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Pädiatrie
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Publiziert am: 18.03.2020

Störungen der fetalen Erythropoese und Koagulopathien

Verfasst von: Christian P. Speer
Die Erythropoese beginnt am 20. Gestationstag und findet in der Fetalzeit überwiegend in Leber und Milz statt. Erst im letzten Trimenon wird das Knochenmark zum Hauptbildungsort der Erythropoese. Die Hämoglobinkonzentration steigt von 8–10 g/dl im Alter von 12 Gestationswochen auf 16,5–20 g/dl im Alter von 40 Gestationswochen an. Nach einem kurzen postnatalen Anstieg der Hämoglobinkonzentration innerhalb von 6–12 Lebensstunden fällt sie kontinuierlich auf 10 g/dl im Alter von 3–6 Monaten ab. Frühgeborene unterhalb der 32. Gestationswoche haben niedrigere Ausgangshämoglobinkonzentrationen und erfahren einen schnelleren Abfall der Hämoglobinkonzentration. Der Tiefpunkt ist 1–2 Monate nach der Geburt erreicht. Während dieser physiologischen Anämisierung lässt sich kaum Erythropoetin im Plasma nachweisen.

Störungen der fetalen Erythropoese

Die Erythropoese beginnt am 20. Gestationstag und findet in der Fetalzeit überwiegend in Leber und Milz statt. Erst im letzten Trimenon wird das Knochenmark zum Hauptbildungsort der Erythropoese. Die Hämoglobinkonzentration steigt von 8–10 g/dl im Alter von 12 Gestationswochen auf 16,5–20 g/dl im Alter von 40 Gestationswochen an. Nach einem kurzen postnatalen Anstieg der Hämoglobinkonzentration innerhalb von 6–12 Lebensstunden fällt sie kontinuierlich auf 10 g/dl im Alter von 3–6 Monaten ab. Frühgeborene unterhalb der 32. Gestationswoche haben niedrigere Ausgangshämoglobinkonzentrationen und erfahren einen schnelleren Abfall der Hämoglobinkonzentration. Der Tiefpunkt ist 1–2 Monate nach der Geburt erreicht. Während dieser physiologischen Anämisierung lässt sich kaum Erythropoetin im Plasma nachweisen.
Fetale und neonatale Erythrozyten haben eine kürzere Halbwertzeit (70–90 Tage) und ein größeres mittleres korpuskuläres Volumen (MCV: 110–120 fl) als Erythrozyten von Erwachsenen. In den ersten Tagen nach der Geburt besteht meist eine Retikulozytose von 50–120 ‰. Die Erythrozyten des Neugeborenen enthalten überwiegend fetales Hämoglobin F, das aus zwei α-Ketten und zwei γ-Ketten besteht. Unmittelbar vor der Geburt setzt bei einem reifen Neugeborenen die Synthese von β-Hämoglobinketten und damit adultem Hämoglobin ein (zwei α-Ketten und zwei β-Ketten). Zum Zeitpunkt der Geburt haben die Erythrozyten reifer Neugeborener 60–90 % fetales Hämoglobin. Diese Konzentration sinkt bis zum Alter von 4 Monaten auf <5 % ab.
Das Blutvolumen reifer Neugeborener beträgt ungefähr 85 ml/kg KG. Plazenta und Nabelgefäße enthalten ca. 20–30 ml/kg Blut. Eine späte Abnabelung kann zu einem vorübergehenden Anstieg des neonatalen Blutvolumens innerhalb der ersten Lebenstage führen (Abschn. 1.3), eine zu frühe Abnabelung zu einer Anämie. Um diese Komplikationen zu vermeiden, sollte die Abnabelung ca. 30–60 sec nach der Geburt erfolgen.

Neonatale Anämie

Definition
Eine Anämie Neugeborener ist durch Hämoglobinkonzentrationen (Hb) <14 g/dl sowie einen Hämatokrit (Hkt) von <40 % charakterisiert. Sie kann durch akuten oder chronischen Blutverlust, eine verminderte Blutbildung sowie durch eine immunologisch vermittelte oder nichtimmunologisch bedingte Hämolyse der Erythrozyten verursacht sein (Tab. 1).
Tab. 1
Ätiologie der neonatalen Anämie
Blutverlust
Verminderte Blutbildung
Hämolyse
Fetomaternale Blutung
Konnatale und perinatale Infektionen
Rh-Erythroblastose
Blackfan-Diamond-Anämie
ABO-Erythroblastose
Konnatale Leukämie
Andere Blutgruppeninkompatibilitäten
Fetofetale Transfusion
Erythrozytenmembrandefekte
Nabelschnureinriss
 
Erythrozytenenzymdefekte
Vasa praevia
 
Selten: Hämoglobinopathien
Neonatale Blutung: intrakraniell, gastrointestinal u. a.
  
Ätiologie
Ein akuter Blutverlust kann u. a. durch fetomaternale Blutung, durch Ruptur der Nabelschnur, durch Placenta praevia oder innere Organblutungen eintreten. Die Hämoglobinkonzentration und der Hämatokrit sind unmittelbar nach einem akuten Blutungsereignis zunächst häufig normal und fallen erst im Rahmen der Hämodilution kontinuierlich ab. Das zirkulierende Blutvolumen vermindert sich jedoch bereits während der Blutungsereignisse. Ein chronischer Blutverlust kann u. a. durch fetomaternale oder fetofetale Transfusion zustande kommen. Eine fetomaternale Transfusion wird bei bis zu 50 % aller Schwangerschaften beobachtet; der fetale Blutverlust kann erheblich sein. Die Diagnose einer fetomaternalen Transfusion wird durch den Nachweis von Hb-F-haltigen Erythrozyten des Kindes im mütterlichen Blut erbracht.
Klinische Symptome
Leitsymptome der akuten Blutungsanämie sind Blässe, Tachykardie, schwache oder nicht tastbare periphere Pulse, Hypotension, Tachypnoe und bei massivem Blutverlust Schnappatmung und Schock. Die klinischen Symptome bei chronischem Blutverlust sind Blässe bei erhaltener Vitalität, Tachykardie und normaler Blutdruck. Häufig besteht eine Herzinsuffizienz mit Hepatomegalie. Die gelegentlich nachweisbare Splenomegalie ist Ausdruck der extramedullären Blutbildung. Selten entwickelt sich ein Hydrops fetalis. Eine neonatale Anämie, die durch eine verminderte Bildung von Erythrozyten verursacht wird, wie z. B. bei Blackfan-Diamond-Anämie, ist durch niedrige Retikulozytenzahlen und Fehlen von Erythrozytenvorstufen im Knochenmark charakterisiert. Häufigste Ursachen für eine immunologisch vermittelte Hämolyse der Neugeborenen sind Inkompatibilitäten zwischen der Blutgruppe der Mutter und des Kindes (Kap. „Morbus haemolyticus neonatorum“). Nichtimmunologische Krankheiten, die mit einer Hämolyse einhergehen, sind Defekte der Erythrozytenmembran (hereditäre Sphärozytose), Erythrozytenenzymdefekte (Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase- und Pyruvatkinasemangel), seltene Hämoglobinopathien sowie die α-Thalassämie.
Therapie
Neugeborene mit ausgeprägtem akutem Blutverlust (hämorrhagischer Schock, „weiße Asphyxie“) werden notfallmäßig mit 0-Rh-negativem Erythrozytenkonzentrat ohne vorherige Kreuzprobe transfundiert (Hepatitis B, Anti-HCV, TPHA [Lues], CMV, HIV-negativ!). Bei allen anderen Indikationen sind vor der Transfusion eine Blutgruppenbestimmung des Kindes und eine Kreuzprobe durchzuführen. Bei Verdacht auf Störung der Erythropoese und hämolytische Anämie ist vor Gabe von Blutprodukten Blut des Kindes für die entsprechende Spezialdiagnostik abzunehmen (Abschn. 2 in Kap. „Morbus haemolyticus neonatorum“ u. a.).

Anämie Frühgeborener

Ein besonderes klinisches Problem stellt die Anämie Frühgeborener dar. Die meisten sehr kleinen Frühgeborenen entwickeln bereits während der ersten Lebenswochen eine mehr oder weniger ausgeprägte Anämie. Eine Reihe von Faktoren sind für die Entstehung der Frühgeborenenanämie verantwortlich, u. a. ein Erythropoetinmangel, der zu einer unzureichenden Erythropoese führt, sowie repetitive, im Rahmen der neonatologischen Versorgung erforderliche diagnostische Blutentnahmen. Seltener entwickelt sich eine hämolytische Anämie durch Vitamin-E-Mangel oder im Verlauf systemischer Infektionen. Bei klinischen Zeichen einer akuten oder chronischen Anämie oder Hinweisen auf eine hämodynamisch signifikante Hypovolämie ist die Transfusion von bestrahltem CMV-negativen Erythrozytenkonzentrat unabdingbar erforderlich. Eine Erythropoetintherapie kann, wie in mehreren randomisierten und kontrollierten Studien belegt, nur die Spätanämisierung von Frühgeborenen zu einem gewissen Grad verhindern. Alarmierend sind die Ergebnisse einer aktuellen Metaanalyse, die auf ein erhöhtes Risiko einer schweren Frühgeborenen-Retinopathie unter Erythropoetintherapie hinweist. Eine Erythropoetinbehandlung Frühgeborener kann nach diesen Daten nicht als Standardtherapie empfohlen werden.

Polyzythämie, Hyperviskositätssyndrom

Definition
Eine Polyzythämie (Synonym: neonatale Polyglobulie) ist durch einen venösen Hämatokrit >65 % (Hämoglobin >22 g/dl) charakterisiert, der unter dem Bild eines Hyperviskositätssyndroms zu einem Anstieg der Blutviskosität, zur vaskulären Stase mit Mikrothrombosierung, zu Hypoperfusion und Ischämie von Organen führen kann.
Ätiologie
Nach der Geburt weisen ca. 3–5 % aller Neugeborenen einen Hkt >65 % auf. Risikokollektive sind reife oder übertragene hypotrophe Neugeborene (intrauterine Wachstumsretardierung, chronische fetale Hypoxie), Patienten nach fetofetaler oder maternofetaler Transfusion, Neugeborene nach zu später Abnabelung, Kinder diabetischer Mütter, Nikotinabusus während der Schwangerschaft, Neugeborene mit Hyperthyreose oder Kinder mit angeborenen Krankheiten (adrenogenitales Syndrom, Trisomie 21, Beckwith-Wiedemann-Syndrom). Bei einem Hämatokrit von >65 % steigt die Blutviskosität exponentiell an.
Klinische Symptome
Die klinischen Symptome sind außerordentlich vielfältig und reflektieren die Mikrozirkulationsstörungen und manifesten Durchblutungsstörungen der betroffenen Organsysteme. Die Neugeborenen fallen durch ihr plethorisches, zum Teil auch blass-graues Hautkolorit und eine Belastungszyanose auf. Daneben finden sich Hyperexzitabilität, Myoklonien, Hypotonie, Lethargie und zerebrale Krampfanfälle. Bei einigen Kindern stehen kardiopulmonale sowie renale Probleme im Vordergrund: Atemnotsyndrom, persistierende pulmonale Hypertonie mit PFC-Syndrom, Herzinsuffizienz, Oligurie, Hämaturie und Nierenversagen. Die Neugeborenen können foudroyante Verlaufsformen einer nekrotisierenden Enterokolitis sowie einen Ileus entwickeln. Begleitend treten z. T. gravierende Thrombozytopenien, Hypoglykämien, Hypokalzämien und ausgeprägte Hyperbilirubinämien auf.
Therapie
Beim Auftreten erster Symptome muss unverzüglich eine partielle modifizierte Austauschtransfusion durchgeführt werden. Der Hämatokrit des Neugeborenen sollte auf 55 % gesenkt werden.

Koagulopathien

In der Neonatalperiode werden nicht selten Störungen der plasmatischen Blutgerinnung beobachtet. Sie können Ausdruck einer angeborenen Defizienz an Gerinnungsfaktoren (Kap. „Physiologie der Gerinnung bei Kindern und Jugendlichen“), eines Vitamin-K-Mangels oder einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung (disseminated intravascular coagulation, DIC) sein. Neugeborene haben erniedrigte Plasmakonzentrationen nahezu aller Gerinnungsfaktoren, besonders die Synthese der Vitamin-K-abhängigen Faktoren II, VII, IX und X ist vermindert. Es gibt keinen diaplazentaren Übertritt von Gerinnungsfaktoren.

Morbus hämorrhagicus neonatorum

Definition
Der Morbus hämorrhagicus neonatorum ist eine durch einen Vitamin-K-Mangel ausgelöste, potenziell lebensbedrohliche Krankheit, die durch präventive Vitamin-K-Substitution verhindert werden kann.
Epidemiologie
Bei ca. 1 von 200 Neugeborenen, die keine postnatale Vitamin-K-Prophylaxe erhalten haben, tritt ein unerwartetes Blutungsereignis innerhalb der ersten Lebenswochen auf.
Ätiologie
Vitamin K ist für die hepatische Synthese von Prothrombin (Faktor II), Faktor VII, IX und X verantwortlich. Ein Vitamin-K-Mangel kann sich bei Neugeborenen zu verschiedenen Zeitpunkten manifestieren. Eine am 1. Lebenstag aufgetretene Blutung wird nach mütterlicher Medikamenteneinnahme beobachtet. Phenytoin, Phenobarbital, Primidon, Salizylate, Antikoagulanzien u. a. beeinträchtigen den Vitamin-K-Metabolismus Neugeborener. Eine mütterliche Heparinbehandlung hat dagegen keine Auswirkungen auf das Gerinnungssystem des Kindes. Die typische Vitamin-K-Mangelblutung des reifen Neugeborenen tritt frühestens nach dem 3. Lebenstag überwiegend bei mit Muttermilch ernährten Kindern auf; Muttermilch hat nur einen geringen Vitamin-K-Gehalt. Bei allen Früh- und Neugeborenen, die einer antibiotischen Langzeitbehandlung oder einer parenteralen Ernährung unterzogen sind, können sich bei mangelnder Vitamin-K-Substitution im Verlauf der Neonatalperiode bedrohliche Blutungen entwickeln. Eine Spätmanifestation des Vitamin-K-Mangels im Alter von 4–12 Wochen kann bei mit Muttermilch ernährten Säuglingen, besonders aber bei Kindern mit einer Vitamin-K-Malabsorption auftreten (Mukoviszidose, cholestatischer Ikterus u. a. bei Gallengangatresie, Wachstumshemmung der Vitamin-K-produzierenden intestinalen mikrobiellen Flora durch Antibiotika).
Klinische Symptome
Eine Vitamin-K-Mangelblutung ist immer dann zu vermuten, wenn ein gesund wirkendes Neugeborenes spontane Hämorrhagien entwickelt: Hämatemesis, gastrointestinale Blutung (Melaena vera), Epistaxis, Nabelschnur- und Hautblutungen, intrakranielle Blutung u. a.
Differenzialdiagnose
Eine in den ersten Lebenstagen auftretende Hämatemesis oder Melaena kann auch durch mütterliches, während der Geburt verschlucktes Blut verursacht sein. Mithilfe des Alkaliresistenztestes (Apt-Test) kann entschieden werden, ob es sich um Blut des Kindes oder der Mutter handelt. Erythrozyten des Kindes enthalten überwiegend alkaliresistentes Hb-F, sie werden in einer Lösung von 1 % Natronlauge nicht denaturiert, die Lösung bleibt rötlich gefärbt. Die mütterlichen Hb-A enthaltenden Erythrozyten dagegen werden sofort lysiert und die Lösung bekommt eine gelblich-braune Farbe.
Prävention und Therapie
Durch routinemäßig prophylaktische Gabe von Vitamin K an alle Neugeborenen (jeweils 2 mg Vitamin K oral) unmittelbar nach der Geburt sowie am 5. und 28. Lebenstag kann ein Morbus hämorrhagicus neonatorum vermieden werden. Bei manifester Vitamin-K-Mangelblutung (Risikopatienten, Vitamin-K-Malabsorption) muss unverzüglich Vitamin K intravenös appliziert werden, zusätzlich kann die Gabe von Frischplasma und gegebenenfalls auch Erythrozytenkonzentrat notwendig sein. Höhere Dosen von Vitamin K sind bei mütterlicher Medikamenteneinnahme oder Leberkrankheit des Neugeborenen indiziert. Der Verdacht, dass intramuskulär injiziertes Vitamin K zu einem erhöhten Krebsrisiko bei Kindern führt, konnte inzwischen eindeutig widerlegt werden.
Weiterführende Literatur
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