Störungen des Sozialverhaltens
Im ICD-11, das im Juni 2018 in einer ersten Version veröffentlicht wurde, gibt es eine Reihe von Veränderungen, die den empirischen Ergebnissen der letzten 30 Jahre Rechnung tragen sollen. Als größter Unterschied zum ICD-10 wurde die Klassifikation dahin gehend geändert, dass Störungen des Sozialverhaltens danach unterschieden werden, ob sie in der Kindheit oder im Jugendalter begonnen haben. Diese Unterscheidung, die in gleicher Weise auch im amerikanischen Diagnosemanual DSM zu finden ist, basiert vor allem auf den Ergebnissen einer der international renommiertesten Longitudinalstudien, der neuseeländischen Dunedin Child Health Development Study. Es zeigte sich, dass über die Lebensspanne hinweg der Gipfel an aggressivem und delinquentem Verhalten im späten Jugendalter liegt, aber dass dieses abweichende Verhalten sehr häufig im jungen Erwachsenenalter wieder verschwindet („adolescence-limited“). Eine deutlich schlechtere Prognose im Sinne einer gehäuft zu beobachtenden Chronifizierung findet sich bei denjenigen, die schon im (frühen) Kindesalter massive aggressive Verhaltensweisen zeigen („life-course-persistent“). Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis dieser Studie war, dass zwar 94 % aller Jugendlichen angaben, irgendeine Form von illegalen Handlungen wie die Verwendung gefälschter Ausweise, unerlaubtes Trinken von Alkohol oder anderes begangen zu haben, aber dass nur 7,3 % von ihnen die Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens erfüllten und nur 6 % in schwerwiegende delinquente Handlungen verwickelt waren. Die
Prävalenz von oppositionellem Trotzverhalten und Störungen des Sozialverhaltens liegt in verschiedenen epidemiologischen Studien bei ca. 6–8 %.
Im
DSM-5 wurden zwei Veränderungen in die Klassifikation von externalisierendem Verhalten im Kindes- und Jugendalter aufgenommen. Als Zusatz zur Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens wurde ein „Specifier“ eingeführt, mit dem das gleichzeitige Vorhandensein von sog. kaltherzig-unemotionalen Wesenszügen kodiert werden kann. Als neue eigenständige Diagnose wurde die „Disruptive Affektregulationsstörung“ beschrieben, unter der eine Mischung aus chronischer Reizbarkeit und häufigen plötzlichen Wutanfällen zusammengefasst ist. (Wegen der damit einhergehenden ausgeprägten Stimmungsbeeinträchtigungen wurde diese Diagnose allerdings in das Kapitel für
depressive Störungen verschoben.)
Persönlichkeitsstörungen
Während
Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenalter mit einer
Prävalenz von bis zu 10 % in der Allgemeinbevölkerung zu den häufigsten
psychischen Störungen zählen, ist die Diagnosestellung im Jugendalter weiterhin hartnäckigen Vorurteilen ausgesetzt. Die Diagnosestellung im Erwachsenenalter setzt zwar voraus, dass der Beginn der Symptomatik schon im Kindes- und Jugendalter liegt. Dennoch argumentieren die Gegner der Diagnose, dass Krisen der Entwicklung ein normaler Teil der Adoleszenz sind, dass die Entwicklung der Persönlichkeit noch weiter fortschreitet und dass bei einer Diagnosestellung im Jugendalter die Gefahr einer lebenslangen Stigmatisierung bestehe. Dies entspricht weitgehend der Argumentation, wie sie vor rund 30 Jahren gegenüber der Diagnose einer schizophrenen Psychose im Jugendalter geäußert wurde. Inzwischen ist bekannt, dass der Zeitraum vom Beginn einer Psychose bis zum Beginn der Behandlung (DUP, Dauer der unbehandelten Psychose) einen erheblichen Einfluss auf die Prognose hat, sodass Früherkennung und Frühintervention eine zunehmende Bedeutung gewonnen haben. Eine internationale Initiative (Global Alliance for Prevention and Early Intervention for Borderline Personality Disorder) propagiert nun auch die Früherkennung und Frühintervention von Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter.
Im
DSM-5 wurde die Altersbeschränkung für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung weitgehend aufgehoben (mit Ausnahme der
antisozialen Persönlichkeitsstörung, die weiterhin erst ab dem 18. Lebensjahr vergeben werden soll). Auch im ICD-11 ist das Alterskriterium entfallen. Zusätzlich wird die bisher geltende Klassifikation von
Persönlichkeitsstörungen radikal verändert, indem die bisherigen Persönlichkeitsstörungsdiagnosen (mit Ausnahme der Borderline-Störungen) komplett gestrichen werden. Klassifiziert werden soll in Zukunft nur noch, ob eine Persönlichkeitsstörung vorhanden ist oder nicht, und welchen Schweregrad sie hat. Die Art der Störung soll dann durch ein Profil pathologischer Persönlichkeits-Traits spezifiziert werden.