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Pädiatrie
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Publiziert am: 09.02.2019

Soziale Faktoren und „neue Morbidität“ bei Kindern und Jugendlichen

Verfasst von: Knut Brockmann, Hans Georg Schlack, Christiane Deneke und Fuat Aksu
Bei fast allen Krankheitsbildern gibt es einen markanten sozialen Gradienten, d. h. ein steigendes Erkrankungsrisiko bei sinkendem Sozialstatus, auch in „entwickelten“ Staaten mit gut ausgebautem und sozial ausgleichendem Gesundheitswesen. So haben z.  B. Erhebungen in England ergeben, dass in den 1990er-Jahren noch immer die Säuglings- und Kindersterblichkeit sowie die Morbidität an vielen somatischen Krankheiten bei Kindern der untersten Sozialschicht im Durchschnitt etwa doppelt so hoch waren wie in der obersten Sozialschicht.

Einfluss sozialer Faktoren auf Gesundheit und Entwicklung

K. Brockmann und H. G. Schlack
Bei fast allen Krankheitsbildern gibt es einen markanten sozialen Gradienten, d. h. ein steigendes Erkrankungsrisiko bei sinkendem Sozialstatus, auch in „entwickelten“ Staaten mit gut ausgebautem und sozial ausgleichendem Gesundheitswesen. So haben z.  B. Erhebungen in England ergeben, dass in den 1990er-Jahren noch immer die Säuglings- und Kindersterblichkeit sowie die Morbidität an vielen somatischen Krankheiten bei Kindern der untersten Sozialschicht im Durchschnitt etwa doppelt so hoch waren wie in der obersten Sozialschicht.
Im Vergleich dazu ist der soziale Gradient bei Störungsbildern der „neuen Morbidität“ (Abschn. 2) noch deutlich höher. Nach dem deutschen Kinder- und Jugend-Gesundheitssurvey (KiGGS), der endlich nun auch für Deutschland repräsentative sozialepidemiologische Daten erhoben hat, liegt die Risk Ratio sowohl für Verhaltensauffälligkeiten wie auch bei der Adipositas über 3. Das heißt: Das Erkrankungsrisiko ist bei Kindern der untersten gegenüber der obersten Sozialschicht um mehr als das Dreifache erhöht. Offensichtlich gibt es also einen ursächlichen Zusammenhang mit Lebensweltbedingungen, die in der unteren Sozialschicht gehäuft anzutreffen sind.
Bemerkenswerterweise spielt die Schichtzugehörigkeit auch in anderen Zusammenhängen eine entscheidende Rolle: Zum einen bei der kognitiv-sprachlichen Entwicklung von Kindern, und zum andern beim Risiko der Kindesvernachlässigung. Für die Kennzeichnung der Schichtzugehörigkeit wird üblicherweise der sozioökonomische Status („socio-economic status“, SES) verwendet. Der SES ist ein semiquantitativer Score, der aus Kriterien der schulischen und beruflichen Bildung der Eltern und des Familieneinkommens gebildet wird. Ein niedriger SES ist, wie in vielen Untersuchungen nachgewiesen wurde, mit einer statistischen Häufung psychischer Problemlagen und – in Folge davon – mit einem erhöhten Risiko negativer Einflüsse auf Familienklima, Erziehungsverhalten und Interaktionsweisen verbunden. Ein Beispiel dafür, wie sich psychosoziale Einflüsse auf der biologischen Ebene auswirken, ist der Nachweis signifikant erhöhter Kortisolspiegel bei Kindern aus niedrigem SES als Ausdruck von Stress gegenüber Kindern aus hohem SES. In allen Studien über die Auswirkung biologischer und psychosozialer Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Kindern hat sich der SES als die weitaus wichtigste Variable erwiesen.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel sind Ergebnisse aus der Rochester-Studie. In dieser Studie wurden die Entwicklungsverläufe von Kindern aus 3 verschiedenen sozialen Schichten untersucht (weiße Oberschicht, weiße Unterschicht, schwarze Unterschicht). Alle 3 Gruppen zeigten zu Beginn und noch bis zum Ende des 1. Lebensjahres keine signifikante Differenz in den durchschnittlichen Entwicklungsquotienten. Bis zum Ende des 4. Lebensjahres trat eine extrem divergente Entwicklung ein, wonach sich die Durchschnitte in der höchsten Sozialschicht von denen in der niedersten Sozialschicht um fast 2 Standardabweichungen unterschieden: Das entspricht einer Differenz von fast 30(!) IQ-Punkten. Analoge Befunde wurden auch in der Schweiz erhoben, wobei die schichtabhängigen IQ-Differenzen etwas geringer waren als in den USA – entsprechend den weniger stark ausgeprägten Diskrepanzen zwischen den sozialen Schichten.
Unter den Bedingungen von sozialem Stress, geringer Bildung und eingeschränkten Fähigkeiten der Problembewältigung in kritischen Lebenslagen verschlechtern sich die Voraussetzungen dafür, dass Eltern die seelischen Grundbedürfnisse ihrer Kinder erfüllen und damit die Grundlage für seelische Gesundheit schaffen können. Das wurde exemplarisch in der Mannheimer Risikokinder-Studie dokumentiert. Auf empirischer Grundlage wurden 11 Kriterien zur Einschätzung des psychosozialen Risikos definiert.
Kriterien zur Einschätzung des psychosozialen Risikos
  • Niedriges Bildungsniveau der Eltern
  • Beengte Wohnverhältnisse
  • Psychische Störung der Eltern (gem. ICD-10/DSM-III-R)
  • Kriminalität/Herkunft aus zerrütteten familiären Verhältnissen
  • Eheliche Disharmonie
  • Frühe Elternschaft
  • Ein-Eltern-Familie
  • Unerwünschte Schwangerschaft
  • Mangelnde soziale Integration und Unterstützung
  • Ausgeprägte chronische Schwierigkeiten (z.  B. Arbeitslosigkeit, Krankheit)
  • Mangelnde Bewältigungsfähigkeiten im Umgang mit den Lebensereignissen des letzten Jahres (z.  B. Verleugnung, Resignation, Rückzug, Dramatisierung)
Wenn im Einzelfall mehr als 2 dieser Kriterien gegeben waren, ergab sich für das betroffene Kind ein hohes Risiko für Vernachlässigung und Entwicklungsstörungen. Die aufgeführten Kriterien sind zwar nicht schichtspezifisch, sie sind aber in bildungsmäßig, ökonomisch und sozial unterprivilegierten Familien besonders häufig, und eine Kombination solcher Risikofaktoren ist eher die Regel als die Ausnahme.

Die „neue Morbidität“

K. Brockmann und H. G. Schlack
Unter dem Begriff „neue Morbidität im Kindes- und Jugendalter“ werden unterschiedliche Störungsbilder zusammengefasst, die in den letzten Jahrzehnten in einer bis dahin nicht registrierten und anscheinend noch zunehmenden Häufigkeit auftreten. Dazu gehören im engeren Sinne
  • emotionale Störungen, Verhaltensprobleme, Störungen des Sozialverhaltens;
  • funktionelle Störungen (umschriebene, kombinierte oder globale Entwicklungsstörungen der sprachlichen, kognitiven und motorischen Fähigkeiten);
  • Substanzmissbrauch und Sucht (insbesondere Alkohol und illegale Drogen).
Im weiteren Sinne werden auch andere chronische Krankheitsbilder, wie z.  B. allergische Erkrankungen darunter subsumiert.
Im Vergleich zu dem früher – bis etwa in die 1960er-Jahre – im Kindes- und Jugendalter vorherrschenden Krankheitsspektrum bedeutet „neue Morbidität“ eine Schwerpunktverlagerung
  • von den primär körperlichen Erkrankungen zu Störungen der funktionellen und psychischen Entwicklung und zu verhaltensabhängigen körperlichen Störungen sowie
  • von den akuten zu den chronischen Krankheiten.
„Neu“ sind also nicht die Störungsbilder als solche, sondern ihre epidemische Häufung. Insofern ist der angloamerikanische Terminus „new epidemics“ stimmiger als der im Deutschen übliche Begriff „neue Morbidität“. Ein besonderes Merkmal dieser Störungsbilder ist ihre ausgeprägte Abhängigkeit von Umständen der sozialen Lebenswelt, in der ein Kind aufwächst. Ihre sozialmedizinische Relevanz liegt insbesondere darin, dass sie die betroffenen Kinder daran hindern, ihr individuelles Entwicklungspotenzial auszuschöpfen. Das hat langfristig negative Auswirkungen auf Schulerfolg, berufliche Qualifikation, soziale Eingliederung und den späteren sozialen Status, dadurch auch auf die Folgekosten in Gesundheitswesen, Jugendhilfe und auf dem Arbeitsmarkt. In einer Gesellschaft, in der ausreichende Vorsorge gegen Hunger, Seuchen und andere primär körperliche Gesundheitsrisiken getroffen ist, werden Gesundheit und Entwicklung hauptsächlich von Merkmalen der psychischen Gesundheit bestimmt (Abb. 1).

Biopsychosoziales Verständnis von Gesundheit und Krankheit

K. Brockmann und H. G. Schlack
Die WHO hat 1948 mit ihrer Definition der Gesundheit als einen Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur der Abwesenheit von Krankheiten und Gebrechen ein Postulat formuliert, das oft als utopisch bezeichnet wurde. Tatsächlich war aber die WHO mit diesem Konzept sehr weitsichtig, wenn man das heutige Wissen über die Zusammenhänge von Gesundheit, Krankheit und sozialen Lebensbedingungen bedenkt. Auf der Grundlage dieser Sicht wurden zwei wichtige Entwicklungen angestoßen: Zum einen das Konzept der Gesundheitsförderung (d.  h. der Gesunderhaltung auch bei Abwesenheit von Krankheit), zum andern das Verständnis des Zusammenwirkens von somatischen, psychischen und sozialen Prozessen.
Daraus leitet sich die Unterscheidung in objektive und subjektive Merkmale von Gesundheit und Krankheit ab. „Krankheit“ bezeichnet einen abweichenden körperlichen oder seelischen Zustand, der objektiv nachweisbar ist. Demgegenüber beschreibt „Kranksein“ die subjektive Wahrnehmung eines eingeschränkten Befindens, die Erfahrung des Verlusts von Gesundheit. Obwohl aus der Sicht einer überwiegend somatisch orientierten Medizin solche Gesundheitsstörungen, die nicht eindeutig biochemisch oder strukturell definiert und objektivierbar sind, als nicht so recht „seriös“ angesehen werden, bestimmt letztendlich doch vor allem die subjektive Bewertung durch den Patienten (oder durch die Bezugspersonen) die Krankheitslast und die Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitswesens. Die objektive und die subjektive Sichtweise von Gesundheit und Krankheit haben beide ihre Berechtigungen, meinen jedoch unterschiedliche Dinge.
Gesundheit als funktionale Norm wird daran gemessen, ob eine Person in der Lage ist, die durch ihre sozialen Rollen vorgegebenen Aufgaben zu erfüllen. Diese Definition liegt auch der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) zugrunde. Für Kinder und Jugendliche bedeutet dies, dass das zeitgerechte Erreichen der Meilensteine der Entwicklung und die Bewältigung von alterstypischen Entwicklungsaufgaben als ein essenzieller Teil der Gesundheit zu verstehen sind. Sozial- und Gesundheitswissenschaften sind sich einig, dass es sich bei dem Gesundheitsbegriff um ein mehrdimensionales Konstrukt handelt, zu dem neben körperlichem Wohlbefinden (positives Körpergefühl, körperliches Leistungsvermögen, Fehlen von Beschwerden), psychischem Wohlbefinden (Freude, Glück, Lebenszufriedenheit) und sozialer Rollenerfüllung auch Vitalität, Selbstverwirklichung, spirituelle Orientierung und Sinnfindung gehören. Viele Instrumente zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität schließen daher diese Dimensionen ein.

Gesundheitsförderung – eine Aufgabe der Pädiatrie

K. Brockmann und H. G. Schlack
Im biopsychosozialen Verständnis ist Gesundheit nicht einfach ein Normalzustand, der sich nach Überwindung einer allfälligen Krankheit von selbst wieder einstellt, sondern Ausdruck eines dynamischen Gleichgewichts zwischen gesund erhaltenden und krank machenden Faktoren. Daraus leitet sich als logische Folge der Auftrag ab, die Gesundheit des Einzelnen und auch einer ganzen Population durch geeignete medizinische und soziale Maßnahmen zu fördern und zu stabilisieren. Dieses Prinzip liegt sowohl dem Konzept der WHO zur Gesundheitsförderung als auch dem von Antonovsky formulierten Konzept der Salutogenese zugrunde. Beide Konzepte haben für die Pädiatrie eine große praktische Relevanz. Die WHO unterscheidet in der Ottawa-Charta von 1986 zwei grundsätzliche Dimensionen von Gesundheitsförderung, nämlich verhältnisbezogene und verhaltensbezogene Maßnahmen. Zu den verhältnisbezogenen Maßnahmen zählen eine gesundheitsförderliche Politik mit Entwicklung entsprechender Strukturen und Sicherungssysteme, die Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten und die Unterstützung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen. Verhaltensbezogene Maßnahmen zielen in erster Linie auf die Entwicklung persönlicher Kompetenzen, welche dem Einzelnen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über seine Gesundheit ermöglichen. Da eingefahrene gesundheitsschädliche Verhaltensweisen später nur schwer zu beeinflussen sind (was sich u. a. in dem geringen Erfolg von Programmen gegen Adipositas ausdrückt), kommt es auf eine frühestmögliche Einflussnahme auf die gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen des Kindes und seiner Bezugspersonen an.
Im Konzept der Salutogenese nach Antonovsky sind Gesundheit und die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber potenziell krank machenden Faktoren Ausdruck einer persönlichen, aktiv erworbenen psychischen Kompetenz, deren Wurzeln in der Erfüllung essenzieller Bedürfnisse während der Kindheit liegen, die aber lebenslang weiterentwickelt und gestärkt werden muss. Grundlegend dafür sind 3 Überzeugungen, die im Zuge einer positiven Entwicklung zu gewinnen sind:
  • die Überzeugung, dass auch unvertraute Erfahrungen und neue Situationen grundsätzlich verstehbar sind und man nicht dem Chaos ausgeliefert ist (kognitive Bewältigung);
  • die Überzeugung, dass Probleme durch Mobilisierung eigener Kompetenzen und Ressourcen lösbar sind (Selbstwirksamkeit);
  • die Überzeugung, dass auftretende Probleme und Aufgaben einen Sinn haben (können) und es sich lohnt, Kräfte und Fähigkeiten zu ihrer Bewältigung einzusetzen (Sinngebung).
Diese Faktoren bilden gemeinsam das Empfinden des Eingebundenseins („sense of coherence“, SOC), das von Antonovsky als das Fundament der Gesundheit angesehen wird. Kinder, die im Verlauf ihrer Entwicklung ihr soziales Umfeld als vertrauenswürdig und berechenbar und sich selbst im sozialen Kontakt als liebenswert und wertvoll erleben und die durch die Möglichkeit aktiver Mitwirkung und Mitgestaltung im Alltag auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen können, haben günstige Voraussetzungen für die Entwicklung ihres Gesundheitspotenzials. Der Zusammenhang von Defiziten der seelischen Gesundheit aufgrund ungünstiger psychosozialer Bedingungen mit erhöhten Krankheitsrisiken ist auch aus dieser Sicht evident. Dieser Zusammenhang wird durch empirische Befunde im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) bestätigt: Kinder und Jugendliche aus der unteren Sozialschicht berichteten sehr viel häufiger als Angehörige der oberen Sozialschicht über Defizite an Schutzfaktoren und Ressourcen, die für die psychische Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung sind. Dementsprechend waren Defizite an Schutzfaktoren mit einer erhöhten Rate psychischer Auffälligkeiten korreliert.
Damit öffnet sich der Pädiatrie ein Aufgabenfeld, das bisher in seiner Bedeutung noch nicht ausreichend wahrgenommen wird: Die Gesundheitsförderung im frühen Kindesalter durch vorausschauende Beratung junger Familien. Nachweislich lassen sich mit dieser Strategie nicht nur gesundheitsrelevantes Wissen, sondern auch entsprechendes Verhalten günstig beeinflussen und damit Gesundheit und Entwicklung messbar und signifikant verbessern. Zugleich zeigte sich, dass mit diesem präventiven Zugang auch sozial unterprivilegierte („bildungsferne“, „leseungewohnte“) Familien erreicht werden – also eine Zielgruppe, in welcher ein besonders hoher Präventionsbedarf besteht. Es ist kaum vorstellbar, dass es ohne eine wesentlich intensivierte pädiatrische Mitwirkung gelingen wird, eine Trendwende in der Häufigkeit von Defiziten der seelischen Gesundheit im frühen Kindesalter und damit auch in der Epidemiologie der „neuen Morbidität“ herbeizuführen.
Themen, die Gegenstand vorausschauender Beratung sein sollen, sind in Tab. 1 aufgelistet. Der erste Schritt zur praktischen Umsetzung ist der Ausbau sozialpädiatrischer Kompetenzen mit einer Sensibilisierung für die Wahrnehmung von psychosozialen Belastungssituationen in Familien, der Verbesserung der Beratungskompetenz auf diesem Gebiet und der Bereitschaft zur Vernetzung mit nichtärztlichen Hilfsangeboten, z.  B. mit dem Jugendamt und pädagogischen Mitarbeitern in Krippen und Kindergärten. Entscheidend dabei ist eine systemische Sichtweise, die das Kind und seine Bezugsperson(en) als ein verbundenes System versteht: Wenn es der Bezugsperson nicht ausreichend gut geht, sind die Voraussetzungen schlecht, dass sie die essenziellen psychischen Bedürfnisse des Kindes erfüllen kann. Der zweite Schritt wäre das Angebot von Kursen zur Förderung der Elternkompetenz. Solche Angebote gibt es bereits, aber ihrem Ausbau zu einem bedarfsdeckenden und standardisierten System stehen bislang fehlende Finanzierungsregelungen entgegen.
Tab. 1
Inhalte vorausschauender Beratung in den ersten 2 Lebensjahren
Themen
Beratungsinhalte
Psychische Gesundheit, Salutogenese
Bindung, Geborgenheit
Kontinuität der Bezugsperson, Zuwendung, Verlässlichkeit des sozialen Umfelds
Responsives Elternverhalten
Nonverbale und verbale Kommunikation, Signale des Kindes wahrnehmen und verstehen
Anregung, frühe Bildung
Gemeinsames Spiel, gemeinsam gerichtete Aufmerksamkeit und Wahrnehmung
Vorbereitung auf häufige Schwierigkeiten
Regulationsstörungen, Trotzalter
Vorbereitung auf bevorstehende Entwicklungsschritte
Expansions-, Explorations- und Autonomiewünsche des Kindes, ggf. Krippen- oder Tagesmutterbetreuung
Spielentwicklung
Entwicklungsadäquates und ungeeignetes Spielzeug, Eigeninitiative des Kindes anregen, passivem Reizkonsum vorbeugen (kein Fernsehen vor 3. Lebensjahr)
Somatische Gesundheit
Ernährung
Stillen, Prävention der Adipositas, Prävention von Mangelkrankheiten
Infektionsschutz
Impfungen, Expositionsprophylaxe
Allergieprophylaxe
Passivrauchen, Raumklima, hypoallergene Kost
SID- und Unfallprävention
Bettbeschaffenheit, Schlafposition, Sicherheit im Haushalt (Wickeltisch, Fenster, Herd, Spielsachen u.  a.)
Mund-/Zahnhygiene
Zahnpflege, Fluoridgabe, Fütterungsgewohnheiten
SID sudden infant death
Selbstverständlich kann durch pädiatrische Prävention der sozioökonomische Status einer Familie nicht verändert werden; wohl aber ist eine Einflussnahme auf die damit verbundenen Auswirkungen in der psychosozialen Umwelt des Kindes möglich, die im eigentlichen Sinne seine „soziale Benachteiligung“ bewirken.
Zu Möglichkeiten der Gesundheitsförderung in Gemeinschaftseinrichtungen (Abschn. 7).

Lebensraum Familie

K. Brockmann und H. G. Schlack
Das Familienbild ist einem starken Wandel im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen unterworfen. Daher unterscheiden sich die Definitionen des Begriffs „Familie“ je nach dem Kontext. Sozialwissenschaftliche Begriffsbestimmungen stellen in der Regel die Funktion der Familie als Ort des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen heraus und definieren eine Familie als Lebensgemeinschaft von mindestens je einem minderjährigen Kind und einem Erwachsenen.
Traditionelle Familien mit 2 Eltern, die miteinander verheiratet sind, stellen in Deutschland noch immer die häufigste Familienform dar. Ihre Häufigkeit ist aber rückläufig (1996: 81 % der Familienformen, 2016 noch 68 %). Im Jahr 2016 wuchsen 17 % der minderjährigen Kinder bei alleinerziehenden Eltern auf, 9 % in nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Im Jahr 2010 wurde jedes 3. Kind nichtehelich geboren; in den Jahren von 2000 bis 2015 nahm die Rate nichtehelich geborener Kinder von 23,4 % auf 34,9 % zu. Alleinerziehende Eltern sind im Durchschnitt zu 90 % Frauen; in Familien mit Kleinkindern ist der Anteil alleinerziehender Mütter noch größer, während alleinerziehende Väter eher mit Kindern im Schulalter bzw. Jugendlichen zusammenleben (Quelle aller statistischen Angaben: Statistisches Bundesamt, http://www.destatis.de).
Im Jahr 2016 lebten in Deutschland 13,3 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Etwa drei Viertel der Kinder wachsen mit mindestens 1 Geschwisterkind im Haushalt auf. Das bedeutet: Wenn sich Paare für Kinder entscheiden, dann mehrheitlich für mehr als ein Kind.

Adoption

Adoption bedeutet die rechtliche Integration eines Kindes in eine Ersatzfamilie, wobei das Kind die vollen Rechte und Pflichten eines leiblichen Kindes erwirbt. Bei Fremdadoption bestehen zwischen dem Kind und den Adoptiveltern primär keine Beziehungen, meist bleiben die Adoptiveltern den leiblichen Eltern unbekannt (Inkognito-Adoption). Das Ziel der Adoption ist aus Sicht des Kindeswohls, einem Kind in einer Ersatzfamilie günstige Bedingungen für Bindung und Entwicklung zu vermitteln, wenn die leiblichen Eltern subjektiv oder objektiv dazu nicht in der Lage sind. Die Vermittlung von Fremdadoptionen ist lizensierten Adoptionsvermittlungsstellen vorbehalten. Voraussetzung einer Adoption ist die rechtswirksame Einwilligung der leiblichen Eltern. Ein nichtehelicher leiblicher Vater hat Vorrang vor einer fremden Familie, sein Kind zu adoptieren, wenn seine Vaterschaft rechtlich feststeht. Fremdadoptionen erfolgen vorzugsweise im Säuglings- oder Kleinstkindalter, um die in dieser Lebensphase besonders intensiven und wichtigen sozialen Bindungsprozesse zu begünstigen. Stiefkinder- und Verwandtenadoptionen verändern in der Regel nicht die sozialen Beziehungen, sondern legitimieren vielmehr die vorher bereits bestehenden Gegebenheiten. Für Stiefkinder kann die Adoption durch Stiefvater oder Stiefmutter ein wichtiger Schritt zur Stabilisierung des familiären Rahmens und der ökonomischen Sicherung sein: Das gilt insbesondere dann, wenn das Kind den entsprechenden leiblichen Elternteil nicht kennt und deswegen nicht in Loyalitätskonflikte gerät. Stiefkinderadoptionen erfolgen meist im Kleinkind- oder Schulalter, Verwandtenadoptionen oft noch später.
Die Zahl der Adoptionen ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Waren es in 1993 noch 8687 Kinder, wurden 2015 nur noch 3812 adoptiert. Dieser Rückgang betrifft fast ausschließlich die Fremdadoptionen.

Problemfelder der Fremdadoption

Erwartungen und Projektionen elterlicher Wünsche auf das Kind können (wie auch bei leiblichen Kindern) für das Kind eine Belastung darstellen. Bei adoptierten Kindern kann diese Belastung verschärft werden, wenn das Kind aufgrund geringerer intellektueller Ausstattung, unerwarteter Temperamentsmerkmale, besonderen Aussehens (z. B. bei fremder ethnischer Herkunft) oder neuropsychiatrischer Störungen die Hoffnungen und Erwartungen der Adoptiveltern enttäuscht.
Fast alle adoptierten Kinder interessieren sich früher oder später für ihre Herkunftsfamilie. Nicht selten werden die (unbekannten) leiblichen Eltern idealisiert, wenn es – z.  B. in der Pubertät – Konflikte mit den Adoptiveltern gibt. Das wird dann von den Adoptiveltern oft als Ausdruck besonderer Undankbarkeit empfunden. Darüber hinaus beschäftigen sich viele adoptierte Kinder mit den möglichen Gründen, aus denen ihre leiblichen Eltern sie abgegeben haben könnten. Solche Überlegungen können die Quelle von Selbstwertproblemen sein. Daher besteht für Adoptiveltern und adoptierte Kinder ein erhöhter Bedarf an präventiver und auch therapeutischer Beratung. Grundsätzlich soll die Adoption frühzeitig, aber in jeweils altersangemessener Form, zwischen Eltern und Kindern thematisiert werden.

Familienergänzende Betreuung und Erziehung

Familienergänzende Maßnahmen der Jugendhilfe (Hilfe zur Erziehung, §  27 ff. SGB VIII) sind zum einen Hilfen innerhalb des häuslichen Rahmens wie Familienberatung, Erziehungsbeistandschaft und sozialpädagogische Familienhilfe, die vor allem an Familien in belasteten Lebensumständen oder an alleinerziehende Mütter oder Väter adressiert sind. Zum andern gehören Tagespflegestellen, Krippen, Kindergärten und Horte zu den familienergänzenden Institutionen.
Krippen sind Tageseinrichtungen für Kinder bis zum vollendeten 3. Lebensjahr, Kindergärten für Kinder ab 3 Jahren bis zum Beginn der Schulpflicht, Horte für Schulkinder. Der Versorgungsgrad mit Krippen-, Kindergarten- und Hortplätzen und die Nachfrage danach sind regional sehr unterschiedlich mit einer ausgeprägten, historisch begründeten Differenz zwischen alten und neuen Bundesländern. Seit 1996 hat jedes Kind ab Vollendung des 3. Lebensjahres einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz; ab 2013 gibt es zusätzlich den Rechtanspruch auf einen Krippenplatz für Kinder unter 3 Jahren. Die Bedeutung der Kindergartenerziehung als einer im engeren Sinne familienergänzenden Einrichtung ist allgemein anerkannt, insbesondere unter dem Aspekt, dass viele Bereiche sozialen Lernens in den heutigen kinderarmen Familien nur schwer zu erleben sind. Demgegenüber gibt es noch verbreitete Vorbehalte (nicht zuletzt unter Pädiatern) gegen die Betreuung in Krippen von Kindern unter 3 Jahren. Die Sorge, dass frühe Tagesbetreuung Kindern generell schadet, ist aber nach dem aktuellen Stand des Wissens unbegründet. Beziehung und Bindungssicherheit zwischen Eltern und Kind werden durch eine ausreichend gute Tagesbetreuung nicht beeinträchtigt. Entscheidend sind die Qualität der Bindung zu den familiären Bezugspersonen und die Feinfühligkeit der Bezugspersonen in der Krippe.
An die Qualität der außerfamiliären Tagesbetreuung von Kindern unter 3 Jahren müssen in jedem Fall hohe Anforderungen gestellt werden. Der Erzieher-Kind-Schlüssel wird in Abhängigkeit vom Alter der Kinder festgelegt. Je jünger die Kinder sind und je altershomogener die Gruppe zusammengesetzt ist, desto kleiner muss die Gruppe sein. Die räumlichen Verhältnisse müssen den Bedürfnissen sehr junger Kinder Rechnung tragen, insbesondere im Hinblick auf die psychomotorische Entwicklung, die noch nicht vorhandene Kontrolle der Ausscheidung, die Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme und das Schlafbedürfnis. Die personelle Ausstattung erfordert eine hohe fachliche und persönliche Qualifikation der Betreuungspersonen. Wichtig sind außerdem allmähliche Übergänge im Rahmen der Eingewöhnung des Kindes sowie eine gut funktionierende Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Eltern und Erziehern. Krippen und Kindertagespflegestellen, welche den Mindestanforderungen an Qualität nicht genügen, stellen für die dort betreuten Kinder ein Entwicklungsrisiko dar.
Der Ausbau qualitativ guter Krippen ist eine wichtige Voraussetzung für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Berufstätigkeit von Müttern, insbesondere von alleinerziehenden Müttern, ist anscheinend ein Schutzfaktor im Hinblick auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Insgesamt ist deren Risiko für psychische Störungen in Familien mit alleinerziehenden Müttern mit 23,9 % fast doppelt so hoch wie bei Kindern und Jugendlichen aus vollständigen Familien (13,3 %); bei nichtberufstätigen alleinerziehenden Müttern beträgt der Anteil 30,5 %, bei Vollzeitberufstätigen 19,6 % und bei Teilzeitberufstätigen 22,0 %.

Familienersetzende Maßnahmen und Kinderschutz

K. Brockmann und H. G. Schlack
Rechte und Pflichten von Eltern und der staatliche Auftrag, darüber zu wachen, werden von Artikel 6, Abs.  2 des Grundgesetzes beschrieben: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“. Daraus leitet sich ab, dass staatliche Eingriffe in Elternrechte geboten sind, wenn Eltern ihren Aufgaben und Pflichten nicht gerecht werden.
Bis zur Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres bildet die elterliche Sorge den rechtlichen Rahmen für den Schutz- und Fürsorgebedarf des Kindes. Nach Feststellung des Bundesverfassungsgerichts ist das in Art. 6(2) GG formulierte Elternrecht als treuhänderisches und fremdnütziges Recht zu verstehen, nämlich als eine von den Eltern für die Kinder übernommene Verantwortung. Das elterliche Sorgerecht umfasst das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen (§ 1631 BGB). Die Eltern sind verpflichtet, dem Kind eine angemessene Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen (§ 1631a BGB) und im Krankheitsfall die notwendige ärztliche Hilfe zuteilwerden zu lassen, einschließlich der Einwilligung in notwendige Heileingriffe. „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlung“ sind gesetzlich verboten (§ 1631 BGB). Allerdings bleibt bei dieser Formulierung noch zu viel Raum für gesetzlich nicht geächtete gewalt- und repressionsgeladene Erziehungsformen. Die Formulierung des § 1631 BGB bleibt hinter den Forderungen des Art. 19 der UN-Kinderrechtskonvention (die von Deutschland ratifiziert wurde) zurück.
Wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch missbräuchliche Ausübung oder Vernachlässigung der elterlichen Sorge gefährdet ist und die Eltern nicht willens oder in der Lage sind, Abhilfe zu schaffen, hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen (§ 1666 BGB). Im äußersten Fall kann das die Trennung des Kindes von der elterlichen Familie und die Entziehung der Personensorge insgesamt bedeuten (§ 1666a BGB). In vielen Fällen ist die (zeitweilige) Suspendierung von Elternrechten ausreichend, z.  B. der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechtes, um die Durchführung einer klinischen Behandlung gegen den Willen der Eltern (etwa nach Misshandlung des Kindes) oder den Verbleib in einer Pflegefamilie zu sichern. Es wird geschätzt, dass ein Drittel bis die Hälfte der Unterbringung von Kindern in Pflegestellen auf derartigen richterlichen Entscheiden beruht.
Der Kinderschutz bei Gefährdung des Kindeswohls ist den Jugendämtern übertragen (§ 8a SGB VIII). Mit der Inobhutnahme (§ 42) sieht das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) die Möglichkeit einer Krisenintervention vor, wenn Gefahr im Verzug ist. Das Jugendamt ist verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche darum bittet oder wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes besteht (z.  B. bei Misshandlung). Erfolgt diese Maßnahme gegen den Willen des oder der Sorgeberechtigten, so muss das Jugendamt unverzüglich eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts herbeiführen. Bei offensichtlicher Gefährdung des Kindeswohls ist das Jugendamt außerdem befugt, ein Kind oder einen Jugendlichen ohne Zustimmung des oder der Sorgeberechtigten aus einer Pflegestelle oder Einrichtung herauszunehmen (§ 43) und in einer besser geeigneten Stelle unterzubringen. Wie bei der Inobhutnahme ist eine richterliche Entscheidung erforderlich, falls die sorgeberechtigten Personen nicht nachträglich zustimmen.

Gemeinschaftseinrichtungen

K. Brockmann und H. G. Schlack
Da alle Kinder die Schule und die meisten Kinder davor einen Kindergarten besuchen, spielen diese Gemeinschaftseinrichtungen eine große Rolle in der Lebenswelt der Kinder. Dieser Bedeutung entsprechen wichtige Aufgabenfelder in Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung. Während der Gesundheitsschutz (etwa in Form regelmäßiger Überprüfungen von Unfallprävention und Einhaltung von Hygienevorschriften oder erforderlichenfalls seuchenhygienischer Maßnahmen nach den Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes) in der Zuständigkeit des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) liegt, werden Maßnahmen der Gesundheitsförderung (Abschn. 3) zunehmend von anderen Partnern des Gesundheitswesens wahrgenommen, nachdem die Möglichkeiten des ÖGD allenthalben durch Personalabbau eingeschränkt wurden. Beispiele sind das Projekt „Gesund macht Schule“, getragen von Ärztekammern und der AOK in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Sachsen-Anhalt mit der Förderung eines gesundheitsbewussten Ernährungs- und Bewegungsverhaltens, Stärkung der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung und gesundheitsförderlicher Gestaltung der Schule und ihrer Umgebung mit Einbindung der Eltern, oder auch die gezielte funktionelle Förderung entwicklungsauffälliger Kinder in Kindertagesstätten unter Mitwirkung der Jugendhilfe in Mecklenburg-Vorpommern. Diese Beispiele sind zweifellos sinnvoll und nachahmenswert. Sie zeigen aber auch, dass es in Deutschland kein flächendeckendes und einigermaßen einheitliches Konzept für die Gesundheitsförderung im Kindesalter gibt, welches dazu beitragen könnte, sozialkompensatorisch der Chancenungleichheit im Bereich der Gesundheit entgegenzuwirken. Im „Setting-Ansatz“, also durch Angebote in Gemeinschaftseinrichtungen, ist es am ehesten möglich, Gesundheitsförderung auch an Kinder heranzutragen, deren Eltern sich dafür wenig engagieren.
Eine wichtige ärztliche Mitwirkungsmöglichkeit an der Schulgesundheitspflege liegt in den Schuleingangsuntersuchungen. Ihre wesentliche Funktion liegt in der Feststellung etwa vorhandener Gesundheitsstörungen, die eine medizinische Intervention erforderlich machen (z.  B. Behandlung von Seh- oder Hörstörungen) oder aber einen besonderen sonderpädagogischen Förderbedarf begründen. Wenn bei der schulärztlichen Untersuchung ein Behandlungsbedarf auf medizinischem Gebiet festgestellt wurde, hat der Öffentliche Kinder- und Jugendgesundheitsdienst die Möglichkeit, im Rahmen der nachgehenden Fürsorge die tatsächliche Veranlassung der notwendigen Maßnahme durch die Eltern zu überprüfen.

Armut und Bildungschancen

K. Brockmann und H. G. Schlack
Die für Gesundheit und Entwicklung relevanten ökonomischen Ressourcen (Abschn. 1) und die Bildungschancen von Kindern sind in Deutschland sehr ungleich verteilt; beides hängt miteinander zusammen. Bezüglich der sich daraus ergebenden Chancengerechtigkeit nimmt Deutschland im Vergleich der OECD-Staaten nur einen Platz im unteren Mittelfeld ein.
Kinder sind in Deutschland die am stärksten von Armut bedrohte Bevölkerungsgruppe, und zwar desto mehr, je jünger sie sind. Besondere Risikofaktoren sind Arbeitslosigkeit der Eltern oder deren Beschäftigung im Niedriglohnbereich, alleinerziehende Eltern, Familien mit 3 und mehr Kindern sowie ein Migrantenstatus. Mehr als jedes 4. Kind lebt im Armutsrisiko (nach EU-weitem Konsens definiert als Familieneinkommen, das weniger als 60 % des durchschnittlichen Einkommens in der Bevölkerung beträgt), wobei zwei Drittel davon als dauerhaft arm gelten. Mehr als jedes 3. Kind unter 18 Jahren erhält staatliche Transferleistungen zur partiellen oder vollständigen Finanzierung des Lebensunterhalts. Seit 2000 steigen diese Quoten leicht, aber stetig. Mit dem Wohlstand einer Gesellschaft steigen in der Regel nicht nur die Lebenshaltungskosten, sondern auch die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich, sodass die Teilhabemöglichkeiten der armen Bevölkerung auch bei allgemein günstigem Wohlstandsniveau erheblich beeinträchtigt sind. Im Vergleich zu Kindern aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status unternehmen arme Kinder seltener etwas zusammen mit ihren Eltern, haben weniger Zugang zu kulturellen Angeboten, die etwas kosten (z. B. Musikunterricht, Sportvereine), sie wohnen in ungünstigen Umgebungen und schlechteren Wohnungen, haben weniger stützende Peer-Kontakte und können nur in geringem Umfang die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen. Solche Nachteile zu kompensieren gelingt nur Kindern mit einer stabilen psychischen Gesundheit, die zu erwerben unter Bedingungen von chronischem sozialem Stress allerdings erheblich erschwert ist.
Auf diese Weise manifestieren sich bei Kindern, die unter den Bedingungen von Armut aufwachsen, bereits im Kleinkind- und Vorschulalter Erfahrungsdefizite, die in vielen Fällen noch zusätzlich durch subtile oder offene soziale Ausgrenzung verstärkt werden. Dieser Prozess setzt sich in der Schule fort. Im 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (2005), der sich schwerpunktmäßig mit den Bildungschancen beschäftigt, wird auf die historischen Besonderheiten der Entwicklung im westlichen Nachkriegsdeutschland hingewiesen: Kindergarten und Schule waren grundsätzlich als Halbtagsangebote konzipiert, orientiert am klassischen Familienmodell mit einem berufstätigen Vater und einer für Haushalt und Kinder zuständigen, nicht berufstätigen Mutter. Eine Änderung der Organisationsform hin zu Ganztagsangeboten ist zwar im Gange, aber vorerst nur teilweise umgesetzt, sodass die Bildungschancen von Kindern überwiegend von den Angeboten und Möglichkeiten innerhalb der Familie geprägt sind. Deshalb sind Schulkarrieren und Bildungsabschlüsse in Deutschland so stark vom sozioökonomischen Status der Familie abhängig wie kaum in einem anderen vergleichbaren Land.
Kinder, die von ihren Eltern nicht ausreichend gefördert werden, wie z.  B. zahlreiche Kinder aus bildungsfernen Familien und ein Teil der Kinder mit Migrationshintergrund, profitieren bereits im Kleinkindalter deutlich von einer guten Tagesbetreuung. Diese Förderung kann dazu beitragen, Begabungen dieser ansonsten benachteiligten Kinder zu fördern und die Chancengerechtigkeit zu verbessern. Wie in einer Übersicht über 38 Studien in den USA dokumentiert wurde, können Lernfähigkeit und Schulerfolg durch sozialkompensatorische Fördermaßnahmen nachhaltig verbessert werden. Ohne solche Anstrengungen besteht ein hohes Risiko, dass Bildungsferne, schlechte schulische bzw. berufliche Qualifikation und niedrige Sozialschicht einen Circulus vitiosus bilden, der sich in jeder Generation wiederholt.

Kinder kranker Eltern

C. Deneke
Die besondere Problematik von Kindern psychisch kranker Eltern ist im Verlauf der letzten 15 Jahre zunehmend in den Blick der Fachöffentlichkeit geraten. Die steigende Zahl von wissenschaftlichen Publikationen und Unterstützungsprojekten trägt der Tatsache Rechnung, dass sie eine Gruppe mit hohem Risiko für Entwicklungsstörungen und seelische Erkrankungen darstellen. Die Angaben zur Anzahl betroffener Kinder in Deutschland schwanken – je nachdem, welche Erkrankungen in die Berechnungen einbezogen wurden – zwischen 1,5 Mio. und 3 Mio.
Bei einer repräsentativen Umfrage zur Häufigkeit chronischer körperlicher Erkrankungen eines Elternteils waren von 2000 Familien 4,1 % betroffen. Bei Patienten in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung war die Prävalenz mit 8 % etwa doppelt so hoch. Systematische Forschung und Entwicklung adäquater Unterstützung sind für diese Gruppe noch rar, beispielhaft ist das europäische Forschungsprojekt „Children of Somatically Ill Parents, COSIP“.

Belastungen der Kinder

Ist ein Elternteil längerfristig krank, so betrifft es die ganze Familie. Die Kinder sind stärker auf sich gestellt, mit ihrer Verunsicherung, ihren Sorgen und Ängsten meist allein gelassen. Sie übernehmen Verantwortung und Aufgaben für die erkrankte Person. Oft sind sie mit vermehrter emotionaler Bedürftigkeit des kranken Elternteils konfrontiert. Die Rollenumkehr (Parentifizierung) ist nicht nur daran gebunden, dass das Kind konkrete Aufgaben übernimmt, sondern dass es sich verantwortlich fühlt, evtl. auch die Rolle des Trösters übernimmt. Somit können schon Kleinkinder parentifiziert sein, d.  h. den Bedürfnissen der Eltern angepasst eine fürsorgliche Haltung entwickeln. Frühe Verantwortlichkeit kann die Kinder überfordern, aber auch einen Anreiz zu psychischem Wachstum bedeuten – auf jeden Fall bedingt sie eine disharmonische Entwicklung, in der vorzeitig „erwachsene“ prosoziale Eigenschaften zu Tage treten, „kindliche“ Bedürfnisse (z.  B. nach unbeschwertem Spiel, Kontakten zu Gleichaltrigen, aber auch eigene Abhängigkeitswünsche) vernachlässigt werden. Dementsprechend entwickelt sich ein Teil der betroffenen Kinder eher übermäßig angepasst, „auffällig unauffällig“. Der innere und äußere Raum der Kinder für die eigene Entwicklung ist eingeschränkt – durch konkrete fürsorglich-pflegerische Tätigkeit wie auch durch die Gefühle von Sorge, Angst, Wut und Hilflosigkeit sowie Schuldgefühle und Loyalitätskonflikte, die sie überwiegend für sich alleine bewältigen müssen.
Bei Kindern schwer körperlich kranker Eltern stellt die Auseinandersetzung mit dem möglichen Tod und den damit verbundenen existenziellen Fragen eine spezifische Belastung dar. Bei den Kindern psychisch kranker Eltern stehen emotionale und kognitive Verwirrung über die unverständlichen Zustände der erkrankten Person im Vordergrund. Die meistens eingeschränkte Empathie- und Zuwendungsfähigkeit der kranken Person beeinträchtigt jüngere Kinder in tief greifender Weise in ihrer Persönlichkeits- und Beziehungsentwicklung, bei älteren Kindern verursacht sie schwer erträgliche, zwiespältige Gefühle.
Um mit diesen schwerwiegenden Belastungen leben zu können, benötigten die Kinder für sie verständliche Information, einfühlsame Begleitung und ein kompensierendes Beziehungsangebot durch eine tragfähige, ihnen zugewandte Person. Gerade daran fehlt es meist in den betroffenen Familien, in denen jedes Mitglied seine Kräfte darauf richtet, den vermehrten Anforderungen zu genügen. Auch sind Themen wie Krankheit (vor allem psychische Krankheit) und Tod weitgehend tabuisiert.

Reaktionsformen der Kinder

Säuglinge erleben krankheitsbedingte Trennungen existenziell bedrohlich, für Kleinkinder bekommen sie eher einen Bestrafungsaspekt. Von Vorschulkindern kennen wir die Vorstellung, schuld an der Erkrankung zu sein, sie durch eigene „böse“ Gedanken oder Rücksichtslosigkeit verursacht zu haben. Die bedrückte Atmosphäre in der Familie legt ihnen nahe, sie dürften selbst nicht fröhlich sein. Schulkinder denken über Ursachen und Folgen der Krankheit nach, empfinden Besorgnis (auch um die eigene Gesundheit) und Verantwortung sehr stark und neigen dazu, eigene Gefühle und Bedürfnisse als unwichtig zurückzustellen. Die altersangemessene Ablösung der Adoleszenten wird durch die Loyalität dem erkrankten Elternteil und der Familie gegenüber erschwert.

Postpartale Depression

Nach ca. 10 % aller Geburten kommt es zur postpartalen Depression, bei Frauen aus Risikopopulationen häufiger (bis 35 %). Die typischen Anzeichen der Depression – Erschöpfung, Verstimmung, Antriebs- und Freudlosigkeit, Gefühlsleere, Hoffnungslosigkeit, fruchtloses Grübeln, Suizidalität – treten vorwiegend in den ersten 3 Monaten, doch teilweise auch mit einer Latenz von mehreren Monaten nach der Geburt auf.
Besonders problematisch sind die Gefühlsleere, wenn sie auch das Kind betrifft, und die fast immer vorhandene Störung der Interaktion mit dem Kind. Depressive Mütter sind im Schnitt weniger responsiv, weniger positiv zugewandt und spielerisch im Kontakt zum Säugling. Dieser reagiert mit Rückzug, Verstimmung, Explorations- und Kommunikationsunlust. Bereits nach 3 Monaten ausschließlichen Zusammenlebens mit einer depressiven Mutter wirkt das Baby auf die beschriebene Weise selbst depressiv und bleibt in seiner Entwicklung zurück. Folgen sind in bis zu 60 % der Fälle hoch unsicher-desorganisierte Bindung (eine Ausgangsbedingung für spätere Psychopathologie) und, je nach kompensierenden Möglichkeiten der Umgebung, mehr oder weniger ausgeprägte Entwicklungsdefizite und emotionale Störungen.
Grundsätzlich ist deshalb bei psychischen Erkrankungen der Mütter von kleinen Kindern – so auch bei der postpartalen Depression – neben der mütterlichen Erkrankung auch die Störung der Interaktion zu behandeln. Diese kann sich in unterschiedlicher Weise zeigen und neigt dazu, bei zusätzlicher Risikobelastung über die symptomatische Besserung hinaus zu chronifizieren, was den Boden für spätere kindliche Psychopathologie bereitet. Auch muss das Baby auf emotionale Auffälligkeiten und Entwicklungsdefizite hin diagnostiziert und durch geeignete Maßnahmen unterstützt werden.

Prävalenz psychopathologischer Auffälligkeiten

Für Kinder körperlich kranker Eltern wird eine auf etwa das Doppelte der Norm erhöhte Prävalenz psychischer Auffälligkeiten (um 30 %) beschrieben. Es besteht eine deutliche Tendenz zu internalisierenden Symptomen, wobei jüngere Kinder und adoleszente Mädchen besonders vulnerabel erscheinen. Da es sich dabei nur um Querschnittsdaten handelt, sind eventuell mit einer Latenz auftretende Probleme nicht erfasst.
Die Rate an psychischen Störungen ist bei Kindern psychisch kranker Eltern noch höher. Das Risiko, im Laufe ihres Lebens an Schizophrenie zu erkranken, ist für Kinder mit einem schizophrenen Elternteil (gegenüber Kindern mit psychisch gesunden Eltern) etwa 10-fach erhöht. Im Kindesalter finden sich verschiedene Störungen der sozial-emotionalen und kognitiven Entwicklung in bis zu 60 % der Fälle. Ähnlich sind die Kinder affektiv erkrankter Eltern gefährdet: Ihr Risiko, an schwerer Depression zu erkranken ist bei einem depressiven Elternteil 6-fach, für andere affektive Störungen 2- bis 3-fach erhöht, wobei ein Teil der depressiven Erkrankungen schon im Kindesalter beginnt. Unspezifische psychische Störungen zeigen sie in ähnlich hohem Maße wie die Kinder schizophrener Eltern. Bei elterlicher Angststörung ist die Gefahr einer Angsterkrankung für das Kind 7-fach erhöht. Vergleichsstudien ergeben, dass Kinder von persönlichkeitsgestörten Eltern die schlechtesten Entwicklungsbedingungen haben, vor allem wenn Suchtprobleme und Gewalt hinzukommen. Suchtkrankheiten der Eltern sind die häufigste Ursache vernachlässigenden, unberechenbaren und gewalttätigen Verhaltens.

Risiko- und Schutzfaktoren

Entscheidend für die psychische Gesundheit der Kinder sind die (mit der elterlichen Erkrankung verbundenen oder unabhängig davon vorhandenen) Risikobedingungen, unter denen sie leben sowie andererseits ihre persönlichen und sozialen Ressourcen.
Risikofaktoren bei Kindern psychisch kranker Eltern
Für Kinder psychisch kranker Eltern gilt:
  • Schwere und Chronizität der elterlichen Krankheit sowie die allgemeinen psychosozialen Risikofaktoren (die in ihrer Wirkung kumulieren!) spielen eine größere Rolle für die kindliche Entwicklung als die spezifische Diagnose.
  • Trotz genetischer Einflüsse sind es hauptsächlich die Umweltbedingungen, die zur Manifestation der Veranlagung führen oder aber sie verhindern.
  • Deshalb sind präventive Interventionen, die an den Lebensbedingungen der Kinder ansetzen und ihre Ressourcen stärken, gerade bei vulnerablen Kindern notwendig.
Die psychosozialen Risikofaktoren bei Familien mit psychisch kranken Eltern sind mit den allgemeinen Risiken für die kindliche Entwicklung identisch, kommen hier allerdings gehäuft vor. Dazu gehören vor allem:
  • Einelternfamilie,
  • anhaltende Paarkonflikte,
  • soziale Isolation,
  • ungünstige Wohnverhältnisse,
  • Schwierigkeiten beim Broterwerb,
  • Vernachlässigung,
  • feindseliges Elternverhalten.
Risikofaktoren bei Kindern körperlich kranker Eltern
Bei Kindern körperlich kranker Eltern wurde eine Diagnose als Risikofaktor identifiziert: Kinder mit an Krebs erkrankten Eltern zeigten unabhängig von Verlauf und Prognose höhere Raten an psychischen Auffälligkeiten. Deutlich war der Einfluss weiterer, teils mit der Krankheit assoziierter Risiken: elterliche Depressivität und Dysfunktionalität der Beziehungsgestaltung in der Familie.
Schutzfaktoren
Schutzfaktoren sind personale und soziale Ressourcen, die den Einfluss des Risikos bzw. seine negativen Folgen mindern, die Selbstachtung und Selbstzufriedenheit der Kinder stärken sowie günstige soziale Rahmenbedingungen schaffen. Als allgemeine Schutzfaktoren für Kinder gelten: Gesundheit, unkompliziertes Temperament, kognitive und soziale Kompetenz, positive Selbstkonzepte, Kohärenzgefühl, mindestens eine stabile Vertrauensbeziehung zu einer erwachsenen Person, warmes, verständnisvolles Erziehungsklima, gute Paarbeziehung der Eltern, soziale Unterstützung und sozialer Rückhalt.
Als besonders im Kontext einer elterlichen psychischen Erkrankung wirksame Schutzfaktoren sind nachgewiesen: Information des Kindes über die elterliche Erkrankung und angemessene Krankheitsbewältigung in der Familie. Dies dürfte auch bei körperlichen Erkrankungen der Eltern eine wichtige Ressource darstellen.

Präventive Interventionen

Familienberatung ist als wirkungsvolle Prävention psychischer Störungen der Kinder bei elterlicher Depression nachgewiesen und wird auch für Kinder körperlich kranker Eltern als Methode der Wahl vorgeschlagen. Ihre Ziele sind (dem Konzept des COSIP-Projektes folgend):
  • Bezogen auf das Familiensystem: Offene Kommunikation über die elterliche Erkrankung, flexibler Umgang mit den divergierenden Bedürfnissen der einzelnen Familienmitglieder, Reduzierung altersunangemessener Parentifizierung.
  • Bezogen auf die Eltern: Erhöhung der emotionalen Verfügbarkeit und des Kompetenzerlebens der Eltern.
  • Bezogen auf die Kinder: Verbesserung des kognitiven Verstehens der elterlichen Erkrankung, Legitimierung eigener Gefühle und Bedürfnisse, Unterstützung aktiver Bewältigungsstrategien, Integration ambivalenter Gefühle, Unterstützung antizipierender Trauerarbeit.
Bei den Präventionsprojekten für Kinder psychisch kranker Eltern in Deutschland ist Familienberatung jeweils ein zentraler Teil. Die einzelnen Projekte beziehen sich auf verschiedene Altersgruppen und verschiedene Settings. Sie reichen von der Eltern-Kind-Behandlung in der Psychiatrie über Projekte für Kinder und Jugendliche im ambulanten bzw. stationären Setting bis zu Patenschaften, Elterntrainings, Elterngruppen und stationären Angeboten für ganze Familien (Übersicht bei Wiegand-Grefe et al. 2011 und im Internet http://www.bag-kipe.de).

Migration und Migrationsstatus

F. Aksu

Definitionen

Solange die Menschheit besteht, gibt es Auswanderung. Von einer internationalen Migration spricht man, wenn jemand seinen Wohnsitz über mindestens 1 Jahr in das Ausland verlagert. Als Assimilation bezeichnet man die Anpassung an die neue Gesellschaft, ohne dass der Migrant seine eigene Identität beibehält, mit interpersonellen Nachteilen. Optimal ist die Integration, wobei sich der Migrant bewusst für beide Identitäten entscheidet und lebt. Bei Segregation entscheidet sich der Migrant für die ursprüngliche soziale Identität. Er findet dadurch keine Bindung in seiner neuen Lebenswelt. Unter Diffusion versteht man einen Zustand ohne echte Entscheidung (sektorale Identität). Marginalisierung stellt aufgrund der höheren sozialen und gesundheitlichen Risiken die ungünstigste Form des Umgangs mit Migration dar.
Laut Statistischem Bundesamt wird der Begriff Migrationshintergrund wie folgt definiert: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.“
Diese Definition umfasst im Einzelnen folgende Personen:
1.
zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer;
 
2.
zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte;
 
3.
(Spät-)Aussiedler;
 
4.
mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Nachkommen der drei zuvor genannten Gruppen.
 
Am 31.12.2016 betrug die Anzahl der bereits eingebürgerten Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland 18,6 Mio., 22,5 % der Gesamtbevölkerung (Tab. 2). Von den 10 Mio. Menschen mit Ausländerstatus (Migranten ohne erworbene deutsche Staatsbürgerschaft) hatten 4,3 Mio. (43 %) eine EU-Staatsbürgerschaft. Lediglich 5,7 Mio. (57 %) kamen aus Nicht-EU-Ländern. Dabei stellen die Türken mit 1,5 Mio. (1,8 % der Gesamtbevölkerung) die stärkste Gruppe dar. Besonders hervorzuheben ist hierbei eine ethnische, kulturelle und religiöse Heterogenität, die u.  a. eine Versorgung durch kommunale Dolmetscherzentralen notwendig macht.
Tab. 2
Immigration in Deutschland 2016 (Gesamtbevölkerung: 82,5 Mio.; Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand 31.12.2016)
 
Gesamtzahl
Anteil an der Bevölkerung (%)
Personen mit Migrationshintergrund (Deutsche)
18,6 Mio.
22,5
Personen mit Ausländerstatus
10,0 Mio.
12,1
Aus EU-Ländern, davon
4,3 Mio.
5,2
- Polen
783.085
0,9
- Italien
611.450
0,7
- Rumänien
533.660
0,6
- Griechenland
348.475
0,4
- Ungarn u. a.
192.340
0,2
Aus Nicht-EU-Ländern, davon
5,7 Mio.
6,9
- Türkei
1,5 Mio.
1,8
- Syrien
637.845
0,7
- Afrika
510.535
0,6
- Afghanistan
253.485
0,3
- Russische Föderation
245.380
0,3
- Irak
227.195
0,3
- China
129.150
0,2
- Vereinigte Staaten (USA), u. a.
114.145
0,1

Wege für eine gelungene Migration

Zu einer erfolgreichen Migration müssen das Einwanderungsland und die Einwanderer gleichermaßen beitragen.
Die politischen Bemühungen des Staates müssen das vordringliche Ziel haben, ein gutes Zusammenleben aller Menschen in Deutschland zu ermöglichen. Dazu müssen für die Einwanderer Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe eröffnet werden und zwar im Bereich von
  • gemeinsamem Wohnen ohne Ghettobildung,
  • Gesundheitswesen und Sprachförderung,
  • frühkindlicher Bildung,
  • Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarktintegration,
  • sozialer Integration sowie
  • gesellschaftlicher und politischer Partizipation.
Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) bestätigte, dass im Hinblick auf die Gesundheit der immigrierten Kinder und Jugendlichen in vielen Bereichen bisher keine Chancengleichheit vorliegt. Im diesbezüglichen Kinder- und Jugendbericht wird darauf hingewiesen, dass alle Heranwachsenden mit Migrationshintergrund und ihre Familien unabhängig von ihrem Rechtsstatus Zugang zu Angeboten gesundheitsbezogener Prävention und Gesundheitsförderung erhalten müssen.
Die Migranten müssen den Willen zeigen, sich in die deutsche Gesellschaft einzugliedern. Dies ist in erster Linie auf zweierlei Weise möglich:
  • durch Erwerben der Fähigkeit, sich in der neuen Gesellschaft verständlich zu machen und verstanden zu werden (Sprache),
  • durch Aneignung von Bildung mit der daraus folgenden Chance, in die nächste soziale Schicht aufzusteigen (Bildung).
Das Erlernen der Sprache des Landes, in dem die Migranten in Zukunft leben wollen, stellt somit eine Schlüsselfunktion dar. Parallel dazu hat aber der Staat die Aufgabe, den Migrantinnen und Migranten einerseits diesen Lernprozess zu ermöglichen und andererseits eine Hilfestellung bei Kommunikationen im Gesundheit- und Sozialwesen zu geben, bis der/die MigrantIn diese Eigenschaften erworben hat.

Kulturelle und religiöse Einflüsse auf die medizinische Versorgung

Die oben erwähnte ethnische und religiöse Heterogenität der Migranten führt neben sprachlichen zu kulturellen Kommunikationsbarrieren und damit zu besonderen Herausforderungen für die medizinische Versorgung. In der Perzeption des „Andersartigen“ werden Kulturbarrieren zum gesellschaftlichen Schlüsselfaktor, der auch in das Gesundheitswesen bzw. den Krankenhausalltag hineingetragen wird.
Kulturelle und religiöse Einflüsse auf das Kind und sein Umfeld sowie unterschiedliche Umwelt- oder soziale Lebensbedingungen im Herkunfts- und Aufnahmeland führen zu ungünstigen Bedingungen mit einer Kumulation von Risikofaktoren, zumal kulturelle Faktoren in fachlichen Standards und Leitlinien immer noch unzureichend berücksichtigt werden. Migranten haben oft ein anderes Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Kulturelle und religiöse Unterschiede, aber auch mangelnde Sprachkenntnisse führen zu Missverständnissen oder gar Fehldiagnosen.
Während beispielsweise fast alle befragten Eltern aus dem westlich-christlichen Kreis die onkologische Diagnose erfahren wollen, bevor sie ihren Kindern mitgeteilt wird, lehnten Eltern mit arabisch-muslimischer Herkunft in der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln streng ab, dass die Diagnose ihrem Sohn im Schulalter mitgeteilt wird. Sie bezeichneten diese Vorgehensweise als „informative Vergewaltigung“ eines Kindes.
Ein weiteres Beispiel betrifft das elterliche Verhalten bei Fieber: Bei deutschen Eltern ist das Entfernen von übermäßiger Bekleidung eine routinemäßige fiebersenkende Maßnahme. Bei türkischen Eltern bzw. Großeltern ist es traditionell eher üblich, fiebernde Kinder übermäßig warm zu halten.

Teilnahme an Kindergesundheitsuntersuchungen

Im 1. Integrationsbericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2009) wurde darüber berichtet, dass Unterschiede bei der Inanspruchnahme von Angeboten der Gesundheitsprävention bestehen (Abb. 2). Kinder mit Migrationshintergrund sind etwas seltener geimpft und durchlaufen zu erheblich geringeren Teilen vollständig die Früherkennungsuntersuchungen als gleichaltrige Kinder der Gesamtbevölkerung (U3–U9: 82,3 % der Kinder in der Gesamtbevölkerung; 70,4 % bei Kindern mit Migrationshintergrund und 62,5 % bei denjenigen ohne deutsche Staatsbürgerschaft). Bei Familien mit einseitigem Migrationshintergrund beobachtet man allerdings einen transkulturellen Einfluss durch den deutschen Elternteil. Hierbei lag die Inanspruchnahme von Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen bei 80 %.

Aufgaben der Kinder- und Jugendärzte

Viele Probleme von Migrantenkindern und ihren Familien lassen sich nur im gesamtgesellschaftlichen Rahmen lösen. In diesem Diskurs haben Kinder- und Jugendärzte eine Schlüsselrolle in der Unterstützung der Rechte aller Kinder auf gleichberechtigten Zugang zu Gesundheit, Zahngesundheit, medizinischer Versorgung und Bildung auf der Grundlage der UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Um dem gesellschaftspolitischen Auftrag „alle Kinder gleich zu behandeln“ nachzukommen, muss es neben dem fakultativen individuellen Beitrag jedes einzelnen Arztes einen medizinischen Mindeststandard in den Krankenhäusern mit öffentlichem Versorgungsauftrag geben.
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