Infektionskrankheiten unterscheiden sich von allen anderen Krankheiten dadurch, dass sie nach einem Kontakt und aus der daraus resultierenden Auseinandersetzung zweier Lebewesen entstehen – dem „Wirt“ auf der einen und dem Mikroorganismus auf der anderen Seite. Verschiedene Fachdisziplinen haben im Lauf des letzten Jahrhunderts die 3 genannten Aspekte – Mikroorganismen, Makroorganismen und Kontaktmuster – erforscht und sich dabei voneinander abgegrenzt. Im Laborbereich beschäftigt sich die medizinische Mikrobiologie mit den Mikroorganismen, die Immunologie mit den Makroorganismen. Die Hygiene untersucht die Kontaktmuster zwischen Mikroorganismus und Wirt mit dem Ziel, Methoden zu entwickeln, die eine Übertragung des Erregers auf den Wirt verhindern. Daraus hat sich vor allem in den angelsächsischen Ländern die Infektionsepidemiologie entwickelt, welche die Regeln der Verbreitung von Infektionskrankheiten und ihren Erregern erforscht. Infektiologen haben spezielle Kenntnisse auf jedem der 4 vorgenannten Fachgebiete (Immunologie, Mikrobiologie, Hygiene, Infektionsepidemiologie) und beziehen sie auf die Diagnostik, Therapie und Prävention beim individuellen Patienten und in der Bevölkerung.
Anfälligkeit und Empfänglichkeit des Wirts
Einige Mikroorganismen haben die Fähigkeit, den Wirt zu kolonisieren, ohne dass es dabei regelhaft zu einer spezifischen Abwehrreaktion des Makroorganismus kommt (Tab.
1). Andere Mikroorganismen können eine immunologische Abwehrantwort des Makroorganismus hervorrufen, z. B. die Produktion von spezifischen
Antikörpern oder zelluläre Abwehrreaktionen. Infektionen verlaufen entweder inapparent, also asymptomatisch oder aber sie gehen mit Krankheitszeichen einher (= Infektionskrankheit, = apparente oder symptomatische Infektion). Mikroorganismen, die bei Empfänglichen Krankheit hervorrufen können, nennt man pathogene Mikroorganismen. Lösen sie hingegen nur bei immunologisch bedingter Abwehrschwäche die Krankheit aus, werden sie als Opportunisten bezeichnet. Fakultativ pathogene Mikroorganismen können nur unter „besonderen physiologischen Umständen“ Krankheit hervorrufen. So ist E. coli der dominierende Aerobier im Darm, doch eine Krankheit entsteht nur dann, wenn das Bakterium z. B. an eine normalerweise sterile Körperstelle „verschleppt“ wird (
Meningitis bei Liquorfistel;
Pyelonephritis bei Reflux etc.). Mit Virulenz bezeichnet man wiederum individuelle, stammspezifische Eigenschaften eines Erregerisolats, die zu einem besonders schweren Krankheitsverlauf führen.
Tab. 1
Definitionen in der Infektiologie
Saprophyt | Mikroorganismus, der keine Krankheit hervorruft und meist auf totem Material lebt |
Parasit | Mikroorganismus, der auf Kosten eines Wirts in diesem lebt |
Kommensale | Mikroorganismus, der Haut und Schleimhäute kolonisiert, zur Normalflora gehören kann und dem Wirt im Regelfall keinen Schaden zufügt |
Kolonisation | Besiedlung von Haut und Schleimhäuten durch einen Mikroorganismus, ohne dass daraus eine Immunreaktion oder gar eine Krankheit resultieren muss |
Kontagiosität | Fähigkeit eines Mikroorganismus, von Mensch zu Mensch oder von unbelebten Gegenständen auf Individuen oder andere Gegenstände überzugehen |
Inkubationszeit | Zeitraum zwischen der Übertragung eines Mikroorganismus auf einen empfänglichen Wirt und dem Auftreten erster Krankheitssymptome |
Latenzzeit | Zeitraum zwischen der Übertragung und dem Beginn der Ausscheidung übertragbarer Partikel (meist kürzer als die Inkubationszeit) |
Präpatenz | Zeit zwischen der Übertragung eines Parasiten und dem Erscheinen erster Geschlechtsprodukte (z. B. Wurmeier) |
Infektion | Fähigkeit eines Mikroorganismus, sich in/an einem Wirt zu etablieren und eine spezifische Immunantwort auszulösen |
Infektionskrankheit | Fähigkeit eines Mikroorganismus, neben einer Immunantwort auch eine klinische Symptomatik hervorzurufen |
Infektiosität | Fähigkeit eines Mikroorganismus, nach erfolgter Übertragung (siehe oben unter „Kontagiosität“) im Wirt eine Immunreaktion auszulösen |
Persistenz, latente Infektion | Fähigkeit eines Mikroorganismus, über das Ende der klinischen Krankheitsperiode hinaus bei vorhandener Immunität weiterhin in einem Wirt zu überleben |
Reaktivierung | Fähigkeit eines persistierenden (latent infizierenden) Mikroorganismus, unter günstigen Umständen (z. B. reduzierte Abwehrlage) erneut eine klinische Symptomatik hervorzurufen |
Reservoir | Ökologische Nische, in der sich ein Erreger üblicherweise befindet und ggf. vermehrt |
Quelle (source) | Gegenstand oder Lebewesen, der/das für die Übertragung eines Mikroorganismus verantwortlich ist |
Zoonose | Krankheiten, deren Erreger üblicherweise ein Tierreservoir haben und die nur akzidentell auf den Menschen übertragen werden |
Epidemie (Ausbruch; outbreak) | Zeitlich und örtlich begrenztes, gehäuftes („mehr als erwartet“) Auftreten einer Infektionskrankheit |
Pandemie | Weltweite Epidemie bzw. in mehreren WHO-Regionen auftretend; meist im Zusammenhang mit Influenza verwendet |
Endemie | Kontinuierliches, sporadisches Auftreten von Fällen einer Infektionskrankheit in einer Population ohne epidemische Häufung |
Kontamination | Verunreinigung von Gegenständen mit Mikroorganismen |
Stille oder stumme Feiung | Asymptomatische Infektion, die zur Immunität führt |
Endogene Infektion | Infektionskrankheit, die unter besonderen Bedingungen durch ansonsten lediglich kolonisierende Mikroorganismen hervorgerufen wird (z. B. Aktinomykose) |
Exogene Infektion | Infektion durch nichtkolonisierende Mikroorganismen |
Inzidenz | Anzahl der neu auftretenden (Infektions-)Krankheiten in einer Population pro Zeiteinheit |
| Anzahl der Erkrankten zu einem Zeitpunkt in einer Population |
Primär Erkrankter (Primary case) | Erster Patient, der eine von Mensch zu Mensch übertragbare Krankheit in eine Population bringt |
Sekundär Erkrankter (Secondary case) | Patienten, die sich beim Primary case infiziert haben |
Indexfall | Erster Patient, durch den eine sich epidemisch ausbreitende Infektionskrankheit erstmals auffiel (oft, aber nicht immer der Primary Case) |
Vektor | Tier, das einen Erreger auf Menschen übertragen kann |
Basis-Reproduktionsrate oder -koeffizient (Ro) | Durchschnittliche Anzahl von empfänglichen Kontaktpersonen, auf die ein Infektiöser einen Erreger überträgt |
Selbst die Übertragung eines pathogenen und hoch virulenten Stamms einer Erregerspezies führt also nur dann zu einer Infektionskrankheit, wenn der Wirt empfänglich ist (über keinen Immunschutz und keine natürliche Abwehr verfügt) oder aber wenn er eine anatomische oder physiologische Besonderheit (Disposition) aufweist, die zur Krankheit disponiert (etwa einen vesikoureteralen Reflux bei der Miktion).
Nach einer ersten, überstandenen Infektion – oder auch nach einer Impfung – ist ein Mensch häufig nicht mehr für einen Erreger empfänglich. Verantwortlich dafür ist der Aufbau einer erregerspezifischen Abwehrreaktion, d. h. einer Immunantwort, wie etwa eine ausreichende Konzentration neutralisierender (= funktionaler)
Antikörper oder die Bereitstellung spezifischer T-Zellen, die den eindringenden Mikroorganismus zerstören. Viele Infektionskrankheiten hinterlassen allerdings keine zuverlässige Immunität, weswegen wiederholte Infektionen möglich sind. Klassische Beispiele sind
Tetanus, invasive Hib-Infektionen (
Haemophilus influenzae Typ b) sowie
Influenza und viele durch andere Viren hervorgerufene Krankheiten. Die wiederholte Auseinandersetzung mit einem Mikroorganismus kann auch zu einem (natürlichen) Boostereffekt führen, der das Abwehrpotenzial des Wirts weiter erhöht oder über einen längeren Zeitraum hinweg aufrecht erhält (Abb.
1).
Der Schutz gegen Infektionskrankheiten ist im Wesentlichen durch Leistungen des Immunsystems des Makroorganismus (vorangegangene Infektionen, Impfungen, aber auch physikalische Barrieren) bestimmt. Der Begriff Anfälligkeit (Suszeptibilität) beschreibt im Gegensatz dazu die genetisch bedingte Disposition, nach Exposition gegenüber einem Mikroorganismus mit höherer Wahrscheinlichkeit als der Durchschnitt der Bevölkerung eine Infektionskrankheit zu erleiden. Beispielsweise sind Kinder von Alaska-Indianern empfänglicher für Infektionskrankheiten durch bekapselte
Bakterien, etwa
Haemophilus influenzae Typ b oder
Pneumokokken, als Kinder europäischer Abstammung.
Während die Genetik der mikrobiellen Pathogenität und Virulenz gut untersucht ist, sind die genetischen Ursachen der Disposition (Immungenetik) erst durch neuere Entdeckungen wie die der „toll-like receptors“ und anderen Merkmalen der angeborenen Immunität möglich geworden und Gegenstand einer sich dynamisch weiter entwickelnden Forschung. In der Umgangssprache werden unter dem Begriff Anfälligkeit noch weitere Determinanten der Entstehung apparenter Infektionen hinzugefügt, etwa der Ernährungsstatus, das Alter, sozioökonomische Faktoren oder das Geschlecht. Zweifellos sind Unterernährung, hohes Alter, Armut und auch Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum Ursachen z. B. der
Tuberkulose. Letztendlich bedingen diese Faktoren aber eine erhöhte Exposition gegenüber dem ursächlichen Erreger und reduzieren gleichzeitig z. B. die T-Zell-Immunität, sodass nicht die Anfälligkeit (= genetisch), sondern die erhöhte Empfänglichkeit (Immunität) ursächlich ist. Sozio-ökonomische Faktoren sind demnach ohne Zweifel Ursache (causa) von Infektionskrankheiten, sollten aber begrifflich getrennt von Disposition und Empfänglichkeit aufgeführt werden.