Bei Störungsbildern, die eine tägliche Anpassung der Therapie erfordern, ist eine praxisorientierte Therapieschulung für Eltern und Kinder unverzichtbarer integraler Bestandteil der multidisziplinären Behandlung. Exemplarisch sind dazu in der Pädiatrie strukturierte und evaluierte Schulungen bei Typ-1-Diabetes und bei
Asthma bronchiale integrale Bestandteile der bundesweit eingeführten Disease-Management-Programme (DMP). Die Programme inkl. Curricula und Schulungsunterlagen für die Zielgruppen der Eltern, Kinder und Jugendlichen sind vom Bundesversicherungsamt (BVA) akkreditiert. Auch für Kinder und Jugendliche mit
Adipositas oder
Neurodermitis liegen evaluierte Schulungs- und Behandlungsprogramme vor. Diese und andere Patientenschulungsprogramme (Ernst und Szczepanski
2017; Ernst et al.
2013) können als ergänzende Leistungen zur Rehabilitation gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 2 SGB V zum Einsatz kommen. Strukturierte Schulungskonzepte für seltene Krankheiten konnten im Kontext des modularen Schulungsprogrammes ModuS entwickelt werden (Ernst und Szczepanski
2017).
Gliederung der Informations- und Schulungsangebote
Ebenso wie eine somatisch orientierte Behandlung lebenslang überdacht und an Entwicklungsschritte angepasst werden muss, ist auch die Information der Familien ein dynamischer Prozess. Das Spektrum der Informationsangebote wird zum einen durch den Entwicklungsstand und die Selbstständigkeit des betroffenen Kindes bestimmt. Zum anderen wird zwischen individueller Beratung direkt nach der Diagnose, wiederholten Folgeschulungen ggf. in Kleingruppen und längerfristigen verhaltenstherapeutisch orientierten Gruppen (Neu et al.
2016; Phelan et al.
2018; Zeitler et al.
2018), z. B. bei
Adipositas (Mühlig et al.
2014; Wabitsch und Kunze
2016), unterschieden. Wünschenswert sind unterschiedliche, aber aufeinander abgestimmte Informationsangebote (Struktur, Inhalte, didaktisches Konzept) für:
-
Vorschul- und junge Grundschulkinder (5–7 Jahre),
-
ältere Schulkinder (8–12 Jahre),
-
Jugendliche in der
Pubertät (13–18 Jahre),
-
Adoleszente vor dem Transfer in die Erwachsenenmedizin (ab ca. 15 Jahre) und
-
Eltern, die differenzierte Angebote benötigen, bei denen ihre jeweiligen Erziehungsaufgaben berücksichtigt werden.
Dem Initialgespräch als erstem Schulungsschritt nach der Diagnose, in dem wesentliche Weichen für den zukünftigen Umgang einer Familie mit der Krankheit gestellt werden, folgt eine umfassende Information/Initialschulung der Eltern und abhängig vom Alter des Kindes. Daran schließt sich eine kontinuierliche ambulante Langzeitbetreuung an, in die individuelle, an aktuellen Fragen orientierte Beratungen oder Folgeschulungen integriert sind.
Die konkreten Anforderungen der hier dargestellten endokrinologischen Störungsbilder an die tägliche Therapie und die psychische Bewältigung sind ausgesprochen heterogen. In den jeweiligen evidenzbasierten Leitlinien sind dazu die wichtigsten Informationen und spezifischen Schulungsinhalte zusammengestellt. Im Folgenden werden deshalb nur Informations- und Schulungsprinzipien vorgestellt, die sich allgemein als effektiv erwiesen haben (Cameron und Wherrett
2015; Delamater et al.
2018; Ernst und Szczepanski
2017; Silverman et al.
2013).
Diagnoseeröffnung: Weichenstellung für die Bewältigung
Die Diagnose vieler der hier dargestellten chronischen Krankheiten oder Entwicklungsstörungen trifft die meisten Familien unvorbereitet. Sie erleben die Diagnose als außerordentliche psychische Belastung, die mit Angst, Trauer, Enttäuschung, Leugnung oder depressiver Verstimmung verbunden sein kann. Entsprechend erinnern sich Eltern und Kinder noch nach Jahrzehnten an das erste Gespräch und die damit verbundenen Emotionen.
Das Initialgespräch hat die Funktion, die Diagnose zu vermitteln, die Gefühle der Familie aufzufangen und mit ihr gemeinsam erste Perspektiven für die aktive Bewältigung der Krankheit zu entwickeln. Es ist die Basis für eine langjährige vertrauensvolle Kooperation.
Das Erstgespräch sollte entsprechend sorgfältig vorbereitet, emotional angemessen und ruhig in einem geschützten Raum geführt werden. Wenn möglich, sollte es noch am Tag der Diagnose stattfinden und das erkrankte Kind, beide Eltern, den behandelnden Arzt und ggf. ein weiteres Mitglied des Behandlungsteams zusammenführen, das später als Ansprechpartner zur Verfügung stehen wird.
Wegen der hohen emotionalen Belastung ist die Aufnahmefähigkeit der Eltern begrenzt. Deshalb sollten zu Beginn nur die wichtigsten Informationen orientiert an den Bedürfnissen der Familien vermittelt werden:
-
aktueller Gesundheitszustand des Kindes (vor allem nach einer akuten Krise),
-
Basisinformationen zum Krankheitsbild,
-
Vorkenntnisse der Familien erfragen,
-
über Chronizität und lebenslang notwendige Therapie informieren,
-
Ursachen der Störung, ggf. Schuldgefühle klären,
-
Basisinformationen zur Prognose orientiert an individuellen Sorgen und Fragen
-
der Eltern (aktuelle Risiken und Komplikationen, mittelfristige Outcomes, ggf. Geschwister),
-
des Kindes (Schule, Sport, Hobbys, ggf. Feiern)
-
mit Betonung des positiven Entwicklungspotenzials des Kindes,
-
Perspektiven für die nächste Zukunft (ambulante Behandlung, ggf. stationärer Aufenthalt, weitere Untersuchungen und Gespräche, Schulung),
-
qualifizierte vertiefende Informationsquellen, Umgang mit Informationen in Medien und
-
Verabredung eines Folgetermins.
Die ersten Informationen sollten möglichst einfach formuliert und ruhig vermittelt werden. Pathophysiologische Details und differenzierte Therapieprinzipien überfordern die Aufnahmefähigkeit der Familien in dieser Phase (Phelan et al.
2018; Silverman et al.
2013).
Durch falsche oder ungenaue Informationen oder unsichere Tröstungsversuche kann es von Anfang an zu einer ungünstigen Weichenstellung mit langfristig negativen Konsequenzen kommen.
Die Chronizität der Störung und ggf. eine lebenslang notwendige Therapie sollten unbedingt ehrlich angesprochen werden. Entscheidend ist hier eine realistische, aber hoffnungsvolle Zukunftssicht des Lebens mit der körperlichen Besonderheit.
Um Schuldgefühlen oder Vorwürfen vorzubeugen, sollten die Ursachen grob umrissen werden. Für Eltern und Kinder ist es dabei vor allem wichtig zu erfahren, dass sie weder zur Entstehung beigetragen haben, noch irgendjemand anderer Schuld an der Krankheit hat.
Im Mittelpunkt des ersten Gespräches sollten konkrete Fragen und Sorgen der Familie stehen. Kinder sind oft schon entlastet, wenn sie hören, dass sie z. B. ihre Hobbys beibehalten, an Aktivitäten mit anderen Kindern teilnehmen oder in die Ferien fahren können. Die Befürchtungen vieler Eltern betreffen die langfristige Lebensperspektive ihres Kindes. Für Mütter stellt sich oft die Frage nach der weiteren eigenen Berufstätigkeit. Allen Fragen sollte mit möglichst großer Offenheit und Verständnis begegnet werden, um die notwendige Grundlage für eine langfristig vertrauensvolle Zusammenarbeit zu legen. Dies gilt auch, wenn Eltern kulturell, ideologisch oder religiös geprägte irrationale Krankheitsvorstellungen oder alternative Heilmethoden ansprechen.
Der Ablauf und die Ziele der folgenden Behandlung sollten möglichst konkret abgestimmt werden. Dabei sollte die Familie den Eindruck gewinnen, dass sie die Behandlung ohne Zeitdruck erlernen und sich mit allen Fragen wiederholt an das Behandlungsteam wenden kann.
Von Diagnose an sollte betont werden, dass nicht allein die Mutter, sondern auch der Vater oder ein anderer erwachsener Betreuer informiert und in die Behandlung einbezogen werden sollte.
Nach dem Erstgespräch ist es hilfreich, der Familie die wichtigsten Informationen noch einmal schriftlich zum Nachlesen anzubieten, z. B. Patientenbroschüren, ein einführendes Kapitel eines Schulungsprogramms oder eine qualifizierte Website. Vor unsystematischer Suche im Internet sollten Eltern gewarnt werden, da dort zu viele falsche und überzogen bedrohliche Informationen zu finden sind. Das Angebot weiterer Gespräche entlastet Eltern, die bei schwerwiegenden Erkrankungen zunächst emotional so belastet sind, dass sie weder Entscheidungen fällen, noch komplizierte Therapieprinzipien verstehen können.
Gelassenheit und Offenheit des Teams, Vermeidung von Zeitdruck und wiederholte Informationsangebote stabilisieren Familien nach einer schwerwiegenden Diagnose (Cameron und Wherrett
2015; Silverman et al.
2013).
Initiale Information: Schulung von Kindern, Jugendlichen und Eltern
Der Bedarf an initialen Informationen ist abhängig von der jeweiligen Erkrankung. Bei Krankheiten mit einer aufwendigen Therapie, wie z. B. bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes oder
Adipositas, stehen zunächst umfangreiche Informationen zur Therapie und zum gezielten Verhaltenstraining im Vordergrund. Bei
Störungen des Wachstums oder der Geschlechtsentwicklung spielen eher die psychischen Belastungen und sozialen Auswirkungen eine Rolle. Eltern, deren Kind mit einer DSD geboren wurde, benötigen zunächst eine sehr einfühlsame, non-direktive Beratung durch ein erfahrenes multidisziplinäres Team. Das besondere Augenmerk sollte hier nicht nur auf den therapeutischen Maßnahmen, sondern auch auf der Erziehung des Kindes liegen. Die Eltern sollen befähigt werden, sich unabhängig von der Geschlechtszuweisung auch auf allgemeine Entwicklungsmöglichkeiten und Stärken des Kindes zu konzentrieren (Wiesemann et al.
2010).
Für alle Krankheiten gilt jedoch: Weitreichende Veränderungen des Verhaltens können weder angeordnet noch durch frontale Vorträge erreicht werden. Um Familien dabei zu unterstützen, müssen Schulungs- und Beratungskräfte didaktisch und verhaltensmedizinisch ausgebildet sein, z. B. im Problemlösetraining, in der Förderung konstruktiver Krankheitsbewältigung, in Angstmanagement, im Hinblick auf Motivation („motivational interviewing“) (Schaefer und Kavookjian
2017), Empowerment und der Steuerung von Gruppenprozessen in Gruppentrainings (Bean et al.
2015; Delamater et al.
2018; Ernst und Szczepanski
2017; Phelan et al.
2018).
Initialschulung für Eltern
Wegen der relativen Seltenheit der meisten Krankheiten findet die Erstschulung der Eltern fast immer im Einzelgespräch statt. Da die Eltern bis ins Jugendalter ihres Kindes überwiegend die Verantwortung für dessen Therapie tragen, benötigen sie eine umfassende, auf das Alter des Kindes abgestimmte Schulung nach einem strukturierten Curriculum. Die Unterrichtssequenzen sollten jedoch individuell an die Aufnahmefähigkeit, das Vorwissen und die Lebensumstände der Familien angepasst werden. Flexibilität ist hier ein Qualitätsstandard.
Das Gefühl von Kompetenz und Sicherheit fördert die emotionale Bewältigung der Diagnose und die Selbstwirksamkeitserwartung.
Mit der initialen Beratung und Schulung der Eltern werden entscheidende Weichen für das Krankheitsselbstmanagement und die langfristige Krankheitsbewältigung gestellt. Beide Elternteile sollten daran teilnehmen und die Behandlung praktisch erlernen. Eine alltagsbezogene Beratung sollte die emotionale Situation der Familie und die Erziehungsaufgaben der Eltern so einbeziehen, dass die Krankheit oder körperliche Besonderheit des Kindes nicht zum Mittelpunkt des Familienlebens wird.
Initialschulung für Kinder
Klein- und Vorschulkinder (bis ca. 6 Jahre) sind mit einer strukturierten Schulung überfordert. Sie benötigen stattdessen altersadäquate Erklärungen über ihre Krankheit und die Behandlungsschritte. Die Informationen sollten sich auf ihr persönliches Erleben und ihre Fragen beziehen. So kann Ängsten, Schuldgefühlen oder bedrohlichen Fantasien vorgebeugt werden. Ein konsistentes Verhalten und abgestimmte Erklärungen des Behandlungsteams und der Eltern erleichtern jüngeren Kindern die Orientierung.
Schulkinder (etwa zwischen 6 und 12 Jahren) sind im täglichen Leben bereits bei vielen Gelegenheiten auf eigene Entscheidungen angewiesen. Sie benötigen kindgerechte Informationen über ihre Krankheit, die Behandlung und das Verhalten in besonderen Situationen. Obwohl die Verantwortung für die Therapie noch weitgehend bei den Eltern liegt, sollten jedem Kind strukturierte Informationen und – wenn erforderlich – Schulungen angeboten werden. Diese sollten sich an entwicklungspsychologischen Grundlagen zum Denken, Krankheitswissen und zu Entwicklungsaufgaben orientieren (s. Übersicht).
Auf weitergehende theoretische Informationen sollte verzichtet werden, z. B. physiologische Details oder Folgeerkrankungen in ferner Zukunft. Dafür stehen praktische Sequenzen im Mittelpunkt, die Kindern helfen, sich aktiv an der Behandlung zu beteiligen und selbstsicher aufzutreten. Der Stolz, technische Hilfsmittel wie einen Pen für das
Wachstumshormon, ein Blutzuckermessgerät oder eine Insulinpumpe schon zu beherrschen, fördert ihr Selbstbewusstsein. Einfache Erklärungsmodelle, die sich an dem orientieren, was Kinder sehen und spüren können, sind am besten geeignet, ihnen ihre Erkrankung und Therapie verständlich zu machen. Evaluierte Schulungsprogramme für die Altersgruppe arbeiten außerdem mit einfachen Texten, kindgemäßen Illustrationen, Aufgaben zum „Selbermachen“ und Identifikationsfiguren im Alter der Kinder, die authentisch über ihren Alltag berichten. Um der begrenzten Aufmerksamkeitsspanne von Kindern Rechnung zu tragen, müssen die Schulungseinheiten kurz und abwechslungsreich gestaltet sein und ihren Bewegungsdrang berücksichtigen.
Initialschulung für Jugendliche
Jugendliche sollen umfassend über ihre Krankheit informiert werden, die praktische Behandlung im Alltag erlernen und sich partnerschaftlich an der Entscheidung über Therapiekonzepte beteiligen (Cameron und Wherrett
2015; Ernst und Szczepanski
2017; Neu et al.
2016; Sawyer et al.
2007). Ihre Eltern haben die Aufgabe, sie zu begleiten, ohne sie durch übertriebene Fürsorge oder autoritäre Vorgaben in ihrer allgemeinen Entwicklung und Autonomie zu beeinträchtigen. Über das erforderliche Grundlagenwissen zur jeweiligen Störung hinaus muss die besondere Lebenssituation von Jugendlichen in der Schulung angesprochen werden (s. Übersicht):
Für Kinder und Jugendliche mit
Adipositas oder mit Typ-1-Diabetes liegen evaluierte Schulungskonzepte vor. Diese setzen didaktisch auf die Sammlung praktischer Erfahrung sowie das Training von Selbstmanagement- und Problemlösefähigkeiten. Jugendliche werden darin durch authentische Beispiele bestärkt, trotz ihrer körperlichen Besonderheit eigene Lebensziele zu verfolgen und eine von der Krankheit unabhängige Identität zu entwickeln. Auf frontale Vorträge wird in diesen Schulungen verzichtet.
Folgeschulungen
Beratungen während der Langzeitbetreuung und Folgeschulungen werden entsprechend alterstypischer Entwicklungsaufgaben und zunehmender kognitiver Reife der Kinder und Jugendlichen in regelmäßigen, bei
Diabetes in 2- bis 3-jährigen, Abständen empfohlen. Weiterhin müssen neue Therapieprinzipien, z. B. der Beginn einer
Insulinpumpentherapie bei Diabetes oder der Beginn der Substitution von Sexualhormonen bei DSD, durch individuelle Beratungen oder Schulungen begleitet werden. Gleiches gilt, wenn die Therapie durch die Diagnose einer zusätzlichen Krankheit oder bei akuten Komplikationen angepasst werden muss. Neben sachlichen Informationen kommt der individuellen Beratung zu Risiken und Prognose sowie der Ermutigung und psychischen Stabilisierung große Bedeutung zu (Delamater et al.
2018).
Ein Beispiel ist die Nachschulung von Jugendlichen, die bereits als Kind erkrankten. Die Jugendlichen benötigen in der Regel wenig grundlegende Informationen zu ihrer Erkrankung. Durch die jahrelange tägliche Konfrontation verfügen sie meist über umfangreiches Krankheits- und Therapiewissen. Die Folgeschulungen sollten sich an ihren Bedürfnissen orientieren und sie in ihrer Expertenrolle anerkennen. Für diese Zielgruppe ist es wichtig, individuelle Situationen aufzugreifen, in denen ihnen das Krankheitsmanagement und die -akzeptanz schwer fällt. Ebenso sollten sie sich mit aktuellen Fragen ihrer Lebensphase auseinandersetzen (z. B. Berufswahl, Sexualität und Familienplanung, Konsum von Alkohol und anderen Substanzen). Ein Thema, das zunehmend Beachtung findet, ist die
Transition, also der geplante, zielgerichtete Übergang von Jugendlichen mit chronischen Beeinträchtigungen von pädiatrischen zu erwachsenenorientierten Versorgungssystemen. Um eine koordinierte, ununterbrochene Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, sollten Jugendliche und ihre Eltern frühzeitig und schrittweise auf den Wechsel vorbereitet werden. Dies obliegt primär dem pädiatrischen Behandlungsteam. Gezielte Transitions-Workshops oder Schulungseinheiten zur Transition können dazu die Eigenverantwortung und Kompetenz der Familie fördern (Menrath et al.
2018). Für Jugendliche, die weitergehender Unterstützung bedürfen, gibt es die Möglichkeit des individuellen Case-Managements (von Moers et al.
2018).
Beratung und multimodale Adipositastherapie in der Pädiatrie
Die Situation bei der Diagnose von Übergewicht oder
Adipositas bei einem Kind unterscheidet sich grundlegend von der bei den anderen hier dargestellten Störungsbildern. Die Gewichtsproblematik hat sich langsam entwickelt, es liegt nur selten eine akute Bedrohung vor. Vielen Eltern ist das gesundheitliche Risiko für ihr Kind nicht bewusst oder sie leugnen es. Andere Familien haben bereits mehrfach erfolglos versucht, ihr Kind bei der Gewichtsreduktion zu unterstützen, sie sind entsprechend mutlos. Viele Kinder und Jugendliche leiden unter Kränkungen durch Gleichaltrige und haben sich sozial bereits zurückgezogen (Sawyer et al.
2007; van Geel et al.
2014; Wabitsch und Kunze
2016; Zeitler et al.
2018).
Im ersten Kontakt mit adipösen Kindern und ihren Familien ist eine offene, akzeptierende und vor allem nichtwertende Gesprächshaltung unverzichtbar, um eine vertrauensvolle Kooperation zu bahnen.
Dabei sollte wahrheitsgemäß vermittelt werden, dass
-
die Gewichtsreduktion nur langfristig gelingen kann,
-
Misserfolge nach kurzfristigen „Extremdiäten“ normal sind,
-
es keinesfalls einfach ist, sein Verhalten zu ändern und
-
die tatkräftige Unterstützung der ganzen Familie gebraucht wird.
Die Motivation aller Familienmitglieder, ein Kind oder einen Jugendlichen mit
Adipositas zu unterstützen, sollte vor Beginn einer langfristigen Maßnahme geklärt werden. Eine unzureichende Motivation und Bereitschaft der Familien führt zu schnellen Therapieabbrüchen und zur weiteren Frustration der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen.
Aktuelle Konzepte der Adipositastherapie umfassen die Kombination aus Ernährungs-, Bewegungs- und
Verhaltenstherapie sowie medizinischer Information. Sie sollten langfristig (1 Jahr und länger) von einem multiprofessionellen Team für geschlossene altershomogene Gruppen im ambulanten Setting angeboten werden und zunächst eine moderate Gewichtsreduktion anstreben. In der folgenden Stabilisierungsphase soll der modifizierte Lebensstil in die Alltagsroutine überführt werden, um einer neuerlichen Gewichtszunahme entgegenzuwirken.
Bei übergewichtigen und adipösen Kindern müssen zwingend auch Eltern und weitere Familienmitglieder in die Therapie einbezogen werden (familienbasierte Therapie).
Die Eltern gestalten die Umwelt des Kindes, regen zu körperlicher Aktivität an, wählen Nahrungsmittel aus und können das Freizeitverhalten ihrer Kinder beeinflussen. Im Jugendalter verliert die Familie an Einfluss, sodass sich Programme dann primär an Jugendliche wenden. Aber auch sie sind auf die Unterstützung ihres Umfelds angewiesen.
Praktische Schulungseinheiten, vor allem auch körperliche Aktivitäten in der Gruppe, sollten mit praxisorientierten theoretischen Grundlagen verknüpft und mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen zum Selbstmanagement (z. B. Stimuluskontrolle, Verstärkungspläne) kombiniert werden. Hinzu kommen Unterrichtsmodule zu sozialer Kompetenz, Umgang mit Heißhungerattacken und zur emotionalen Regulation (s. evidenzbasierte Leitlinie und Schulungsprogramme z. B. der Konsensusgruppe
Adipositas Schulung im Kindes- und Jugendalter oder der Arbeitsgemeinschaft
Adipositas im Kindes- und Jugendalter; Mühlig et al.
2014; Wabitsch und Kunze
2016).