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Pädiatrie
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Publiziert am: 05.04.2019

Spinozerebelläre Ataxien und hereditäre spastische Paraplegien bei Kindern und Jugendlichen

Verfasst von: Nicole I. Wolf
Zerebelläre Ataxien im Kindesalter haben eine breite Differenzialdiagnose. Erster Schritt in der Diagnostik ist die MRT-Untersuchung des Gehirns. Bei einem Normalbefund oder einer zerebellären Atrophie, die bei vielen Erkrankungen gefunden wird, ist die nächste diagnostische Stufe die genetische Diagnostik, am besten als Untersuchung eines Genpanels. Die häufigste Heredoataxie ist die Friedreich Ataxie. Die kraniale MRT ist hier normal. Da beinahe alle Patienten ein Triplet-Repeat auf beiden Allelen von FXN tragen, wird diese Erkrankung nicht immer mit Next-generation-Sequenzierungstechniken erfasst. Auch bei hereditären spastischen Paraplegien ist die kraniale MRT meist nicht hilfreich für die Diagnose. Eine breite genetische Diagnostik sollte am Beginn der Abklärung stehen.

Spinozerebelläre Ataxien

Die zerebellären Ataxien zeichnen sich aus durch eine Störung von Gleichgewicht und Koordination. Muskelkraft und Sensibilität sind dabei intakt. Wichtige klinische Zeichen einer zerebellären Ataxie sind Gleichgewichtsstörungen beim Stehen auf einem Bein sowie beim Seiltänzergang, Intentionstremor und Dysmetrie beim Finger-Nase-Versuch, eine gestörte Diadochokinese und sakkadische Folgebewegingen der Augen. Bei Säuglingen und Kleinkindern ist die Diagnose einer milden Ataxie manchmal nur schwierig und im Verlauf zu stellen.
Die Differenzialdiagnose einer zerebellären Ataxie im Kindesalter ist breit. Akute Ataxien erfordern akute Diagnostik: Blutungen oder Infarkte in der hinteren Schädelgrube, Intoxikationen, Meningitis oder ein zerebellärer Abszess sind kinderneurologische Notfälle. Intermittierende akute („episodische“) Ataxien haben eine andere Differenzialdiagnose: Kanalopathien, neurometabolische Erkrankungen, Intoxikationen und basiläre Migräne stehen hier ganz oben.
Für die hereditären spinozerebellären Ataxien (SCA) ist eine langsam progrediente Ataxie das Leitsymptom. In der kraniellen Bildgebung findet sich häufig eine zerebelläre Atrophie. Andere Symptome wie Dystonie oder Spastizität sind selten und im Vergleich zur Ataxie mild. Den hereditären Ataxien, die bereits im Kindesalter beginnen, liegt in der Regel ein autosomal-rezessiver Erbgang zugrunde. Im Erwachsenenalter sind die dominanten Formen häufiger.

Morbus Friedreich

Die häufigste Heredoataxie im Kindesalter ist der Morbus Friedreich (FRDA) mit einer Prävalenz von 2–3:100.000. Die Erkrankung beginnt meist zwischen 5 und 16 Jahren. Die Ataxie ist langsam progredient, in der Regel ab dem Alter von 25 Jahren sind die Patienten rollstuhlabhängig. Bei Erstpräsentation besteht bereits eine Areflexie. Weitere typische Symptome sind Hohlfüße und im Verlauf eine Skoliose. Ebenfalls im Verlauf entstehen Dysarthrie und Pyramidenbahnzeichen, manchmal auch eine Optikusatrophie. Wichtig sind auch die extrazerebralen Symptome, vor allem die Kardiomyopathie, die bei der Hälfte der Patienten die Todesursache darstellt. Die zerebrale MRT zeigt keine zerebelläre Atrophie. In späteren Stadien ist das zervikale Myelum atrophisch. Die FRDA wird verursacht durch rezessive Mutationen des Gens FXN auf Chromosom 9. Es kodiert für Frataxin, ein mitochondriales Protein, das für die Bildung der Eisen-Schwefel-Cluster der Atmungskette bedeutsam ist. 96 % aller Patienten tragen eine homozygote Trinukleotid(GAA)-Expansion in Intron 1 von FXN. Die Erkrankung ist nicht kausal behandelbar, allerdings kann Idebenon, ein Koenzym-Q10-Analog, die Kardiomyopathie verbessern bzw. stabilisieren.

Ataxia teleangiectasia

Die zweithäufigste Heredoataxie des Kindesalters ist die Ataxia telangiectasia (AT, Louis-Bar-Syndrom). Sie beginnt wesentlich früher als die FRDA – die Ataxie wird bereits deutlich, wenn die Kinder beginnen zu laufen und schreitet langsam voran. Intentionstremor und Dysarthrie beginnen etwas später. Am Ende der 1. Lebensdekade werden die Kinder rollstuhlpflichtig. Typische weitere Zeichen sind Choreoathetose, Dystonie und okulomotorische Apraxie. Die Muskeleigenreflexe sind zu Beginn der Erkrankung noch auslösbar, aber können im Verlauf verschwinden. Distale Muskelatrophien werden in späteren Stadien häufig gesehen. Die typischen Teleangiektasien erscheinen meist erst nach dem Alter von 5 Jahren, erst auf der äußeren Helix und den Konjunktiven. Später haben die Kinder ein progeroides Äußeres. Viele Patienten haben einen Immundefekt mit Lymphopenie und erniedrigtem IgG und IgA und entwickeln häufige Infekte. In seltenen Fällen sind die immunologischen Probleme das Leitsymptom und die Ataxie nur sehr mild ausgeprägt. Die Patienten haben ein hohes Risiko für maligne Erkrankungen, erst für Lymphome und Leukämien, später für epitheliale Tumoren. Auch heterozygote Träger haben ein erhöhtes Risiko für bestimmte Tumoren. AT wird versursacht durch rezessive Mutationen in ATM (ataxia telangiectasie-mutated gene), das für ein DNA-Reparatureiweiß kodiert. Mutationen in MRE11 kodieren für eine ähnliche, wenn auch milder verlaufende Erkrankung, ATLD (ataxia telangiectasia-like disorder). Ein einfacher Labortest zur Diagnose der AT ist das α-Foetoprotein (AFP), das von Beginn an deutlich erhöht ist. Bestrahlung von Lymphozyten führt zu einer erhöhten Chromosomenbrüchigkeit. Die zerebrale Bildgebung zeigt eine zerebelläre Atrophie.

Ataxie mit okulomotorischer Apraxie

Eine okulomotorische Apraxie ist auch für 2 andere Heredoataxien ein wichtiges Symptom. Die Ataxie mit okulomotorischer Apraxie Typ I (AOA1) gleicht, was die neurologischen Symptome angeht, der AT. Ein Immundefekt besteht allerdings nicht. Die AOA1 beginnt etwas später als die AT, zwischen 2 und 6 Jahren. Eine axonale Neuropathie führt früh zu einer Areflexie und distalen Atrophien. Die meisten Patienten werden vor dem Erwachsenenalter rollstuhlabhängig. Die AOA2 beginnt erst in der Adoleszenz und schreitet nur langsam voran; eine okulomotorische Apraxie tritt lediglich bei der Hälfte der Patienten auf. AFP ist auch bei dieser Erkrankung erhöht. Die AOA1 wird durch rezessive Mutationen in APTX, das für Aprataxin kodiert, verursacht, die AOA2 durch rezessive Mutationen in SETX (Senataxin). Aprataxin spielt eine Rolle in der DNA-Einzelstrangreparatur, Senataxin bei der Regulation der Proteintranskription.

Vitamin-E-abhängige Ataxie

Die Vitamin-E-responsive Ataxie (ataxia with vitamin E deficiency, AVED) ist eine seltene, aber in der Frühphase gut behandelbare Erkrankung. Bei Patienten aus Nordafrika wird diese Diagnose häufiger gestellt. In ihrem klinischen Verlauf ähnelt sie der FRDA. Beginn ist meist in der Pubertät. Auch hier besteht eine Areflexie mit häufig einem positiven Babinski Zeichen. Wichtige andere Symptome sind eine Kardiomyopathie und eine Retinitis pigmentosa. Der Plasmaspiegel von Vitamin E ist deutlich erniedrigt. Die MRT zeigt inkonstant eine milde zerebelläre Atrophie. Die Erkrankung wird durch rezessive Mutationen im Gen TTPA verursacht, das für ein Vitamin-E-Transportprotein kodiert. Eine Substitution von Vitamin E ist lebenslang notwendig. Begonnen vor den ersten Symptomen kann diese Therapie die Manifestation der Erkrankung verhindern, was wichtig für das Screening von Geschwistern ist. Auch ein sekundärer Vitamin-E-Mangel kann zu vergleichbaren Symptomen führen. In der Regel haben diese Patienten eine Steatorrhö.

Weitere Heredoataxien

Neben diesen wichtigeren Erkrankungen wurde in den letzten Jahren noch eine Vielzahl weitere Heredoataxien genetisch aufgeklärt, die hier nicht alle besprochen werden. Die autosomal-rezessive spastische Ataxie Typ Charlevoix-Saguénay (ARSACS) wurde erstmals in Québec beschrieben und durch Mutationen in SACS verursacht. Die Erkrankung beginnt häufig bereits im 2. Lebensjahr mit unsicherem Gang und einem milden Pyramidenbahnsyndrom. Typisch sind bei vielen, aber nicht allen Patienten hypermyelinisierte Nervenfasern in der Retina. Infantile-onset spinocerebellar ataxia (IOSCA) wurde zuerst in Finnland beschrieben. Betroffene Kinder entwickeln neben der Ataxie eine meist refraktäre Epilepsie mit häufigen Staten, Taubheit und externe Ophthalmoplegie. Der Erkrankung liegen rezessive Mutationen in C10orf2 zugrunde, das für das mitochondriale Eiweiß Twinkle kodiert. Auch andere mitochondriale Erkrankungen zeigen manchmal als Erstsymptom eine Ataxie. Wie bei IOSCA treten in der Regel schnell auch andere neurologischen Symptome hinzu. Eine möglicherweise noch wachsende Gruppe zerebellärer Ataxien ist diejenige mit einem Mangel an Koenzym Q10 in Muskelgewebe. Dieser Mangel kann sekundär sein und wird beispielsweise auch bei AOA1 gefunden. In einigen Familien konnten aber inzwischen Defekte in verschiedenen Enzymen des Koenzym-Q10-Syntheseweges nachgewiesen werden. Meistens handelt es sich dabei um Multisystemerkrankungen. Einzelne Patienten zeigen als Hauptsymptom eine progrediente Ataxie. Bei ihnen konnten rezessive Mutationen in ADCK3 (CABC1) nachgewiesen werden. Bei der seltenen X-gebundenen sideroblastischen Anämie mit Ataxie (XLSA/A) sind Ringsideroblasten im Knochenmark typisch. Ursächlich sind Mutationen in ABCB7.
Die autosomal-dominanten spinozerebellären Ataxien (SCA) sind im Kindesalter im Gegensatz zum Erwachsenenalter selten. Meist ist die Familienanamnese positiv, wenn eine solche dominante Form vorliegt. Lediglich die SCA7 kann eine extreme Antizipation zeigen. Einige der SCAs werden durch Polyglutaminrepeat-Expansionen verursacht. Die meisten Patienten haben eine zerebelläre Atrophie. Ein typisches Symptom für die SCA7 ist eine Retinopathie. Inzwischen sind auch viele neue Gene beschrieben, deren Mutationen, bei Kindern häufig de novo, eine zerebelläre Ataxie verursachen können.
Bei einem Kind mit einer Ataxie ist der erste Schritt der Diagnostik eine MRT des Gehirns, da dies die Differenzialdiagnose entscheidend beeinflusst. Eine Leukodystrophie erfordert eine andere Strategie als ein normaler Befund. Der nächste Schritt, gerade bei einem normalen Befund oder einer (unspezifischen) zerebellären Atrophie ist die genetische Diagnostik. Die Fortschritte hier haben die Herangehensweise deutlich verändert: Genpakete oder Whole exome sequencing (WES), am besten als Trio zusammen mit den Eltern, werden am schnellsten einen Befund liefern. Allerdings werden gerade die Triplet-repeat-Erkrankungen mit dem WES nicht erfasst.

Hereditäre spastische Paraplegien

Die hereditären spastischen Paraplegien (HSP) sind vor allem Erkrankungen des Erwachsenenalters. In den letzten Jahren werden allerdings zunehmend auch Manifestationen im (Klein-)Kindesalter beschrieben. Meist ist der Erbgang dominant; De-novo-Mutationen werden regelmäßig gefunden. Erworbene Formen einer Spastik nach perinataler Asphyxie (stationär) oder bei spinalen Tumoren oder angeborene Formen bei beispielsweise Erkrankungen der weißen Substanz (progredient) sind im Kindesalter häufiger als die Erkrankungen aus der Gruppe der HSP. An eine HSP sollte man immer dann denken, wenn klinisch eine progressive spastische Paraparese vorliegt, oder wenn die Erkrankung (noch) stationär imponiert, aber die zerebrale und spinale Bildgebung normal ist.
Die HSP werden eingeteilt in „reine“ und „komplizierte“ Formen. Im Kindesalter am wichtigsten ist die SPG3A, die durch dominante Mutationen in ATL1 (Atlastin) verursacht wird. Beinahe alle Fälle werden symptomatisch vor dem Alter von 20 Jahren. SPG4, verursacht durch dominante Mutationen in SPAST (Spastin), ist die häufigste HSP überhaupt und führt in einem Drittel der Patienten zu Symptomen vor dem Erwachsenenalter. SPG6 (NIPA1), SPG10 (KIF5A), SPG12 (RTN2) und SPG31 (REEP1) können ebenfalls bereits im Kindesalter oder der Adoleszenz beginnen, wobei SPG31 nach SPG3A und SPG4 am häufigsten vorkommt. Bei Kindern mit isolierter HSP sollten deshalb erst ATL1 und SPAST, dann REEP1 untersucht werden.
Bei den komplizierten Formen treten neben der spastischen Paraplegie noch andere Symptome wie mentale Retardierung, Neuropathie, Optikusatrophie, Retinopathie, Schwerhörigkeit oder Epilepsie auf. SPG11 ist die häufigste Form. Typisch in der MRT ist ein dünnes Corpus callosum und periventrikuläre Signalveränderungen der weißen Substanz. Erstes Symptom ist eine milde mentale Retardierung; die spastische Paraplegie kann erst in der Pubertät beginnen. Die SPG15 (ZVYVE26) führt zu einem vergleichbaren klinischen und neuroradiologischen Bild. SPG17 (BSCL2; Silver-Syndrom) führt neben der spastischen Paraplegie zu einer prominenten Neuropathie mit distaler Muskelatrophie vor allem des Thenars. Diese 3 Erkrankungen folgen einem autosomal-rezessiven Erbgang.
Auch hier gilt, dass die Fortschritte der genetischen Möglichkeiten die Diagnostik verändert haben. Gerade bei normaler Bildgebung sind Genpakete oder WES am vielversprechendsten. Bei spezifischen MRT-Befunden sollte immer als erster Schritt gezielte Diagnostik stattfinden.
Weiterführende Literatur
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