: Duftstoffe (Nitromoschussubstanzen), Weichmacher (Phthalate), perfluorierte Tenside (PFT), Flammschutzmittel (polybromierte Diphenylether), Bisphenol A und viele Pflanzenschutzmittel (u. a. Glyphosat). Diese Substanzen haben z. T. kanzerogene und gentoxische Eigenschaften.
Die Erkenntnis, dass die im letzten Absatz genannten Substanzgruppen (ebenso Dioxine und Furane, Hexachlorbenzol, polychlorierte Biphenyle, DDT, Blei und Quecksilber und in Nahrungsmitteln vorkommende Phytooestrogene) endokrine Rezeptoren blockieren oder stimulieren können, mithin als endokrine Disruptoren einzustufen sind, hat namhafte endokrinologische Gesellschaften und regulative Behörden veranlasst, wissenschaftliche Warnungen vor der weiteren Anwendung und Verbreitung solcher Chemieprodukte zu publizieren.
Zunehmende Beachtung findet die Wirkung solcher Substanzen – mitunter in sehr geringen Konzentrationen – auf Entwicklungsprozesse in der Frühschwangerschaft, während der schadstoffbedingte Fehlprogrammierungen möglich sind. Das betrifft die Entwicklung des Endokrinums (Mamma- und Prostata-Malignome, verfrühter Pubertätsbeginn, Hodenhochstand und Infertilität, Schilddrüsenfunktionsstörungen, metabolisches Syndrom und Adipositas, Diabetes mellitus und sexuelle Deviationen), zudem pathologische Verhaltensmuster wie Autismus und Asperger-Syndrom und Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS). Hier sind weitere Forschungen notwendig, denn die heutigen Kenntnisse reichen vielfach nicht aus für exakte, quantitative Festlegungen von tatsächlichen Risiken.
Sinnvoll ist die Minimierung von unnötigen Belastungen (ALARA, as low as reasonably achievable).
Es ist allerdings zu beachten, dass „Umwelt“ aus viel mehr besteht als nur aus den im vorangegangenen Absatz beschriebenen Noxen. Bedeutend für die Gesundheit von Kindern sind psychosoziale Umweltbedingungen: Konsum von legalen und illegalen Suchtmitteln, Gewalterfahrung, Armut und Migration, Fehlernährung, Medienkonsum, Unfälle und Lärm.

Umweltmedizin in der klinischen Pädiatrie

Pädiater werden nur selten wegen Diagnostik, Therapie und sekundärer Prävention zu Rate gezogen werden. Mitunter wird kinder- und jugendärztlicher Rat gefragt sein, wenn es um Mobilfunk-Basisstationen und um Hochspannungsleitungen in der Nachbarschaft, um Asbestvorkommen in Schulgebäuden, um Pflanzenschutzmittel-Rückstände in der Nahrung geht. Gelegentlich fragen Eltern, ob Störungen und Krankheiten ihrer Kinder nicht durch Umweltbelastungen bedingt seien. Auch wenn manche Überlegungen und vermutete kausale Beziehungen unplausibel erscheinen, ist es sinnvoll – um nicht schnell einen Vertrauensverlust zu riskieren – sich ruhig mit solchen Überlegungen auseinanderzusetzen und nach sorgfältiger Anamneseerhebung und klinischer Untersuchung allgemeingültige pädiatrische differenzialdiagnostische Überlegungen anzustellen. Manchmal kann es sinnvoll sein, dann auf umweltmedizinische Beratungsstellen zu verweisen, die einschlägige Kenntnisse haben (von denen jedoch nicht mehr viele funktionieren; bei der Kinderumwelt gGmbH zu erfragen). Häufig wird es notwendig sein, weitergehende Informationen einzuholen und damit zu einer eigenen Einschätzung zu kommen, sodass man vernünftig beraten kann. Wissenschaftlich gesicherte und gewichtete Informationen finden sich auf den Websites der Kinderumwelt gGmbH der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der zuständigen Bundesoberbehörden (www.allum.de; www.bfr.bund.de; www.umweltbundesamt.de; www.bvl.bund.de; www.bfs.de).
Weiterführende Literatur
Carson R (1962) Silent spring. Houghton und Mifflin
Endocrine Society and IPEN (Hrsg) Gore AC,Crews D, Doan LL, La Merill M, Patisaul H, Zota A (2015) Introduction to endocrine disrupting chemicals (EDCs). Endocr Rev 36(6): E1–E150. Published online 2015 Nov 6. https://​doi.​org/​10.​1210/​er.​2015-1010CrossRef
Etzel RA (Hrsg) (2011) Pediatric Environmental Health, 3. Aufl. American Pediatric Association, Council on Environmental Health. ISBN-13:987-1-58110-313-7
European Environment Agency (2012) The impacts of endocrine disrupters on wildlife, people and their environments – The Weybridge+15 (1996–2011) report. European Environment Agency, Copenhagen, S 112 . (Technical report no. 2/2012)
European Food Safety Authority (EFSA) (2013) Scientific opinion on the hazard assessment of endocrine disruptors: scientific criteria for identification of endocrine disruptors and appropriateness of existing test methods for assessing effects mediated by these substances on human health and the environment. EFSA J 11:313 ff
Skakkebaek NE, Toppari J, Söder O, Gordon CM, Divall S, Draznin M (2011) The exposure of fetuses and children to endocrine disrupting chemicals: a European Society for Paediatric Endocrinology (ESPE) and Pediatric Endocrine Society (PES) call to action statement. J Clin Endocrinol Metab 96(10):3056–3058. https://​doi.​org/​10.​1210/​jc.​2011-1269. Epub 2011 Aug 10CrossRefPubMed
Wichmann E, Fromme H (2019) (Hrsg) Handbuch der Umweltmedizin. Ecomed. ISBN: 9783609711959
World Health Organisation und United Nations Environment Programme (UNEP), Herausgeber Gore AC, Chappell VA, Bento SE, Flaws JA, Nadal A, Toppari J, Moeller RT (2013) State of the science of endocrine disrupting chemicals 2012. www.​who.​int/​ceh/​publications/​endocrine/​en/​index.​html